Martin Luther King. Klaus Dieter Härtel

Martin Luther King - Klaus Dieter Härtel


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gefangen und sind zu dir gekommen? Dann wird ihnen der König antworten: Dies ist wahr und gilt für Zeit und Ewigkeit: Was ihr einem unter meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan … Dann wird er ihnen antworten: Dies ist wahr und gilt für Zeit und Ewigkeit: Was ihr einem unter meinen geringsten Brüdern verweigert habt, das habt ihr mir verweigert.“

      Marx’ Kritik war im 19. Jahrhundert zweifellos berechtigt; allerdings war seine Vorausschau der wirtschaftlichen Entwicklung, die bei ihm als dialektischer Prozess abläuft, offensichtlich verkehrt. Sonstige politische, wirtschaftliche, psychologische und religiöse Gesichtspunkte, die zweifellos entscheidenden Einfluss ausüben, ließ er nicht gelten. So kann man den amerikanischen Kapitalismus beispielsweise nicht als das böse System schlechthin ansehen. Die oben erwähnten Gesichtspunkte haben sicher dazu beigetragen, dass sich der amerikanische Kapitalismus – wie der Kapitalismus überhaupt – sozial zeigt und zeigen muss und dadurch frühere Klüfte weitgehend beseitigt hat. Im Kapitalismus gibt es Arme und Reiche, und King sah die Notwendigkeit, dass der Reichtum besser verteilt werden muss, sodass viele Menschen Anteil daran bekommen. Auch kann der Kapitalismus Menschen derart in Bann ziehen, dass sie nur noch Geld, den Gewinn und den Erfolg sehen und darüber ihr und anderer Menschsein und Qualitäten vergessen. Der junge Student erkannte durch diese Studien die Schwächen und Stärken des Kommunismus und des modernen Kapitalismus. Er entdeckte, dass alles Heil weder ganz bei dem einen noch bei dem anderen liegt. Obwohl das Leben auf Gemeinschaft aufgebaut ist, trägt es individuellen und persönlichen Charakter.

      „Im Reich Gottes gilt weder die These vom privaten noch die Antithese vom kollektiven Unternehmertum, sondern eine Synthese, die die Wahrheit, die sich in beiden Thesen findet, verbinden will.“9

      Durch eine Vorlesung von Dr. A. J. Muste lernte King erstmalig den pazifistischen Standpunkt kennen, von dem er sichtlich bewegt war, den er aber als irreal und für nicht durchführbar hielt.

      Kann die Liebe soziale Probleme lösen? Hat sie tatsächlich eine solche Macht? Die Lektüre verschiedener Schriften von Nietzsche brachte King in erhebliche Zweifel. Musste nicht doch Gewalt angewendet werden, um Probleme zu beseitigen? Wie umgewandelt war Martin Luther King, als er eine Predigt von Dr. Mordecai Johnson, Howard-Universität, hörte. Der Prediger war gerade von Indien zurückgekehrt und erläuterte in der Predigt die Thesen des großen Inders Mahatma Gandhi.

      Natürlich hatte King bereits von Gandhi gehört. Nun kaufte er sich „ein halbes Dutzend“ Bücher über Leben und Werk des Mahatma. Die Idee des „Satyagraha“ (eine Macht, die aus Wahrheit und Liebe kommt) fesselte ihn. Er begann der Liebe als einer Macht erneut Vertrauen entgegenzubringen. Bisher hatte er Jesu Sittenlehre nur individuell, auf den einzelnen Menschen ausgerichtet, verstanden. Von Gandhi lernte er, dass die Liebe eine große Macht ist und auf dem Gebiet der Sozialreform epochemachend eingesetzt werden und wirken kann. Was King suchte, hatte er gefunden. Die Lehre Jesu, die ihm bisher immer ein wenig theoretisch und nicht ganz realisierbar vorgekommen war, wurde für ihn in neuer Weise aktuell, als er die Methode, die Gandhi praktiziert hatte, dazu kennenlernte. Mehr und mehr festigte sich bei ihm die Auffassung, dass die Liebe die einzige vertretbare und moralisch gerechtfertigte Haltung war, die helfen konnte, ein unterdrücktes Volk – sein Volk der amerikanischen Schwarzen – im Kampf um Gleichberechtigung und Befreiung von unmenschlichen Behandlungsweisen zu unterstützen.

      Eine weitere Station in Kings Studium waren die Werke Reinhold Niebuhrs. In seiner pazifistischen Grundhaltung erneut gestärkt, las er Niebuhrs Kritik am Pazifismus. Zunächst verwirrte sie ihn. Doch dann erkannte er ihre Schwächen. Niebuhr verstand den Pazifismus als eine Art passiver Widerstandslosigkeit gegenüber allem Bösen. Bei Gandhi hatte King jedoch erfahren, dass Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen etwas anderes ist als Widerstand ohne Gewalt. Diese beiden Standpunkte wollte er nicht mehr verwechselt wissen. Gandhi hatte sich dem Bösen widersetzt; zu seiner Lehre und ihrer Verwirklichung wurden starke, innerlich gefestigte, sichere Menschen benötigt, die dem Bösen mit Widerstand und Energie entgegentraten; aber das Motiv ihres Widerstandes war nicht der Hass, sondern die Liebe.

      In seinen gedanklichen Überlegungen wurde King gestärkt, als er an der Universität Boston an seiner Dissertation über den „Gottesbegriff in den Gedankenwelten von Paul Tillich und Henry Nelson Wiemann“ arbeitete. Die theologische Fakultät unter Dekan Walter Muelder und Professor Chalmers brachte dem Pazifismus große Sympathie entgegen. Aus dem tiefen Glauben heraus, dass der Mensch unendliche Möglichkeiten hat, wenn er sich als Mitarbeiter Gottes verstehen kann, setzten sie sich leidenschaftlich für soziale Gerechtigkeit ein. Dabei war nicht oberflächlicher Optimismus, sondern tiefer Glaube maßgebend. Hier in Boston wurde King durch seine theologischen und philosophischen Lehrer noch in zwei anderen Überzeugungen bestärkt. Hier bekam er „die metaphysische und philosophische Fundierung für den Gedanken an einen personalen Gott und die metaphysische Basis für die Würde und den Wert allen Menschseins“.10

      Als King im Jahre 1954 seine Ausbildung an den Universitäten – unter anderem hatte er noch an der berühmten Harvard-Universität studiert – beendete, ahnte er noch nicht, dass seine Studien, die für ihn eine positive Sozialphilosophie wurden, in der gewaltloser Widerstand zu den entscheidendsten Punkten gehörte, in der Praxis sich bald als sehr wirkungsvoll und nötig erweisen sollten.

      Zwei Gemeinden – die eine in Massachusetts, die andere in New York – warben um ihn. Ein Lehrstuhl, ein Dekanat und eine Verwaltungsstelle wurden ihm von drei Universitäten angeboten. Dazu kam eine Einladung zu einer Probepredigt an der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery, die einen Pfarrer suchte. Sollte er nach Montgomery in den Süden gehen, sollte er eine Gemeinde übernehmen? Die anderen angebotenen Aufgaben, zumal an den Universitäten, lockten ebenso stark. King besprach alle Möglichkeiten mit seiner jungen Frau Coretta. Dabei spielte die Frage eine entscheidende Rolle, wie seine künftigen Kinder innerhalb der Schranken der Rassentrennung zu erziehen seien. Sie hielt, gerade im Süden, die Schwarzen von vielen Annehmlichkeiten fern. Ein anderes Problem war, dass Coretta im Norden der USA ihre musikalische Laufbahn und das dazugehörige Studium besser fortsetzen konnte. Mehrere Tage waren von diesen Problemen und den dazu gehörenden Überlegungen überschattet. Das Ehepaar brachte seine Fragen im Gebet vor Gott. Endlich war die Entscheidung gefallen. Wenigstens für ein paar Jahre wollten sie in den Süden, in ihre Heimat, ziehen. Sie waren bereit, Opfer zu bringen, und wollten mithelfen an der Beseitigung von Problemen, die sie als junge Menschen bereits beschäftigt hatten.

      So begann Dr. Martin Luther King am 1. September 1954 seinen Dienst als Pfarrer und Prediger in Montgomery. Weder er noch seine Frau konnten ahnen, dass sie nach gut einem Jahr zu einer Bewegung gehören würden, die nicht nur Montgomery verändern und Echo in der Welt hervorrufen würde, sondern mit der sie in besonderer Weise konfrontiert werden würden.

      Die Lebensbedingungen der Weißen und der Schwarzen in Montgomery unterschieden sich gewaltig. Das Durchschnittseinkommen der 70000 Weißen betrug im Jahre 1950 ca. 1730 Dollar, das der 50000 Schwarzen dagegen nur 970 Dollar. Nicht nur das Problem der Rassentrennung kam auf King als Pfarrer zu, sondern auch die wirtschaftliche Notlage und Benachteiligung seiner Gemeindeglieder. Wahrscheinlich war der Mangel an Industrie für diese Situation ausschlaggebend. Über die Hälfte der schwarzen Frauen, die einer Arbeit nachgingen, waren im Haushalt tätig, fast 50 % der arbeitenden Schwarzen überhaupt waren ungelernte Kräfte.

      Ehe aber ein wirklicher sozialer Fortschritt erreicht werden konnte, musste Einigkeit unter den verschiedenen Gruppen der Schwarzen herrschen. Ihre jeweiligen Führer vertraten oft sehr unterschiedliche Ziele, sodass eine sinnvolle Zusammenarbeit kaum möglich war und sie zersplittert blieben. Als Anfang 1955 eine neue Gemeinschaft, das Citizens Coordinating Committee (CCC), gegründet wurde, hoffte King sehr auf Einigung und Verständigung der Schwarzen. Da jedoch die einzelnen Führer von ihren Standpunkten und Ideen nicht lassen wollten, löste sich das CCC bald wieder auf. Ein hoffnungsvolles Unternehmen war aus den erwähnten und vielen anderen Gründen gescheitert. Dass die Schwarzen trotzdem zu einen waren und sich für eine gemeinsame Sache einsetzen konnten, bewiesen die Verhaftung von Rosa Parks am 1. Dezember 1955 und der nachfolgende Busstreik. Eine beglückende Erfahrung für den jungen Martin Luther King!

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