Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard

Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat - Demian Lienhard


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über den Kopf und über die Knie die Pyjamahose. Eine Weile stehen wir so da, ich, weil mir nicht viel anderes übrigbleibt als zu warten, Jack, weil er irgendwie verlegen ist. Dann fischt er plötzlich eine halbe Schachtel Parisienne aus der Hosentasche, fingert mühsam eine Zigarette daraus hervor, macht sie an und zieht heftig daran. Er reicht mir den zur Hälfte abgebrannten Stengel, von dem ich zwei, drei Züge nehme, als mich Jack plötzlich umarmt. Und mit seiner Umarmung lösen sich hinter meinem Rücken mit einem Klicken die Häkchen des BHs und vom Boden her starren mich große Augen an aus einem Brillengestell aus schwarzer Spitze. Und dann liege ich auch schon auf dem Rücken, vor mir meine kleinen Brüste, die wegkippen nach links und nach rechts, und das krause Dreieck und Jacks Scheitel, der darin versinkt und wieder auftaucht, und seine Küsse auf meinem Bauch und unter meinem Kinn und in meinem Mund, der jetzt salzig wird davon, und vor allem seine Augen, diese auffordernden und dann wieder bremsenden und alles bestimmenden Augen und diese warme Flüssigkeit zwischen meinen Beinen, die herauskommt aus mir und wieder hineingepresst wird und wieder herausfließt. Und dann ist da mein schweißverklebtes Gesicht, meine geschwollenen Augen, das Gellen in den Ohren.

      Ja.

      Ich denke: Und das am Tag von Leas Beerdigung. Es ist ihr Tag. Und dann denke ich: Aber es ist auch mein Tag.

      Jack hat es jetzt eilig mit dem Friedhof. Wie ein Besessener rast er los, und er lässt sich auch dadurch nicht entmutigen, dass ich ihm nach zehn Minuten bedeute, er soll rausfahren bei der ersten Tankstelle, und mir absichtlich Zeit lasse auf dem Klo. Als wir auf dem Friedhof anlangen, ist es nämlich früher, als es sein wird, wenn wir sein Haus verlassen haben werden, sodass wir jetzt wieder jede gewonnene Minute mühsam vertrödeln müssen.

      Wir steigen aus und drehen eine Runde über den Friedhof. Jacks Schuhe stapfen knirschend über den Kies und so schnell, dass alles zerfließt zu einem pochenden Rauschen. Er klingt wie dieser Mann, der auf der Stelle zu rennen anfängt in meinem Kopf, wenn nachts das Kissen gegen ihn drückt oder meine Hände gegen die Ohren, und doch nie vom Fleck kommt. Man könnte jetzt denken, Jack sei auf der Flucht vor mir, aber das tue ich nicht. Da ist nämlich meine Hand fest in seiner und mein Körper, der ihr folgt, so gut es eben geht mit dem wenigen Blut, das jetzt in die Beine fließt und fehlt im Kopf. Jack tut das nur, weil er glaubt, dass die Zeit schneller vergeht, je schneller man läuft.

      Dieser Friedhof ist der größte, den ich bisher gesehen habe in meinem Leben. Ich meine, ich habe nicht viele gesehen, aber der in Baden ist kleiner. Und er ist vor allem voller. Hier dagegen kann man Hunderte Meter gehen und kriegt kein einziges Grab zu Gesicht.

      – Man kriegt fast den Eindruck, sagt Jack, – in Zürich werde zu wenig gestorben.

      Natürlich sagt Jack nichts dergleichen. Es ist der Tag, an dem seine Schwester begraben wird. Aber wenn wir sonst auf den Friedhof gekommen wären, an einem anderen Tag – ich bin mir sicher, er hätte das so gesagt.

      Stattdessen sagt er:

      – Ich habe hier schon viele Spaziergänge gemacht.

      Und dann, nach einer Pause:

      – Um mich daran zu gewöhnen.

      – Ich auch, sage ich, und denke an den Friedhof in Baden. – Ich habe das auch getan.

      Jack schweigt. Er antwortet nichts.

      – Aber man gewöhnt sich nicht daran, sagt er dann.

      Wir stehen schon eine ganze Weile auf dem Parkplatz. Alles wartet. Die Sargträger warten, Leas Onkel und Tanten warten, ihre Cousins und Cousinen warten, Jack und ich warten, Lea wartet.

      Wir warten auf ihre Eltern und einen Onkel.

      Als sie endlich vorfahren im Taxi, geht die eine Tür im Fond schon auf, da hat der Wagen noch gar nicht gehalten. Heraus steigt ein bellender Wortschwall, und dicht hinter ihm folgt Jacks Vater. Er flucht so laut, dass man gar nichts versteht davon.

      – Personenunfall und Streckensperrung, verdammte, sagt dann Jacks Onkel, der sich hinter seinem Bruder aus dem Taxi müht, aber auch hier kein Hallo zusammen oder wenigstens ein Winken.

      Nachdem er sich etwas erholt hat, aber noch immer mit hochrotem Kopf, sagt Jacks Vater:

      – Lea war so jung. Und dann gibt es da Leute, die schmeißen ihr Leben weg wie Taschentücher.

      Er spuckt auf den Asphalt.

      Und schaut in unsere Richtung, zu Jack und mir, mit diesem Blick, der mir immer ein schlechtes Gewissen macht, wenn ihn jemand aufsetzt in meiner Gegenwart.

      Natürlich fühle ich mich irgendwie schuldig. Aber für die Streckensperrung kann ich wirklich nichts.

      Dann steigt Jacks Mutter aus, bleibt stehen und schaut in die Runde. Die Trauergäste nähern sich nur langsam, keiner will sich aufdrängen, niemand der Erste sein. Nur Jack und ich, wir bleiben sitzen auf dem Mäuerchen im Schatten, bis meine Beine wieder das tun, wozu sie gemacht sind: stehen. Jacks Eltern nehmen unterdessen Umarmungen entgegen, schütteln Hände, lassen sich zentnerweise Beileid auf die Schultern laden. Bei all dem hört Jacks Mutter nicht auf, Ausschau zu halten in den Augenblicken zwischen einer Umarmung und der nächsten. Wonach, das weiß ich erst, als sie die Sonnenbrille hebt und aus ihren eng zusammenliegenden, geröteten Augen einen verlorenen Blick auf uns, in den Schatten, richtet, in dem ein Begrüßen liegt, ein wenig vordergründige Freude und ein ganzer Haufen Traurigkeit. Langsam kommt sie auf uns zu, in gleichmäßigen, ruhigen Schritten, sodass sich ihr Körper kaum bewegt und ihre Schultern nicht. Nur in ihrem Gesicht herrscht ständig Bewegung, Mienen werden durcheinandergeworfen von Freude, Rührung und Traurigkeit. Dann, als sie vor uns steht, steigt ihr das Wasser in die Augen, die glasig werden deswegen und anschwellen. Tränen ziehen schwarze Schlieren über die Wangen, ein Tropfen fällt ihr von der geröteten Nasenspitze.

      – Du siehst aus wie Lea, sagt sie.

      Ich – was? Meine Wangen flimmern von der Hitze, und meine Stirn tut es. Ich spüre, wie sich die fünf Fingernägel einer Hand in meinem linken Oberarm vergraben, dass ein Stechen zu spüren ist bis ins Handgelenk und ein Rauschen im Handteller. Die fünf Fingernägel einer rechten Hand. Meiner Hand. Ich schaue an mir herunter. Ich will etwas sagen. Ich will alles sagen. Ich sage:

      – Tut mir leid.

      Das ist der einzige Satz, den ich jetzt so zustande bringe auf die Schnelle.

      Ich schaue Jack an, aber der weiß gerade auch nicht so recht, was er sagen soll.

      – Du siehst wunderschön aus, sagt seine Mutter dann, und bevor ich irgendetwas entgegnen kann, finde ich mich auch schon in ihren Armen wieder.

      Ich fühle meine Haut wie heißen Asphalt, der Blasen wirft unter der Sonne. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt. Wirklich, alles wird froh in mir, wie Popcorn in der Pfanne ein bisschen, während Jacks Mutter weint über meiner Schulter. Ich bin irgendwie glücklich und ich fühle mich schlecht deswegen, ich denke an Lea und dass heute ihre Beerdigung ist, aber dieser Gedanke kommt nicht an gegen die Erleichterung, und das macht mich irgendwie trübsinnig. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn zu meiner Beerdigung jemand gekommen wäre, der eines meiner Kleider getragen hätte, von meiner Mutter mit mir verglichen worden wäre und sich darüber auch noch gefreut hätte, aber es nützt alles nichts. Ich bin so erleichtert, dass alles lachen will in mir. Ich zwinge mich, das Zucken in meinem Hals hinunterzuschlucken und das Drücken. Doch je häufiger ich daran denke, umso stärker ist der Drang, laut herauszuplatzen mit meinem Gekicher. Keine Minute vergeht, und ich habe Tränen in den Augen und unter den Lidern jede Menge Blut. Jack nimmt mich in den Arm, und seine Mutter tut es.

      Wir haben Aufstellung genommen. Da ist der weiß lackierte Sarg in unserer Mitte und da ist diese rechteckige Grube daneben, die so sorgfältig in den Rasen geschnitten ist, dass es aussieht, als hätte jemand eine Tür offen gelassen in ihm.

      Eine Weile geschieht gar nichts.

      Dann hält irgendwer eine Rede. Dann ein zweiter. Und dann noch einer.

      Die Leute in ihren schwarzen Kleidern und schwarzen Anzügen brechen reihenweise um, mit nassem Gesicht.

      –


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