Rom, Träume. Maike Albath
et d’Europe, die zunächst auf Französisch erschien. Die Redakteure veröffentlichten Joyce, Tolstoi und Soupault, trieben unbekannte Erzählungen von Tschechow auf und brachten erstmals Auszüge aus Virginia Woolfs Mrs Dalloway heraus. Dem Redaktionskomitee gehörten sowohl Joyce als auch André Malraux, Max Jacob und Rainer Maria Rilke an. Nach fünf Nummern verlangte das Regime eine italienische Ausgabe – allzu kosmopolitisch durften sich selbst wohlgelittene Intellektuelle wie Bontempelli nicht gerieren. Der Blattmacher richtete sich mit 900 nämlich auch gegen die Bewegung Strapaese (in etwa »Ur-Dorf«), eine Strömung, die sich um die Zeitschrift Il Selvaggio, Der Wilde (1924–1943), von Mino Maccari formiert hatte. Bontempelli titulierte seine Initiative deshalb als Stracittà (in etwa »Total-Stadt«). Gegenstand der Debatte zwischen beiden Bewegungen, die trotz der scharfen Fehden etliche Berührungspunkte hatten, war die kulturelle Ausrichtung des Faschismus. Die Befürworter von Strapaese gaben sich antiurban, antiamerikanisch und antimaterialistisch und vertraten die Werte des uritalienischen paese, des Dorfes und der Handwerker und Bauern. Schluss mit dem Experimentalismus, Schluss mit den vielen ausländischen Autoren! Stattdessen wurde eine Rückkehr zum italienischen Erbe gefordert. »Marciare, non marcire«, »marschieren, nicht faulen«, lautete das kämpferische Motto auf dem Titelblatt von Il Selvaggio, mit dem man sich gegen eine »Normalisierung« des Faschismus durch Mussolini wehren wollte. Typisch für Malaparte ist jedoch, dass er bei beiden Strömungen mitmischte: Die mitunter rassistischen und antisemitischen Strapaese-Parolen entsprachen seiner Parteinahme für ein ursprüngliches Italien der Regionen. Als »Erzitaliener«, wie er sich selbst nannte, deutete er den kulturellen Niedergang der Gegenwart als Folge des nordeuropäischen Protestantismus, während er Italien als Hort einer gegenreformatorischen Kultur mit antiken Wurzeln und althergebrachten Produktionsformen begriff, wo Spiritualität nicht aus der Beherrschung der Natur entsteht, sondern aus dem Einklang mit ihr. Der Faschismus setze genau dies fort und wehre sich gegen das protestantische, kapitalistische Modell, so Malaparte, der auch den Begriff der Gegenreformation ins Spiel brachte und Mussolini gar als einen neuen Ignatius von Loyola sah. Gleichzeitig war Malaparte aber auf der Höhe der internationalen Avantgarde und ging in den Salons der europäischen Hauptstädte ein und aus, was ihn zu einem Vertreter von Stracittà machte – und zum Mitherausgeber von 900. Zu den Anhängern von Strapaese gehörten außer Malaparte und dem Chefredakteur von Il Selvaggio Mino Maccari auch noch Ardengo Soffici und Leo Longanesi. Longanesi gab gleichzeitig die Zeitschriften L’Italiano (1926–1942) und Omnibus (1937–1939) heraus und war Teil der intellektuellen Nomenklatura, bot aber mit seinem innovativen und bald verbotenen Reportage-Magazin Omnibus vielen unangepassten und regimekritischen Schriftstellern Publikationsmöglichkeiten. Es handelt sich um typische Phänomene des italienischen Faschismus: Sowohl Maccari als auch Bontempelli und Longanesi operierten ausschließlich innerhalb des Systems und ebneten dennoch oppositionellen Tendenzen den Weg, die vor allem von jüngeren Mitarbeitern befördert wurden.
Weltanschaulich ging es also wild durcheinander, und die Nachwuchsautoren suchten sich irgendwo eine Lücke, ohne den Ausrichtungen der Zeitschriften allzu große Beachtung zu schenken. Alberto Moravia begann 1927, Beiträge für 900 zu schreiben, und nahm auch an Redaktionssitzungen teil. Seinen ersten Text über die Zukunft des Romans zeichnete er noch mit Pincherle. Weil daraufhin ein wutentbrannter Brief eines Kirchenhistorikers namens Alberto Pincherle eintraf, entschied er sich für den Nachnamen seiner Großmutter väterlicherseits, der ohnehin in seinem Pass stand und einen schöneren Klang hatte: Moravia. Bontempelli schwebte ein europäischer Dialog vor, außerdem wollte er alle Mitarbeiter verpflichten, einen Roman zu schreiben, weil die italienische Literatur so blutleer und auf den Hund gekommen sei. Als Moravia das Manuskript seines Romans vorlegte, waren die Redaktionsmitglieder allerdings unzufrieden. »Wortnebel« lautete das einhellige Urteil.
Der Debütant wandte sich an den Mailänder Verlag Alpes, wo er auf Begeisterung stieß und man ihm die Veröffentlichung versprach. Dass die Wahl ausgerechnet auf Alpes fiel, verblüfft etwas, denn das Haus war noch viel enger mit dem Regime verbunden als Bontempellis Zeitschrift. Bei Alpes erschienen nicht nur Sammelbände mit Reden Mussolinis, sondern auch andere Propagandatexte. Im Mai 1929 trat außerdem der Bruder des Duce, Arnaldo, als Direktor in das Unternehmen ein. Zwar gab es einige Ausgaben internationaler Klassiker, darunter Flaubert, Tschechow und Dostojewski, aber außer Corrado Alvaro hatte Alpes keine italienischen Schriftsteller im Programm. Alberto Moravia war in dieser Hinsicht sehr naiv, woran auch die enge Verbindung mit seinen Cousins Carlo und Nello Rosselli nichts änderte. Es gab äußere Zwänge, die er in Kauf nahm, ohne aufzubegehren oder seinen Unmut zu artikulieren. Ein Verlag interessierte sich für sein Manuskript? Gut, dann sollte es dort erscheinen, die politische Orientierung war zweitrangig. Kurz vor dem Publikationstermin stellte sich allerdings heraus, dass Alpes ohne eine Beteiligung des Verfassers nicht auskam: Moravia bezahlte 5000 Lire, damals eine hohe Summe, die ihm sein Vater ohne mit der Wimper zu zucken vorschoss. Am 2. Mai 1929 erschien Die Gleichgültigen. Mit zweiundzwanzig Jahren wurde Alberto Moravia über Nacht zum Schriftsteller.
»Carla kam herein« – so beginnt der Erstling, der in den ausstaffierten Salons einer römischen Familie seinen Lauf nimmt, sich wie ein Kammerspiel entfaltet und die klaustrophobische Atmosphäre des Faschismus schon über die Innenräume vermittelt. Die anziehende Carla ist dem Liebhaber ihrer verwitweten Mutter ausgeliefert und beugt sich willenlos dessen erotischen Avancen. Dieser Leo Merumeci, ein Maler, ähnelt nicht nur in seiner bulligen Physiognomie dem Diktator Mussolini. Mit seinem Gespür für die Machtverhältnisse hat er die Familie finanziell in der Hand und zieht auch Carlas Bruder Michele über den Tisch, der die Machenschaften als Einziger durchschaut, aber von Selbstekel gelähmt ist, seine Gleichgültigkeit stilisiert und sich schließlich resigniert von einer Freundin seiner Mutter verführen lässt. In seiner Erzählweise ist Moravia traditioneller als Pirandello oder Svevo, aber er fängt die Haltung des Bürgertums prägnant ein und illustriert die zerstörerische Apathie einer Klasse, die unter dem Deckmantel der Konvention nur ihren Trieben gehorcht und die politische Katastrophe gar nicht wahrnimmt. Vielleicht war es Moravias Isolation geschuldet, dass er die Dekadenz seines eigenen Umfeldes besonders scharf wahrnahm und das auf den Punkt brachte, was später als Konsens-Kultur bezeichnet werden sollte. Auf der einen Seite unterläuft der Roman die offizielle Rhetorik des Faschismus mit seinen Forderungen nach Vitalität und Handlungsstärke, auf der anderen durchdringt er die Voraussetzungen für Mussolinis Erfolg: ein zu großen Teilen apolitisches Bürgertum, das die Grabenkämpfe zwischen liberalen und sozialistischen Kräften satthatte, in Ruhe seinen Geschäften nachgehen wollte und den Diktator als die bequemste Lösung in Kauf nahm.
Die Resonanz war äußerst positiv. In allen wichtigen Zeitungen und Zeitschriften reagierte man auf das Debüt, binnen Wochen erschienen über dreißig Rezensionen, sogar der mächtige Großkritiker des Corriere della Sera G. A. Borgese lobte das Debüt. Dabei war Moravia ein fürchterlicher Fauxpas unterlaufen: Sein Verleger hatte ihm einen Besuch bei Borgese in Mailand vermittelt mit dem Hinweis, er möge doch dem einflussreichen Literaturwissenschaftler ein Exemplar der Gleichgültigen überreichen. Als Moravia ihm eine Widmung hineinschreiben wollte, erkundigte er sich: »Wie heißen Sie? Antonio Giulio oder Giuseppe Antonio?« Borgese erwiderte: »Glauben Sie so sehr an Ihre Zukunft, dass Sie es sich erlauben können, meinen Namen nicht zu kennen?« Der Debütant verabschiedete sich kleinlaut, aber Borgese, der später als einer der wenigen Hochschulprofessoren den Eid auf Mussolini verweigern, in die USA auswandern, 1937 mit Golia, March of facism eine brillante Analyse der Genese des Faschismus vorlegen und die Thomas-Mann-Tochter Elisabeth heiraten sollte, erwies sich als großmütig und schrieb eine Eloge, die am 29. Juli 1929 im Corriere erschien. »Die Gleichgültigen! Das könnte ein denkwürdiger Titel werden«, begeisterte er sich. »Der Satzbau federt nicht in den Hüften; man bemerkt einen gesunden und gleichmäßigen Atem, jene natürliche und anhaltende Ausdauer im Sprechen, die in der Malerei einem breiten, entschiedenen Pinselstrich ähneln würde; das hier ist wahre Prosa. (…) Weder erzählt Moravia wie jemand, der sich auf verderbte Weise verbrüdert, noch besitzt er die Strenge eines Moralisten. Unermüdlich breitet er schmachvolle Einzelheiten aus, aber mit objektiver Gewissenhaftigkeit, die man vor einem halben Jahrhundert noch naturalistisch oder experimentell genannt hätte; und er tut es mit einer Gesinnung, die ich als einfühlsame Abscheu bezeichnen würde. Er wirkt wie ein Schlangenbeschwörer; in der Hand hält er hässliche Biester und lächelt dabei kalt.« Ein Lob von Borgese kam damals einer Heiligsprechung