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Einige antisemitische Angriffe fielen kaum ins Gewicht. Die Gleichgültigen wurde außerdem ein beachtlicher Publikumserfolg. Die erste Auflage war schon im Oktober vergriffen, Alpes druckte vier Mal nach und verkaufte 6500 Exemplare. Der Verlag zahlte Moravia zwar die 5000 Lire zurück, beteiligte ihn aber nicht am Gewinn. Als Alpes 1933 in Konkurs ging, brachte Moravia seinen Erstling bei Corbaccio unter, einem kleinen Verlag mit einem dezidiert antifaschistischen Programm, der noch einmal 15000 Stück umsetzte. Obwohl Alberto Moravia kurze Zeit später zu Bompiani wechselte, konnte wegen der komplizierten Lage der Rechte keine neue Ausgabe der Gleichgültigen erscheinen. Außerdem war er ohnehin in Ungnade gefallen und bekam Schwierigkeiten mit der Zensur. Dennoch: Sein Debüt hatte ihn berühmt gemacht.

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      »Nimm Dir ein Beispiel an mir«, rät Pasolini seinem Cousin Naldini, hier mit Moravia bei einer Buchvorstellung

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      TESTACCIO

      Im Bauch von Rom

      Auf den Bänken der Piazza Santa Maria Liberatrice gegenüber der Kirche sitzen Zeitungsleser, die Leute grüßen sich und wechseln ein paar Worte, eine Mutter führt ihr Neugeborenes im Kinderwagen vor. In Testaccio, dem ersten von Architekten geplanten Arbeiterviertel Roms am alten Schlachthof, kennen sich die Nachbarn. Die Straßen sind belebt, an der Ecke gibt es eine gut besuchte Trattoria mit römischer Küche. Die vier- oder fünfstöckigen Mietskasernen hinter dem Tiber wurden zwischen 1883 und 1907 gebaut. Sie wirken hell und freundlich, kein Vergleich zu den rasch hochgezogenen, gesichtslosen Neubaugegenden der Nachkriegszeit in der Magliana oder in Pietralata. Die Idee, auf den »Wiesen des römischen Volkes«, wie die Gegend seit jeher hieß, Häuser zu errichten, entstand schon 1873. Die rege Bautätigkeit in Vierteln wie dem Quartiere Ludovisi, wo die Ministerialbeamten unterkamen, und in den Straßenzügen um die Piazza Vittorio, in die vor allem die Ordnungskräfte einzogen, veränderte auch die Bevölkerungsstruktur. Aus den Bauern und Landarbeitern, die vor dem Hauptstadtbeschluss jeden Tag auf der Piazza Montanara oder der Piazza Farnese ihre Dienste für die Aussaat oder die Ernte in der römischen Campagna angeboten hatten, wurden plötzlich Maurer und Straßenbauarbeiter. Waren die Tagelöhner früher in den Heuschobern oder einfachen Häusern auf den Höfen untergekommen und nach Saisonende wieder in ihre Dörfer im Latium oder in den Abruzzen zurückgekehrt, blieben sie jetzt in der Stadt. In den ersten Jahren nach 1870 campierten Zehntausende unter den Arkaden von Campidogli und der Piazza Vittorio, am Ponte Sisto und auf den Stufen von Santa Maria Maggiore oder hausten in provisorischen Baracken an der Porta Portese. Sozialen Wohnungsbau gab es noch nicht; für Investoren waren Villen und elegante Mietshäuser das lohnendere Unterfangen. Als um 1885 das Baufieber nachließ und die bis heute größte Immobilienkrise Italiens einsetzte, zwang man 29000 Bauarbeiter zur Rückkehr in ihre Heimatorte. Der Bedarf an günstigerem Wohnraum war dennoch groß: Schließlich stellten auch die Gas- und Wasserwerke Leute ein, die begüterten Römer brauchten Bedienstete, überall wurden Märkte und Läden eröffnet, und zum ersten Mal gab es Busfahrer. Ein gerissener Unternehmer hatte bereits 1873 die Testaccio-Wiesen von der Familie Torlonia erworben und mit der Stadt einen Vertrag über die Errichtung eines Arbeiterviertels geschlossen. Es dauerte dann zehn Jahre, bis unter einem anderen Unternehmer alles in Gang kam, doch die Bestimmung blieb erhalten. Sauber getrennt von den feineren Quartieren der Stadt schien Testaccio am Rande der Mura aureliane ideal, denn hier schuf man die Versorgungszentralen der Stadt: den riesigen Schlachthof und Handwerksbetriebe, gleich hinter der Mauer war Platz für Lagerhallen, den Großmarkt und die Gaszentrale. Das Tiber-Knie diente schon in der Antike als Abladeplatz des damals nahe gelegenen Hafens. Man betrieb eine Art Mülltrennung und warf die gebrauchten Öl- und Weinamphoren auf einen großen Haufen, der nach und nach anwuchs: der Scherbenberg, der testaccio, vom lateinischen testa, Krug oder Scherbe. Ein kugeliges Gebilde, grün bewachsen, mittlerweile nur noch mit einem Führer zugänglich. Die roten Tonscherben lugen an vielen Stellen hervor. Im 18. Jahrhundert entstand hinter dem Berg an der Cestius-Pyramide der Friedhof für Nichtkatholiken, wo neben zwei Söhnen von Wilhelm von Humboldt auch August Goethe, Keats und Shelley liegen. Tote Protestanten durften nicht in der geweihten Erde der innerstädtischen Bezirke begraben werden. Um Angriffe des Pöbels zu vermeiden, fanden die Beerdigungen der deutschen, englischen oder skandinavischen Einwanderer nachts bei Fackelschein statt. Karl Philipp Moritz wunderte sich über den Lärm aus den Gasthäusern von Testaccio, wo sich das römische Volk vergnügte.

      Testaccio war also seit jeher der schmuddelige Hinterhof Roms. Aber Ende des 19. Jahrhunderts durchdachte man zum ersten Mal seine Funktion und wollte ein Quartier mit Modellcharakter schaffen, mit kurzen Arbeitswegen und Infrastruktur. Viele namhafte Architekten waren involviert. Da die Wohnungen klein und funktional gestaltet sein sollten, wollten sie ihre Bravour zumindest an den Fassaden beweisen. Allerdings dauerte es, bis alles funktionierte; über zwanzig Jahre lang mussten sich die Bewohner mit provisorischen Lösungen arrangieren, und die Lebensbedingungen blieben äußerst prekär. Von sechsunddreißig geplanten Blöcken waren 1900 neun komplett fertig und sechs zur Hälfte. Nur ein Teil der Häuser hatte Gasanschluss, die Toiletten waren auf den Balkons, Waschküchen gab es erst ab 1909, eine Schule wurde 1907 gebaut, viele Straßen waren noch nicht gepflastert, und die freien Flächen dienten als Müllhalden. Achttausend Menschen lebten in Testaccio, ausschließlich Arbeiter, oft drängelten sie sich zu fünft oder sechst in zwei Zimmern. Die Kindersterblichkeit in den ersten fünf Lebensjahren lag bei 51,8 Prozent.

      Dies waren die Verhältnisse, als Elsa Morante in der Via Amerigo Vespucci 41 aufwuchs. Kein Vergleich mit dem Milieu Alberto Moravias. Das arme Rom taucht in Morantes Erzählungen und Romanen immer wieder auf, und Testaccio ist der Schauplatz ihres berühmtesten Buches La Storia über den Zweiten Weltkrieg. Ihre Heldin Ida Mancuso landet nach ihrer Ausbombung in den Baracken von Pietralata, bis sie 1944 in Testaccio Unterschlupf findet. Zuerst mietet die Lehrerin für sich und ihren kleinen Sohn ein Zimmer bei einer Familie in der Via Mastro Giorgio, dann übernimmt sie 1946 eine Wohnung in der Via Bodoni, gleich hinter der Piazza Santa Maria Liberatrice mit der Kirche, wo auch Idas Schule liegt. Von ihrem Wohnzimmer im obersten Stockwerk des Mietshauses kann sie auf den Platz blicken.

      Aus der früher so bescheidenen und überbevölkerten Wohngegend ist mittlerweile ein gefragtes Viertel geworden. Die Häuserblöcke sind gelb, ockerfarben oder weiß gestrichen, in der Via Bodoni gibt es Innenhöfe mit Orangenbäumen und Palmen, vor den Fenstern hängt Wäsche. Vor zehn Jahren wurde knapp die Hälfte der Blocks in Eigentumswohnungen umgewandelt, die damaligen Mieter hatten Vorkaufsrecht, viele machten davon Gebrauch. Die Preise sind um das Zehnfache gestiegen, auch die Mieten liegen bei rund tausenddreihundert Euro für hundert Quadratmeter. Zwischen Scherbenberg und Schlachthof ist gerade die neue Markthalle fertiggestellt, ein Teil des Gebäudes soll von der Universität genutzt werden. Direkt am Berg zieht sich die Via Galvani entlang, eine der neueren Ausgehmeilen der Stadt, wo bis in den Morgen die internationale Easy-Jet-Jugend feiert. Der alte Schlachthof beherbergt inzwischen das Museum für moderne Kunst MACRO. In den riesigen Hallen gibt es immer noch Schienen unter der Decke, an denen man früher die Tierleiber befestigte. Auch auf dem kopfsteingepflasterten Hof zeugen Gevierte aus Eisen, Tränken und Aufschriften an den Backsteingebäuden wie »Häutung« und »Viehställe« von der früheren Funktion der Hallen. Das Gebrüll der Tiere muss in den angrenzenden Straßen zu hören gewesen zu sein. Vor allem im Sommer lag Gestank über dem Viertel. Auf der Suche nach einem möglichst kräftigen und schönen Hauptdarsteller für die schon erwähnte Komödie Bellissima kamen 1951 der adlige Regisseur Luchino Visconti und sein Drehbuchautor Cesare Zavattini hierher. Sie sahen den Schlachter Gastone Renzelli, wie er sein Beil in die Höhe schwang und Pferdeleiber zerteilte, und wussten, dass sie die ideale Besetzung für die Rolle des bodenständigen Ehemannes gefunden hatten. Trotzdem fiel Zavattini bei dieser Gelegenheit in Ohnmacht, weil er den Anblick der hoch aufgetürmten, von Ratten wimmelnden Knochenberge nicht ertrug. Einziges Überbleibsel aus der Zeit, als hier noch Tiere geschlachtet wurden, ist die Bar Mattatoio gleich beim Eingang. Neonröhren, Resopaltische und eine blondierte Siebzigjährige, die den Kaffee serviert.

      Elsa Morante wurde am 18. August 1912 geboren, verschwieg aber


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