Es war 1001 Mal. Margarete Wenzel

Es war 1001 Mal - Margarete Wenzel


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einem fernen Land lebte vor Zeiten ein Bauer, der drei Söhne hatte. Die beiden ältesten lebten wie ihr Vater, dachten wie er und bestellten die Felder mit Sorgfalt. Der jüngste, Dschinroku, war anders. Er träumte immer wieder vor sich hin, hüpfte und summte und äußerte allerlei versponnene Gedanken. Wo er nur konnte, lauschte er Geschichten. Wenn das Wandertheater in die Gegend kam und im ausgetrockneten Flussbett eine Bühne errichtete, war Dschinroku vom ersten Moment an dort. Hatte er kein Geld, um den Eintritt zu zahlen und das Stück anzusehen, dann verkaufte er einen Topf, eine Pfanne oder sonst etwas Brauchbares aus dem Haushalt. Das trieb seinem Vater die Zornesröte ins Gesicht.

      Eines Tages, als alle drei Söhne bereits erwachsen waren, rief der Vater sie zu sich, gab jedem drei Silberstücke, die er erspart hatte, und schickte sie in die Welt hinaus, damit sie Erfahrungen sammeln und sich im Leben beweisen sollten.

      Zu dritt zogen sie los. Aber sobald sie den väterlichen Hof hinter sich gelassen hatten, begann Dschinroku gedankenverloren hinter den beiden Brüdern her zu zockeln und diese sprachen zueinander: „Was sollen wir mit dem da anfangen? Der stört uns nur und bringt das Geld durch. Wir müssen schauen, dass wir ihn baldmöglichst loswerden“, und sie nickten einander zu.

      Als es Abend wurde, entzündeten sie ein Lagerfeuer und legten sich nieder. Sobald aber Dschinroku eingeschlafen war, machten sich die beiden Brüder ohne ein weiteres Wort wieder auf den Weg.

      Beim Erwachen hörte Dschinroku dennoch zwei Stimmen neben sich. Das mag uns verwunderlich erscheinen, ihn jedoch wunderte es nicht. Er war überzeugt, seine Brüder säßen neben seinem Lager, und wiegte sich in seinen Träumen. Dabei stieg ihm von der Feuerstelle her ein nahrhafter Duft in die Nase.

      Als er die Augen öffnete, staunte er nicht schlecht, denn seine Brüder waren nirgends zu sehen. Stattdessen saßen zwei Bettler am Lagerfeuer. Einer von ihnen rührte im Topf.

      „Ah, siehe da! Unser Schützling erwacht“, rief er. „He, Jüngling, bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du nicht, dass es hier im Wald wilde Tiere, Räuber und allerlei Gefahren gibt?“

      Der andere brach ein Stück Brot in drei gleich große Teile. „Als wir dich hier mutterseelenallein am erlöschenden Feuer liegen sahen, dachten wir, wir setzen uns her und behüten dich. Schau, wir haben auch eine heiße Suppe gekocht.“

      Da saßen die drei am Feuer, unterhielten sich über das Wandern und die Welt und ließen sich das Morgenessen schmecken. Dschinroku spürte in der Tasche die drei Silberstücke, holte sie hervor und sagte: „Seht nur, wie gut sich die Dinge manchmal fügen hier draußen in der Welt, das ist fast wie in den Geschichten, die ich so liebe. Was für ein Glück, dass ihr vorbeigekommen seid und für mich gesorgt habt, als ich hier in der Wildnis ganz allein am Feuer schlief. Und wie gut: Ich habe hier drei Silberstücke und wir sind ebenfalls drei. Also soll jeder von uns eines bekommen.“

      Die Bettler freuten sich herzlich, als sie die Münzen in Händen hielten, denn mit ihnen waren sie sicher, nie wieder Hunger leiden zu müssen.

      „Zum Dank für das Wertvolle, das du uns gegeben hast, wollen wir dir auch etwas geben, das du brauchen kannst“, meinte daraufhin der eine. „Hier, nimm diese Nadel. Sie fädelt dir alles auf, was du auffädeln willst. Alles, hörst du?“

      „Und dieser Faden“, setzte der andere fort, „wird immer so lang sein, wie du es brauchst.“

      Sorgsam steckte Dschinroku die Gaben ein. Dann gingen die drei noch ein Stück Wegs zusammen, bevor sie freundlich voneinander Abschied nahmen.

      Der Weg war lang. Dschinroku ging. Ihm wurde dabei gründlich langweilig. Da traf er einen Händler, der einen Sack auf dem Rücken trug und der die gleiche Richtung hatte. Da gingen sie zusammen und leisteten einander Gesellschaft.

      „Mein Freund“, sagte der Händler, als sie eine Weile über dies und das geredet hatten, „mir scheint, du liebst Geschichten. Sicher hast du auch einige zu erzählen.“

      „Ach“, seufzte Dschinroku, „da hast du gerade meinen wunden Punkt getroffen. Wie viele Geschichten ich auch höre und genieße, ich kann sie nicht erzählen. Das finde ich schade, aber so ist es nun mal.“

      „Wie gut, dass du mich getroffen hast“, lächelte da der andere. „Weißt du, ich bin ein Geschichtenverkäufer.“

      Dschinroku, der zwar noch nie von diesem Beruf gehört hatte, aber aus den Geschichten wusste, dass es vieles gibt, was man irgendwann einmal zum ersten Mal hört, horchte auf.

      Der Geschichtenverkäufer schwang den Sack von der Schulter und setzte ihn auf den Boden. Er schaute hinein, ohne ihn allzu weit zu öffnen.

      „Jaaa“, strahlte er schließlich, „ich habe da genau das Richtige für dich. Für ein Silberstück kann ich dir die allerfeinste Geschichte verkaufen und die wirst du erzählen können.“

      Dschinroku reichte ihm sein Geld. Der Händler hob ihm den Sack ans linke Ohr. Da spürte Dschinroku erstaunt, wie es aus dem Sack leise zu rauschen und in ihn hinein zu brausen begann. Das ging eine ganze Weile so, bis es endlich ausklang.

      „Viel Glück!“, wünschte der Geschichtenverkäufer, schulterte seinen Sack wieder und verabschiedete sich.

      Dschinroku fühlte sich sonderbar. Leicht benommen ging er seiner Wege. Es schien in seinem ganzen Körper zu prickeln, zu wispern, zu plaudern und – das ist schwer zu beschreiben – zu geschehen.

      Als er sich einigermaßen an das Geschichtengefühl in seinem Körper gewöhnt hatte, kam er in eine Stadt, deren Fürst einen Wettbewerb ausgerufen hatte: Wer ihm eine Geschichte erzählen könne, die endlos lang und wirklich wahr sei, so hatte er verkünden lassen, der solle reich belohnt werden. Ohne zu zögern machte sich Dschinroku auf zum Palast.

      „Hast du denn auch gehört“, fragte der Wächter, bei dem er Einlass begehrte, „dass jenen, die es versuchen und denen es nicht gelingt, der Kopf abgeschlagen wird? Der Fürst will nicht, dass jeder Dahergelaufene ihm seine Zeit stehlen kann.“

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      „Aber das tue ich ja auch nicht“, begütigte Dschinroku, der so etwas schon aus vielen Geschichten kannte und der, seit der Sack des Geschichtenverkäufers ihn berührt hatte, von närrischer Zuversicht getrieben war.

      Er wurde also eingelassen. Des Fürsten Familie versammelte sich, um zu lauschen, und Dschinroku begann: „Es war einmal eine tausend- und abertausendjährige Eiche, die auf einer großen Wiese wuchs. Der Stamm war so dick, dass dreiunddreißig große Männer ihn nur mit Mühe umfassen konnten. Die Eiche war dreihundertdreiunddreißig Meter hoch.“

      „Halt!“, rief der Fürst. „Das ist nicht erwiesen! Wahr und wirklich muss die Geschichte sein!“

      „Aber das ist sie, Herr“, erwiderte Dschinroku seelenruhig. „Der König jenes Landes nahm es mit der Wahrheit so genau wie ihr. Er befahl, ein dressierter Affe solle in den höchsten Wipfel des Baumes klettern und eine Schnur herabhängen lassen. Der Oberhof-Rechenmeister maß dann unter den Augen des Königs und aller Minister die Länge der Schnur und schrieb das Ergebnis ins verbürgte goldene Buch, wo ihr es nachlesen könnt. Die Eiche reckte ihre Zweige so weit, dass sie auf den gegenüberliegenden Seiten in die angrenzenden Länder reichten. Von einem Ende des Gezweigs zum anderen waren es dreitausenddreihundertdreiunddreißig Meter.“

      „Beweise es!“, unterbrach der Fürst abermals.

      „Edler Fürst, nichts einfacher als das: In jenem Land nördlich des Baumes lebte eine weise Frau. Sie sammelte Wissen. Sie versorgte sich mit Seilen und Haken, sicherte sich gut und kletterte durch den ganzen Baum, von einer Seite zu anderen. Sie hatte heilende Kräuter dabei, die sie den Herrschern der anderen Länder schenkte, damit sie ihr wohlgesonnen seien, obwohl sie in ihr Land eindrang. Mit einem Stab maß sie die Meter und schnitt für jeden gemessenen Meter eine Kerbe hinein. Eines Tages brachte sie der Königin des Landes all ihr Wissen und diese richtete eine Schule ein, in der bis auf den heutigen Tag der


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