Martin Luther King. Klaus Dieter Härtel

Martin Luther King - Klaus Dieter Härtel


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Polizeigericht gegen Rosa Parks verhandelt. Die Beschuldigung lautete diesmal nicht – wie sonst üblich und zunächst angenommen – auf ordnungswidriges Verhalten, sondern man warf ihr Zuwiderhandlung gegen das Segregationsgesetz vor. Der Richter hörte sich alle Argumente an und verurteilte sie wegen Vergehens gegen dieses Gesetz zu einer Geldstrafe in Höhe von zehn Dollar. Zusätzlich hatte sie die Gerichtskosten in Höhe von vier Dollar zu tragen. Ihr Anwalt legte Berufung ein. Freunde und Unbekannte drängten sich um Rosa Parks, wollten ihr die Hand drücken und beglückwünschten sie. Die Verhaftung und Verurteilung von Rosa Parks trug sicher wesentlich dazu bei, dass die Schwarzen aus ihrer Lethargie erwachten; aber sie bewies auch die Gültigkeit des Segregationsgesetzes.

      Am Nachmittag war Pfarrer King zum Präsidenten einer neuen Organisation, der Montgomery Improvement Association (MIA = Bürgerausschuss zur Verbesserung der rassischen Beziehungen), gewählt worden. Eine halbe Stunde vor der für den Abend angesetzten Massenversammlung fragte sich Martin Luther King, ob es recht gewesen war, dieses Amt zu übernehmen. Es brachte neue Arbeit und Verantwortung mit sich. Er hatte gerade seine Doktorarbeit beendet und wollte sich jetzt noch intensiver um seine Gemeinde kümmern. Aber hätte man an einem solchen Tag dieses Amt ablehnen können? Kamen nicht auf alle Schwarzen der Stadt zusätzliche Arbeit und zusätzliche Belastungen hinzu? Der junge Pfarrer grübelte über seinem Notizzettel. Er hatte sich auf die entscheidende Ansprache seines Lebens noch nicht vorbereitet. Ein Gefühl von Ohnmacht und Angst drohte ihn zu übermannen. Wie sollte er seine Ansprache gestalten? Kämpferisch musste sie sein, um die Schwarzen zum Handeln aufzurufen, und maßvoll musste sie sein, um nicht zu leidenschaftlichen, verantwortungslosen Gewalttaten zu führen. Konnte beides miteinander verbunden werden? Widerstand, um nicht die eigene Ehre und Würde zu verraten, und Hinweis auf das christliche Liebesgebot?

      „Du hast noch nichts gegessen“, mahnte Coretta. Aber dafür reichte die Zeit nicht mehr. Der Pfarrer bat im Gebet Gott um Hilfe, Beistand und Kraft.

      Als sich Martin Luther King der Kirche näherte, stauten sich bereits die Wagen. Der Verkehr stockte. Hunderte von Menschen standen vor der Kirche; sie hatten keinen Einlass bekommen. Man hatte Lautsprecher anbringen lassen, um die Reden und Lieder ins Freie zu übertragen.

      Geduldig und gut gelaunt warteten die Schwarzen, zum Teil schon seit fünf Uhr nachmittags; es war klar, dass die Frage nach einem Zurückziehen des Boykotts überflüssig geworden war. Zum ersten Mal wichen bei Martin Luther King die Zweifel.

      Nach Eröffnung der Versammlung durch Gebet und Schriftverlesung trat Pfarrer King an das Rednerpult. Trotz seiner Leidenschaft für das Predigen waren seine ersten Worte zaghaft und unsicher. Tausende von Gesichtern hingen erwartungsvoll an ihm.

      Er berichtete noch einmal, was Rosa Parks zugestoßen war, von ihrer Festnahme und von der Verurteilung.

      „Wir sind oft genug gedemütigt worden!“

      „Yes“, antwortete einer zustimmend, andere fielen ein.

      „Aber es kommt ein Augenblick, wo man das satthat!“

      „Yes! Amen! Yes, wir haben es satt!“

      „Wir sind heute Abend hier, um denen, die uns so lange misshandelt haben, zu sagen, dass wir es satthaben!“

      Stürmischer Beifall. Zwischenrufe.

      „Wir sind es müde, segregiert und gedemütigt zu werden. Wir sind es müde, ständig unterdrückt und mit Füßen getreten zu werden.“

      Es war heiß in der überfüllten Kirche. Dem Redner lief der Schweiß über das Gesicht.

      „Wir hatten keine andere Möglichkeit, als zu protestieren. Viele Jahre lang haben wir eine erstaunliche Geduld gezeigt. Wir haben bei unseren weißen Brüdern manchmal das Gefühl erweckt, als gefiele uns die Art, wie sie uns behandelten. Aber heute Abend sind wir hierhergekommen, um uns freimachen zu lassen von der Geduld, die uns mit etwas Geringerem als Freiheit und Gerechtigkeit zufrieden sein lässt …

      Die Methoden des Ku-Klux-Klan führen zu Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit. Aber bei unserem Protest wird es keine brennenden Kreuze geben. Kein Weißer wird von einem mit Kapuzen verhüllten Schwarzenmob aus seinem Haus gezerrt und brutal ermordet werden. Es wird keine Drohungen und Einschüchterungsversuche geben. Wir werden uns von den hohen Prinzipien des Rechts und der Ordnung leiten lassen.

      Wir wollen überzeugen und nicht Zwang ausüben.

      Wir wollen den Leuten nur sagen: Lasst euch von eurem Gewissen leiten! Unser Handeln muss von den höchsten Grundsätzen unseres christlichen Glaubens diktiert sein. Die Liebe muss unser Tun bestimmen. Über die Jahrhunderte hinweg sollen die Worte Jesu heute in unserem Herzen ein Echo finden: ‚Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen‘.“3

      King erinnerte daran, dass die Schwarzen noch Misshandlungen ausgesetzt sind und niemand von ihnen glaubt, dass sie heute oder morgen enden werden. „Aber wir dürfen unsere weißen Brüder nicht hassen. Niemand und nichts – keine Drohung, keine Gewalt, keine Ungerechtigkeit – soll uns so weit erniedrigen können, dass wir einen Mitmenschen hassen.“4 Nach der Rede erhoben sich die Zuhörer. Ihr Jubel wollte kein Ende nehmen. Das gleiche Bild, als Rosa Parks vorgestellt wurde. Sie war die Heldin des Tages.

      Pfarrer Ralph Abernathy las eine Erklärung vor, mit der sich alle Anwesenden einverstanden erklärten. Darin hieß es, dass die Schwarzen von Montgomery aufgerufen werden, keinen Omnibus mehr zu benutzen, bis folgende Bedingungen erfüllt sind:

      1. Die Busunternehmen sichern den Schwarzen höfliche Behandlung zu.

      2. Die Fahrgäste nehmen ihre Plätze in der Reihenfolge ein, in der sie einsteigen, und zwar die Schwarzen von hinten nach vorn, die Weißen von vorn nach hinten.

      3. Auf den Buslinien, die vorwiegend von Schwarzen benutzt werden, sollten auch Schwarze als Fahrer eingesetzt werden.“5

      Anschließend musste Pfarrer King noch zu einer Abendveranstaltung des Christlichen Vereins Junger Männer. In seinem Herzen klang der Jubel nach. Gott hatte dieser Versammlung seinen Segen nicht versagt. Martin Luther King hat einmal über diesen Tag niedergeschrieben, dass Gott sich noch der Geschichte bedient, um seine Wunder zu vollbringen. Es schien, „als hätte Gott beschlossen, Montgomery als Versuchsgelände für den Kampf und Sieg der Freiheit und Gerechtigkeit in Amerika zu gebrauchen. Es ist eine der großartigsten Ironien unserer Tage, dass Montgomery, die Wiege der Konföderation, die Wiege der Freiheit und Gerechtigkeit wurde.“6

      Der 5. Dezember 1955 war ein Höhepunkt für die Schwarzen von Montgomery, aber die eigentliche Arbeit begann erst.

      Die Stadtverwaltung hatte zunächst vermutet, der Boykott würde nach wenigen Tagen an der Uneinigkeit der Schwarzen scheitern. Auch der erste Regentag, auf den die Busgesellschaft insgeheim gehofft hatte, brachte nicht mehr Fahrgäste.

      Anfangs hatten die Taxis der schwarzen Taxi-Gesellschaften die Leute für den Buspreis in Höhe von 10 Cent befördert. Der Polizeikommissar erließ jedoch eine Verordnung, nach der alle Taxigesellschaften darauf hingewiesen wurden, dass sie gesetzlich verpflichtet waren, den Mindestpreis von 45 Cent zu fordern. Dadurch wurde es der überwiegenden Mehrzahl der Schwarzen unmöglich gemacht, die Taxis weiterhin zu benutzen.

      Ein Transportkomitee arbeitete einen neuen Plan aus. Besitzer von Privatwagen wurden gesucht, die alle Schwarzen täglich und pünktlich an ihre Arbeitsstellen fahren sollten. Fast dreihundert Wagen brachten in der Blütezeit des Boykotts morgens und abends die Arbeiter und Angestellten zu ihren Betrieben und Arbeitsstellen. Die anderen, die keinen allzu weiten Weg hatten, gingen zu Fuß. „Wir laufen für die Zukunft unserer Kinder“, sagten sie. „Da macht es nichts, wenn wir uns ein paar Blasen holen.“ Wieder waren in dieser Phase des Boykotts die schwarzen Kirchen und ihre Pfarrer tonangebend. Selbstverständlich stellten sich die Pfarrer mit ihren Wagen auch zur Verfügung. Früh wurden die Kirchentüren geöffnet, damit die wartenden Fahrgäste nicht zu frieren brauchten und sitzen konnten.


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