Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard
ich doch.
Aber das sage ich nicht.
– Weil es zu heiß ist, flüstere ich.
– Weil sie weinen, flüstert Jack.
Und dann, als sich Lea langsam senkt an den Seilen, frage ich mich, wie es wohl ist, wenn man da unten liegt in der Grube und um einen herum dieser Sarg und diese Wände aus Lehm, die haltlos sind und glatt wie die Ewigkeit, sodass man nicht mehr aus ihr herauskommt.
Und dann denke ich, dass ich das alles schon einmal gesehen habe. Und noch nie. Und dass ich weiß, warum ich es noch nie gesehen habe. Und dass ich nicht weiß, warum nicht.
Lea.
Sie hat allen Facetten ihres Lebens einen Sinn gegeben, ob in guten oder in schlechten Zeiten.
Sie war eine, die mit dem Kopf durch die Wand ging und ihre Ziele mit Hochachtung erreichte.
Für die Familie war sie nicht nur Schwester, Tochter und Enkelin, sondern auch Freundin. Für ihre Freunde war sie eine Schwester, die immer zuhörte und immer für sie da war.
Sie war immer sehr ehrlich und sie war für alle ein Vorbild.
Sie war stets offen und geradeaus und scheute sich auch nicht, ihre Meinung zu sagen, auch wenn sie darauf Gegenwind bekam.
Man hört sich das alles an und denkt: Jemanden wie Lea habe ich nie gekannt. Und: Hätte ich sie doch früher getroffen. Und vor allem: So möchte ich auch sein.
Und dann schaue ich wieder in die Grube hinab und denke, dass es nun dieses Bild von Lea in mir gibt, dass es bleiben wird und dass es gut ist. Und ich schaue zu Jack und denke, dass ich auch von ihm ein Bild in mir trage, und dass es ebenfalls gut ist, aber dass es sich ändern kann. Lebende, denke ich, verändern sich die ganze Zeit. Sie werden geiziger mit dem Alter oder lassen sich die Spendierhosen an den Körper nähen, sie werden sturer oder nachgiebiger, umtriebiger oder schlaffer. Sie brechen plötzlich die Treue, fangen auf einmal zu lügen an und zu täuschen, fallen dir in den Rücken. Aber ein Toter, das ist etwas Endgültiges.
Als wir wieder auf dem Parkplatz stehen, ist es schon spät geworden, sehr spät. Jack schiebt den Ärmel seines Jacketts wieder nach oben und führt sich seinen linken Arm mit Schwung unter die Augen, um ihn im selben Moment wieder wegschnellen zu lassen, so als hätte der Blick auf das Zifferblatt so ganz und gar nicht das ergeben, was er sich von ihm erhofft hatte.
– Wir müssen, sagt er. – Ich habe versprochen, dich um fünf wieder im Krankenhaus abzuliefern.
Ich grinse, erst lautlos und verhalten, dann, als auch Jacks Mutter in Gelächter ausbricht, gebe ich mir keine Mühe mehr, irgendetwas zurückzuhalten.
– Das macht er schon seit dem Kindergarten, sagt Jacks Mutter. Ich spüre ihre Hand auf meinem rechten Oberarm. – Alba, wir sollten ihm eine Uhr schenken, endlich.
Jack reißt den Mund auf und die Augen und schaut verdutzt auf sein Handgelenk, so als würde er erst jetzt, nach all den Jahren, bemerken, dass da gar keine Uhr ist an seinem Arm.
– Ja, er kommt nie rechtzeitig zu mir ins Krankenhaus. Meistens kommt er zu spät und heute, ja heute war er zu früh.
Eine Sekunde später wird mir klar, was ich da gerade gesagt habe, und schon werde ich wieder rot im Gesicht, aber seine Mutter lacht, und Jack tut es.
– Grandios! Lea hätte das wirklich gefallen, sagt sie, aber es ist kein Zittern mehr in ihrer Stimme wie vorher. Sie ist irgendwie ruhiger geworden und ein wenig zufrieden vielleicht.
– Das heißt, du kommst also nicht mehr mit uns mit? Zum Essen?
Natürlich gibt es nichts, was ich jetzt lieber tun würde. Wegen Jacks Familie und wegen dem Essen auch.
Ich schaue zu Jack: Der schüttelt den Kopf. Dann schaue ich wieder seine Mutter an:
– Ich fürchte nicht. Wenn ich die Geste Ihres Sohnes richtig deute.
– Deines Sohnes, Alba, Du. Und dann, indem sie mir die Hand hinstreckt: – Ich bin Elisabeth.
Sie blickt zu Jack auf:
– Ist wirklich keine Zeit mehr?
Jack schüttelt heftig den Kopf: nichts zu machen.
– Schade. Aber übermorgen. Magst du dann zu uns zum Essen kommen?
Und, indem sie Jacks Vater heranwinkt:
– Alba wird uns übermorgen besuchen.
Der weiß gerade nicht so recht, wohin mit dem Gesagten. Er stottert vor sich hin. Er will etwas sagen. Es gelingt ihm nicht.
Elisabeth fasst sich an die Stirn.
– Übermorgen? Habe ich übermorgen gesagt? Übermorgen haben wir noch zu tun.
Ich spüre wieder ihre Hand auf meiner.
– Tut mir leid. Aber Montag, Montag geht doch, nicht wahr, Walter?
Jacks Vater nickt, überlegt sich, noch etwas hinzuzusetzen und – entschließt sich dagegen.
– Ja, komm zum Essen am Montag, ruft sie dann aus, und bevor ich etwas hinzufügen kann: – Großartig! René wird dich abholen.
Ich wechsle einen Blick mit Jack, der nickt: Ja, das wird er.
Ich bin – ich weiß gerade nicht so recht, was ich sagen soll. Jedenfalls: so viel Freundlichkeit auf einmal. Ich meine, Schwiegermütter. Man hört immer nur Schlechtes über sie. Aber Jacks Mutter, ich mag sie sehr. Vom ersten Moment an ist sie da, obwohl ihre Tochter seit gerade eben – weg ist. Sie muss voll von Traurigkeit sein, denke ich mir, bis obenhin. Aber sie: Wenn du da bist, dann versucht sie, es dir angenehm zu machen, das Dasein meine ich. Andauernd sagt sie Dinge wie fabulös, fantastisch, genial und bombastisch, auch wenn sie sich nicht danach fühlt vielleicht, und überall hängt sie diese Ausrufezeichen an, einfach um dir zu sagen: Du bist hier willkommen.
Vier
Also gut. Vorher gab es diesen Versuch. Aber wie fing das an? Mit meiner Mutter, als die meine Polenta wegfrisst. Fast alle meine Geschichten fangen mit meiner Mutter an oder mit Polenta, aber damals kam alles zusammen.
Meine Mutter hatte das, was man Leben nennt. Sie hatte ein Reihenhaus im Grünen, sie hatte mich, sie hatte einen Papagei. Und endlich wieder einen Freund, nachdem sie sich noch vor meiner Geburt von Uli getrennt hatte. Uli war ihr Typ, aber bei meiner Geburt war er es nicht mehr. Als ich Uli irgendwann kennenlernte, war er einfach nur mein Vater.
Und dann kommt also dieser Tag mit der Polenta. Nur eben ohne sie.
Der Freund meiner Mutter – man mag ihn sofort. Klar, dass er Klärchen sagt und Moinsen und Alles Roger in Kambodscha und Bis Baldrian, damit ist der Bogen überspannt. Aber Viktor ist eben auch einer, der die Gurke als Gärtnerwurst bezeichnet, statt Gemüse widerwillig Gestrüpp isst und im Biergarten einen Hopfentee, eine Vollkornschorle oder eine Maurerbrause bestellt. Kurzum, Viktor ist einer, der nicht anders kann, als den Wörtern andauernd ihre Namen streitig zu machen und ihre Bedeutungen. Ich habe mir einiges abgeschaut von ihm, und in der Schule, muss ich sagen, kamen die Sprüche gut an. Und einmal war sogar Jack beeindruckt davon. Aber das mit Jack … das kam später.
Viktor stammt aus irgendeinem schizophrenen Dörfchen in der Hinterukraine. Aber die Leute dort, die bezeichnen sich als Moldawier. Eigentlich wollten sie das Dorf am Dnjestr gründen, sagt Viktor. Aber einer hat die Karten vertauscht, oder er hat sie falsch gelesen, und dann sind sie am Dnjepr gelandet.
Bevor Viktor zu uns kam, war er arbeitslos. Und danach – auch. Das ist gut so. So hat er mehr Zeit für mich. Wann immer Viktor eine Pause braucht von seiner Freizeit, besichtigen wir Wohnungen zusammen. Wir nehmen jeden Termin wahr, selbst wenn sie bereits vergeben sind. Es geht Viktor nicht um die Wohnung, es geht ihm ums Besichtigen. – Vierzig Jahre Kommunismus, sagt er, – ich will wissen, was ich verpasst habe im Leben.