Es war 1001 Mal. Margarete Wenzel
„Die Eiche, euer Wohlgeboren, trug dreihundertdreiunddreißigtausendreihundertdreiunddreißig Eicheln. Im Herbst reiften sie. Die erste fiel am Stamm entlang geradewegs herab und wurde vom kleinsten aller Frischlinge gefressen, der daraufhin zum größten aller Eber heranwuchs. Die zweite Eichel fiel ins Meer, wo sie lange an der Oberfläche dahinschwamm, von sanften Winden getrieben, bis ein blau und gelb geringelter Fisch sie verschluckte. Er wurde nach drei Tagen und drei Nächten von einem Mädchen mit schwarzen Zöpfen geangelt. Als sie ihn ausnahm, fand sie die Eichel und pflanzte sie vor das Haus ihrer Eltern, wo sie noch heute der Familie im Sommer wunderbaren Schatten gibt. Die dritte Eichel …“
„Deine Geschichte ist wirklich lang. Ich will dir glauben, dass sie endlos ist, und wenn wir wollen, werden wir Zeit finden, ihr weiter zu folgen“, sprach der Fürst. „Aber ob diese Geschichte auch wirklich ganz und gar wirklich ist, müssen wir noch prüfen.“
„Wenn ihr Tatsachen wünscht, Herr“, erwiderte Dschinroku, „so wollt ihr vielleicht noch wissen, dass der Eichenbaum dreimillionendreihundertdreiunddreißigtausendreihundertdreiunddreißig Blätter hatte. Ich habe sie selbst und eigenhändig gezählt, so wahr ich hier vor Euch stehe.“
„Das behauptest du“, wandte die Prinzessin ein. Dschinroku schaute sie sich genau an und was er sah, gefiel ihm gut. Die Prinzessin hatte bereits beim Zuhören einen erfreulichen Eindruck von ihm gewonnen und was ihre Augen den seinen sagten, das ging nur sie beide etwas an.
„Wollt ihr es sehen?“, schmunzelte Dschinroku. „Soll ich euch zeigen, wie ich es gemacht habe?“
Die Blicke, die auf ihm ruhten, waren Antwort genug. Er griff in die Tasche und förderte Nadel und Faden zutage. „Mit diesen beiden“, erklärte er, „fädelte ich alle Blätter, während ich sie zählte, auf und deshalb bin ich sicher, dass ich jedes Blatt der Eiche genau einmal gezählt und keines ausgelassen habe.“
Ein Tumult brach los: „Ha, das kann nicht sein!“, „Was soll der Unsinn!“, „Mit Nadel und Faden? Will der Schneider uns zum Narren halten?“
Der Wirbel legte sich, als die klare, warme Stimme der Prinzessin erklang: „Wir werden sehen. Wie heißt du, guter Mann?“
„Dschinroku“, antwortete dieser und verneigte sich.
„Dschinroku, dort draußen im Schlosspark sind Blätter genug. Zähle sie für uns, dann werden wir sehen, ob deine Geschichte wirklich wahr sein kann.“
Dschinroku warf Nadel und Faden in die Luft. Sie fuhren durchs offene Fenster, sausten zwischen den Bäumen des Palastgartens hin und her und fädelten, unter den staunenden Blicken der Fürstenfamilie, die Blätter der Parkbäume eins nach dem anderen auf. Aber plötzlich erklangen genau dort, wo die Nadel am Werk war, ein Schrei und ein dumpfes Geräusch. Der Fürst blickte beunruhigt. Er befahl der Palastwache nachzusehen, wer da verbotenerweise in seinem privaten Garten war.
Bald darauf kehrten die Wachen mit einem Gefangenen zurück. Er wurde befragt und verriet schließlich, dass er den Auftrag gehabt hatte, die ganze Fürstenfamilie zu töten.
Nachdem er den Wachen befohlen hatte, den Kerl in den Kerker werfen, nahm der Fürst Dschinroku beiseite. „Das nenne ich eine wirklich wahre und wirksame Geschichte!“, rief er begeistert. „Sie hat wahrhaftig mir und meiner ganzen Familie das Leben gerettet! Weißt du, mein Freund, bei all den Dampfplauderern und Lügenbaronen, denen wir in letzter Zeit lauschen mussten, hatte ich wirklich schon beinahe die Hoffnung verloren. Aber du hast dir die versprochene Belohnung mehr als verdient. Nimm sie entgegen und sei unser Gast. “
Dschinroku blieb bei Hofe und lernte dort allerlei, das ihm gefiel. Er bekam die Gelegenheit, seine endlose Geschichte weiterzuerzählen. Die Prinzessin und er kamen einander immer näher und ihre Liebe wuchs. Das taten auch ihre Kinder und Enkel.
Ihr fragt, ob die Geschichte inzwischen ein Ende gefunden hat? Wir wollen es nicht hoffen, so bleibt das Ende offen.
Der weiße Wolf
aus dem deutschsprachigen Raum
Es war einmal ein König, der auf der Jagd von seinem Gefolge abgeschnitten wurde und lange Zeit im wilden Wald umherirrte. Am dritten Tag, er war schon ganz verweint, erschien wie aus dem Nichts ein schwarzes Männlein vor ihm und sagte: „Ich führe dich aus diesem Wald hinaus, wenn du mir das schenkst, was dir zuhause als erstes entgegenläuft.“
Das „Wenn“ in des Männleins Worten war noch nicht verklungen, da rief der König schon: „Einverstanden!“, denn das „Wenn“ wollte er in diesem Moment einfach nicht hören. Zumal er ja auch von klein auf gewöhnt war, etwas zu bekommen, ohne dafür zahlen zu müssen.
Sie gingen los, das Männlein voraus und der König hinterher.
Unterwegs tauchte das „Wenn“ aus den Tiefen seiner Erinnerung jedoch wieder auf. Er hielt inne und sprach vor sich hin: „Ich hoffe wohl, dass mir, wenn ich nach Hause zurückkehre, mein Jagdhund entgegenläuft und mich als erstes erreicht. Ihn will ich, wenn es sein muss, für meine Rettung opfern.“
„Ich aber hoffe“, schmunzelte das Männlein, „dass dir deine jüngste und liebste Tochter entgegenläuft.“ Dann gingen die beiden weiter. Sie erreichten den Waldrand und traten hinaus in die Weite. Der König sah augenblicklich das heimatliche Schloss vor sich.
Dort ertönte ein Jubelruf aus der obersten Kammer des höchsten Turmes. Von hier aus hatte des Königs jüngste Tochter die ganze Zeit hindurch voll Sehnsucht und Sorge Ausschau gehalten. Kaum war er aus dem Wald ins Freie getreten, hatte sie ihren Vater schon entdeckt. Sie rannte mit fliegenden Röcken die Turmtreppe hinunter, ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. Der lang Vermisste brach daraufhin in Tränen aus.
„Vater, wie gut, dass du gerettet und wohlbehalten wieder bei uns bist!“, rief die Prinzessin. „Aber was ist los? Freust du dich nicht?“
Schweren Herzens erzählte der Vater, er habe sie dem schwarzen Männlein zum Lohn für seine Rettung versprochen.
„Beim nächsten Vollmond sei bereit. Ich lasse dich abholen“, bestimmte das Männlein zufrieden und ging seiner Wege.
Nach einigen Tagen des Abschiednehmens stand der kugelrunde Mond am Himmel. Da kam ein riesengroßer, zottiger, weißer Wolf aus dem Wald, auf dessen Rücken die Prinzessin stieg.
Ein wilder Ritt begann. Der Wolf trug sie über Stock und Stein, abseits der gebahnten Wege. Sie hatte alle Hände voll zu tun, sich am dichten Fell festzuhalten, um nicht hinunterzufallen. Nach einer Weile fragte sie: „Bitte, wie lange muss ich noch so reiten?“
„Sei still!“ fauchte der Wolf und rannte weiter.
Die Prinzessin klammerte sich mit aller Kraft fest. Immer holpriger und heftiger wurde der Ritt. Zweige peitschten ihr Gesicht und Dornen zerrissen ihr Gewand.
„Bitte, wie weit ist es denn noch zum schwarzen Männlein?“, rief sie nach einer Weile abermals.
„Sei still und halt dich fest! Bis zum Glasberg ist’s noch weit!“, knurrte der weiße Wolf, warf ihr aus feurigen Augen einen flüchtigen Blick zu und rannte dann noch schneller.
So gut sie konnte, klammerte sich die Prinzessin fest und schwieg, bis sie fürchtete, sich nicht mehr halten zu können, denn der Wald wurde immer unwegsamer.
„Bitte“, stieß sie hervor, „wann sind wir denn endlich da?“
Da heulte der Wolf einmal kurz und laut, bäumte sich auf, warf sie ab und war gleich darauf im Unterholz verschwunden.
Die Prinzessin kam auf die Füße, schaute sich um und ging los, ohne auf die Dornen zu achten, die an ihrem Gewand zerrten. Als es finster wurde, sah sie zwischen den Bäumen ein Licht funkeln, ging darauf zu, fand eine Hütte und klopfte an. Eine alte Frau öffnete ihr und ließ sie ein. Über dem Feuer brodelte ein Topf