Aufgewühlt. Jona Mondlicht

Aufgewühlt - Jona Mondlicht


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Blick gleitet unwillkürlich ihren Rücken entlang nach unten. Schlank ist sie noch immer. Der über den Hüften eng um die Taille gezogene Morgenmantel lässt sie wie eine sich schlängelnde Sanduhr aussehen, wenn sie läuft. Sarah muss daran denken, wie Lia mit dem Oberkörper gegen ein Fenster lehnte, während ihr ein Korsett im Rücken geschnürt wurde. Herr Conrad hat das erzählt. Seine Geschichten wirken plötzlich viel greifbarer. Lebendiger. Wie nachkolorierte Bilder.

      »Tut mir leid«, ergänzt Julia mit rauer Stimme und verschwindet im Flur, ohne sich noch einmal umzudrehen.

      Sarah lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Atmet tief ein und aus. Sie hat damit gerechnet, dass dieses Halsband eine Tür aufstoßen könnte zu alten Erinnerungen. Sie hat sogar darauf gehofft. Aber sie hat nicht geglaubt, dass es hinter der Tür noch derart lebendig zugehen würde. Das hatte sie ausgeschlossen, als sie nach dem Tod von Herrn Conrad die alten Fotos und das Halsband von der Wand genommen hatte. Wie welke Erinnerungen hingen sie dort und sahen so aus, als würden sie nach ihrem Verbleichen auch bald vergessen sein. Aber Julia hat nicht vergessen. Und Sarah beginnt, etwas Ungeheuerliches zu fürchten. Dass, während Herr Conrad bis an sein Lebensende in seiner kleinen Werkstatt gewartet hat, Lia nicht weit entfernt ebenso wartete. Er auf sie. Sie auf ihn. Ob aus Unkenntnis oder Stolz. Beides wäre schlimm. Besonders für Julia, wenn sie davon erfährt.

      Sarah beißt sich auf die Unterlippe. Sie fühlt sich unwohl. Es ist, als halte sie zwei Fäden in der Hand. Auf der einen Seite die Geschichte von Herrn Conrad, auf der anderen jene von Lia. Sie fühlt sich als Bindeglied zwischen beiden. Und sie ist nicht sicher, ob sie die Enden wirklich verknoten soll.

      In der Küche klappert Geschirr, dann pocht eine Schranktür gegen ihren Rahmen und schließlich klirrt es. Sarah zieht den Kopf ein.

      »Mist«, hört sie Julia fluchen. »Verdammter Mist!«

      Sarah erhebt sich und folgt dem Geräusch. Sie überlegt, ob es richtig war, unangekündigt hierher zu kommen. In Julias Reich einzudringen. Ihr ohne Vorbereitung nicht nur räumlich, sondern auch seelisch derart nahezukommen. Sie hat Julia überrumpelt. Vielleicht sollte sie besser gehen, bevor noch mehr zu Bruch geht.

      Als sie vor der Tür zur Küche steht und ihren Kopf vorsichtig um die Ecke schiebt, sieht sie Julia zwischen den Scherben einer Porzellantasse knien. Der Saum des weißen Morgenmantels faltet sich auf dem Boden und Julia drückt ihren Daumen in die ausgestreckte Innenfläche der anderen Hand. Hilflos sieht sie aus, denkt Sarah. Überfordert. Aus dem Konzept gebracht.

      »Ist etwas passiert?«, fragt sie vorsichtig, obwohl es doch offensichtlich ist. »Kann ich dir helfen?«

      Julia betrachtet ihre Hand. »Nein, ich habe nur …«

      Sarah müht sich, nicht auf die weißen Scherben zu treten und steht nach drei Schritten neben ihr. Sieht unschlüssig auf sie herab. Als Julia den Kopf ein wenig senkt, um die Hand zu betrachten, durchfährt sie ein Schauer. Denn sie blickt direkt auf den Nacken. Dort, wo die große Schließe des Halsbandes immer gelegen haben muss. Damals.

      »Ich habe mich geschnitten«, stellt Julia sachlich und nüchtern fest, dreht ihren Kopf und schaut nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrt sie. Erinnert an tausend Momente, in denen sie zu einem anderen Menschen aufsah. Obwohl das schon eine so lange Zeit her ist.

      Sarah bemerkt es. Ihr ist sofort bewusst, dass sie beide an denselben Menschen denken. An das gleiche Machtverhältnis. An dieses besondere Gefühl, unterworfen zu sein. Sie hält dem Blick von Julia stand, der erneut fragt, was zwischen ihr und Herrn Conrad geschehen ist.

      »Ich bin kurz im Bad«, sagt Julia schließlich mit gepresster Stimme und es fühlt sich an wie eine Flucht. Während sie sich mühsam erhebt, bewegt sie sich nach vorn, um sich nicht unmittelbar neben Sarah aufzurichten. »Das hier räume ich gleich weg.«

      Sarah nickt. Es ist ihr unangenehm. »Soll ich besser gehen?«, fragt sie unsicher. »Wir könnten uns für einen anderen Tag verabreden, oder …« Oder gar nicht, denkt sie. Auch das wäre möglich.

      »Nein«, antwortet Julia. »Du gehst nicht.« Sie lächelt nur leicht, aber es wirkt ehrlich. Vorsichtig schreitet sie über die Porzellansplitter hinweg und verlässt ihre Hand haltend den Raum. »Ich habe noch Fragen an dich«, ruft sie von irgendwoher und Sarah nimmt an, dass es das Badezimmer ist.

      Sie blickt sich um und entdeckt in der Ecke hinter der Tür einen kleinen, runden Mülleimer. Kehrschaufel und Besen sind gegen ihn gelehnt.

      »Fragen?«, ruft sie zurück, während sie zugreift. »Welche?« Sarah überlegt, welche Antworten sie an Julias Stelle suchen würde. Vielleicht, wie sie Herrn Conrad kennengelernt hat. In welchem Verhältnis sie zueinander standen. Und schließlich die unausweichliche Kardinalfrage. Aus welchem Grund sie das Halsband besessen hat. Spätestens diese Antwort würde die beiden Fäden ganz nah aneinander bringen.

      »Woher kennst du Bruno?« Im Badezimmer ist kurz ein kräftiger Wasserstrahl zu hören, der hart im Waschbecken aufprallt.

      Sarah nickt. Sie hat mit der Frage gerechnet. Mit Kehrschaufel und Besen geht sie in die Hocke und schiebt die ersten Scherben zusammen.

      »Ich wollte einen Gürtel kaufen«, ruft sie zurück. »Letztes Jahr zu Weihnachten. Deswegen fand ich in seine Lederwerkstatt.« Eigentlich war es umgekehrt, korrigiert sie sich. Sie entdeckte zuerst dieses rostige Schild unter einer Toreinfahrt: »Lederwarenmanufaktur, Inhaber C.B. Conrad«. Und anschließend wurde der Gürtel zum Vorwand, den Laden aufzusuchen. Wie gut es dort roch.

      »Aha«, sagt Julia im Bad. Es klingt, als würde ihr die Antwort nicht genügen.

      »Meine Schuhe waren nass«, ergänzt Sarah. »Darum bot er mir an, einen Moment zu bleiben.« Aus dem Moment war einer der aufwühlendsten Tage ihres bisherigen Lebens geworden.

      »Verstehe«, antwortet Julia. »Manchmal lernt man sich an außergewöhnlichen Orten kennen. Das ging mir früher auch so.« Eine Schranktür klappt im Badezimmer, dann rauscht wieder kurz das Wasser.

      Sarah ahnt, an was Julia denkt. An den Strand, an dem sie saß, als Bruno sie gefunden hat. An das Teelicht zwischen ihnen. An die kleinen Steine. Damals, als Bruno noch nicht die Werkstatt besaß und quer durch das Land zu seiner Kundschaft gefahren ist. Er konnte die besten Korsetts auf Maß fertigen, hat man ihr gesagt.

      »Was machst du beruflich?« Julias Gedanken scheinen den gleichen Weg genommen zu haben.

      Mit dem Besen widmet sich Sarah auch den kleinen Scherben, die sich in die Fugen der weißen Fliesen verirrt haben. Sorgfältig schiebt sie die letzten kleinen Splitter auf die Schaufel und erhebt sich.

      »Ich bin Tänzerin.« Sie sieht sich noch einmal um, ob sie einen Splitter übersehen hat, findet aber nichts. »Ballett. Ich habe eine Stelle an der Oper.« Sie erinnert sich, dass sie für Herrn Conrad auf Zehenspitzen gelaufen ist. Er hat es so verlangt. Als hätte er es geahnt.

      »Beeindruckend«, ruft Julia aus dem Badezimmer. »Das ist der Traum aller Mädchen, oder?«

      Sarah will nicht erklären, dass viel mehr dahinter steckt, als kleine Mädchen sich das je vorstellen. Es würde wie eine Rechtfertigung klingen, die nicht notwendig ist.

      »Als Kind träumt man von vielem«, sagt sie beiläufig und balanciert die Kehrschaufel vorsichtig über den Mülleimer. Gerade hebt sie den Deckel, als sie Julia antworten hört.

      »Auch davon, sich einem Mann zu unterwerfen?«

      Die Scherben rutschen wie eine Porzellanlawine tosend in den Mülleimer. Sarah ist so erschrocken, dass ihr der Deckel aus der Hand gleitet und mit einem lauten Knall schließt. Sie stellt die Kehrschaufel ab und reibt sich eher aus Verlegenheit die Hände. Dann lehnt sie sich gegen die Wand und überlegt. Es gab keinen konkreten Zeitpunkt, an dem sie festgestellt hat, diese Leidenschaft in sich zu tragen. Sie erinnert sich, als Kind stets jene Märchen gemocht zu haben, in denen Prinzessinnen entführt und gefangen gehalten wurden, in denen arme Stieftöchter dienen mussten und mitunter auch grob behandelt wurden. Deren Geduld, Leid und Tapferkeit bewunderte sie. In ihren Gedanken


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