Er ging voraus nach Lhasa. Nicholas Mailänder

Er ging voraus nach Lhasa - Nicholas Mailänder


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des Materials, in der Entwicklung des Buchkonzepts – und zu guter Letzt – auch im Verfassen des Textes.

      Angelehnt an meine ursprüngliche Aufgabenstellung – die Neuveröffentlichung von Peter Aufschnaiters Tibetschriften – ließ ich ihn seine Lebensgeschichte so weit wie möglich in seinen eigenen Worten erzählen. Diese Zitate sind an ihrer Schriftfarbe leicht zu erkennen. Die Interpunktion und die Orthografie in Aufschnaiters Texten wurden dem heutigen Gebrauch angeglichen und zusätzliche Absätze eingefügt. Auslassungen sowie von mir angefügte Anmerkungen und Ergänzungen sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Die von Aufschnaiter sehr häufig benutzten Wörter „haben“ und „sein“ ersetzte ich bisweilen durch situativ passende Verben. Auch nahm ich mir die Freiheit, umfangreiche geomorphologische oder kulturhistorische Ausführungen wegzulassen, wenn sie den Blick auf die eigentlichen Reiseerlebnisse verstellten. Durch diese vorsichtigen Eingriffe gelang es, die Sicht freizumachen auf Schilderungen von poetischer Schönheit, die belegen, wie tiefgehend Menschen und Landschaft in Tibet Peter Aufschnaiter berührt hatten.

      Das Manuskript seines Buches hatte Aufschnaiter am Tag vor seinem Tod mit einem rohen Felsklotz verglichen, aus dem jemand wie sein Freund Paul Bauer erst eine Figur machen müsste. Diese Vorstellung begleitete mich vier Jahre lang bei meinen Bemühungen, aus einer Unmenge von Zeugnissen eine Lebensbeschreibung zu formen, die auch der Dargestellte gutgeheißen hätte.

      Der Leserin und dem Leser wünsche ich viel Freude bei der Erkundung des ereignisreichen Lebens von Peter Aufschnaiter mit seinen zahlreichen Brüchen und Wendungen. Unsere Zeitreise beginnt mit einer Zugfahrt im Spätherbst 1890 in das verarmte Tiroler Bergbaustädtchen Kitzbühel, auf der wir den späteren Skipionier Franz Reisch kennenlernen. Er sollte Peter Aufschnaiters väterlicher Freund werden und seinen Lebensweg entscheidend beeinflussen.

      Nicholas Mailänder, im Herbst 2018

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       KAPITEL 1

       EIN KIND SEINER ZEIT UND UMGEBUNG

      Einer musste ja in den sauren Apfel beißen! Was blieb ihm aber anderes übrig? Schließlich hatte die Mutter ihn gebeten, nach dem kleinen Zweiggeschäft der Familie Reisch in Kitzbühel zu schauen. Sein schwerkranker Bruder Rudolf hatte es mehr schlecht als recht geführt, bis ihn die bereits während seiner Lehrzeit eingefangene Tuberkulose endgültig aufs Krankenlager zwang. Missmutig blickte Franz Reisch durch das Fenster des Erste-Klasse-Abteils der „Giselabahn“ hinaus auf das nebelfeuchte Brixental. Der hochaufgeschossene Mann in den späten Zwanzigern putzte umständlich seinen Zwicker, wodurch die Luft draußen aber auch nicht klarer wurde. Aus den tiefhängenden Wolken rann ein feiner Nieselregen. Kein Mensch war auf den abgeernteten, nassen Wiesen und Feldern zu sehen. Kurz gab eine Wolkenlücke den Blick frei auf die unteren Hänge der Hohen Salve, überzuckert vom ersten Schnee. Darunter die Häuser des Marktes Hopfgarten, zusammengedrängt um die prächtige barocke Pfarrkirche mit den hoch aufragenden Zwillingstürmen, die selbst in dieser Novemberödnis noch etwas Zuversicht verbreitete.

      Der junge Kaufmann schüttelte den Kopf. Von seiner Heimatstadt Kufstein aus war er weit herumgekommen im deutschsprachigen Raum und wusste sehr wohl, wie „draußen“ gewirtschaftet wurde.

      Es dauerte nicht lange, bis Franz Reisch das vom Bruder hinterlassene Geschäft wieder einigermaßen in Schwung gebracht hatte. Die Lebzelter beschäftigten sich mit dem Handel und der Verarbeitung von Honig. Sie kauften Honig und Bienenwachs bei den Bauern auf. Das Wachs, das die Bauern lieferten, schickte Franz Reisch seinem Bruder Josef nach Innsbruck zur Verarbeitung und bekam die fertigen Kerzen und Wachsstücke geliefert. Damit versorgte die Firma Reisch alle Kirchen im Umkreis, und auch die Bauern handelten für das Wachs die Kerzen ein. Hauptgeschäft war aber der aus dem Honig gefertigte Zelten, ein Lebkuchen, der in den umliegenden Dörfern besonders in der Weihnachtszeit sehr gefragt war und im Sommer auf die Almen geschickt wurde. Ein weiteres populäres Produkt der Firma Reisch war ihr in der Konditorei gebrannter Kaffee.

      Der großgewachsene junge Kaufmann kleidete sich stets korrekt nach der in Deutschland üblichen Herrenmode der Gründerzeit mit Stehkragenhemd, Krawatte, Weste, dunklem Sakko und dunkelgrauer Hose. Einen Hut trug Reisch nur selten. Kein Wunder, dass diese urbane Erscheinung in der kleinen Bauern- und Knappenstadt anfangs skeptisch beäugt wurde. Den Haushalt des Junggesellen führte eine Wirtschafterin, die auch für ihn kochte. Die Abende verbrachte der lebenslustige Reisch in den verschiedenen Wirtshäusern der Stadt. Bald war er besonders im Gasthaus Tscholl in der Hinterstadt (heute Hotel Harisch) ein gerngesehener Gast, der mitreißend von seinen Erlebnissen erzählen konnte. Beim Tscholl trafen sich die Honoratioren – die Mitglieder des Stadtrats, die leitenden Beamten des Forstamts, des Gerichts, des Bergamts und der Bezirkshauptmannschaft, die Ärzte, Apotheker, Notare und Anwälte sowie die Geistlichkeit.


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