Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard

Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat - Demian Lienhard


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seit fast einem halben Jahr, aber kennengelernt habe ich ihn erst an jenem Freitag.

      Vorher wusste ich nur, dass er sitzengeblieben war und dass er sich angeblich zusammen mit Albert Hofmann höchstpersönlich einen LSD-Trip geschmissen hat oben auf der Allmend. Jetzt weiß ich, dass er Bananen liebt, die so braun sind, dass es für die Gesundheit bedenklich wird, dass er Olympic Decathlon, Space Invaders und Battlezone spielt und dass das mit dem Trip Quatsch ist. – Das war gar nicht auf der Allmend, sagt er, – sondern drüben auf dem Chrüzliberg.

      Ich würde sagen, die beiden wollten’s wissen. Ganz schön gefährlich mit all den Felsabbrüchen ringsum.

      Die Sache mit Marcel war ziemlich heikel, weil: Ich bin nicht so der Typ, der dem anderen einfach einmal die Hand hinstreckt und sagt: – Hei, ich bin Alba, wie geht’s denn so? Also warte ich, bis sich Franz mit ihm angefreundet hat und stelle mich dann, während der Pause, unauffällig in die Runde. Und als Franz einen Witz reißt, den ich vergessen habe, sage ich … Das habe ich auch vergessen, und zwar deshalb, weil jetzt genau das geschieht, was mich hat vergessen lassen, was ich zuvor gesagt habe: Marcel schaut mich an, schiebt die aufeinandergepressten Lippen vor und nickt anerkennend. Und dann zeigt er seine riesigen Zähne, groß und vom Rauchen verfärbt wie von einem alten Klavier die gelben Tasten, und ein Röhren und Glucksen kommt ihm aus der Kehle, als hätte man irgendwo in der Gegend eine Hirschkuh angefahren und am geteerten Rand liegen gelassen, ohne dem Wildhüter Bescheid zu sagen. Sofort weiß ich: Den Typen werde ich lieben bis ans Ende meines Lebens. Und so falsch lag ich damit gar nicht.

      Also: Ein Vierteljahr warten und dann gut anderthalb Monate harte Arbeit, da denke ich gar nicht erst daran, mir an einem einzigen Tag alles wieder zunichte zu machen.

      Sicher, meine Mutter fährt mich zur Schule. Aber ich, ich habe vorgesorgt. Ich lasse mich nämlich an der Bushaltestelle beim Altersheim absetzen, halte ihr das präparierte Absenzenheft unter die Nase, damit sie ihre Unterschrift draufsetzen kann, und danach, hinter dem Erdwall, geht’s ab durch die Hecken: auf dem Trampelweg durchs Dickicht hinter dem Sportplatz, dann in einem großen Bogen hinab zum Schloss, über die hölzerne Brücke und wieder hinauf in die Stadt.

      So stelle ich mir das zumindest vor. Aber der Plan haut nur gerade hin bis zum Punkt mit dem Absenzenheft. Meine Mutter nämlich setzt ihre Unterschrift drauf, kratzt mir mit ihren spröden Lippen einen Kuss auf die Stirn und zieht den Riegel hoch an der Beifahrertür. Ich steige aus, den Stift noch in der Hand und den linken Daumen zwischen die Seiten geklemmt, wo jetzt die Manipulation fällig ist. Ich nehme die beiden Stufen hoch zum Durchgang, öffne hinter der ersten Biegung das Heft und setze den Stift da an, wo die zweite Zwei so klein geschrieben ist, dass sie aussieht wie hochgestellt, und lasse so mit einem winzigen Häkchen, das ich unten anfüge, vierundzwanzig Stunden verfliegen, mache aus dem 22. einen 23. Januar.

      Und dann, als ich die Ziffer noch einmal überprüfe, geschieht es: Hinter der Biegung taucht der Rechsteiner auf. Gut, es hätte schlimmer kommen können. Wenn er die Aktion mit dem Absenzenheft beobachtet hätte zum Beispiel. Aber dass er weiß, dass ich hier bin und das noch nicht einmal sterbenskrank, ist schlimm genug.

      – Bonjour, mademoiselle Alba, sagt er, und: – Comment allez-vous? Und: – J’espère que vous êtes complètement rétablie. Und während er mir Löcher in den Bauch fragt wegen meiner Grippe, begleitet er mich bis ins Schulzimmer.

      Ich sitze in der Falle.

      Aber immerhin: Zwar ist das Schulzimmer nicht leer, wie ich mir das wünsche, als der Rechsteiner mit mir im Schlepptau den Raum betritt, aber wenigstens ist Marcel nicht da. Und das bleibt auch für die nächsten drei Stunden so.

      Bis zur großen Pause.

      Als sie mich gefragt haben einen Tag oder zwei danach, weshalb das alles passiert sei, sagte ich, ich wüsste es nicht, oder ich sagte irgendetwas, was wahrscheinlich klang. Aber ich wusste nicht, weshalb das geschehen war, was dann geschah.

      Gründe kommen einem erst Jahre später in den Sinn. Viele, nicht einer, so wie es eben auch nicht nur der Torwart ist, der für die letzte Schande im Letzigrund verantwortlich ist, auch wenn das alle sagen, und es fallen einem auch nicht alle Gründe auf einmal ein, sondern erst einer und dann noch einer und dann wieder einer.

      Wenn man also etwas gewartet hätte mit den blöden Fragen damals im Krankenhaus, wenn man zwei oder drei oder fünf oder sieben Wochen gewartet hätte, dann hätte ich ihnen von dieser großen Pause erzählt. Es war eigentlich eine Pause wie immer, und weil Winter war, haben sie alle drinnen verbracht, im Bunker, vor der Mensa. Nur die Raucher, die standen draußen unter dem Vordach oder vor den Seitentüren des Bunkers, aber ich habe ja noch gar nicht geraucht damals.

      Der Bunker. Wenn die übrigen Schulgebäude lichtdurchflutet sind und hell, wenn sie leicht sind und durchsichtig, wenn das Glas und die Stufen der breiten Treppen, die frei hängen, Licht einlassen und Einblicke zu-, wenn sie durchschaubar sind, wenn man hineinschauen kann in den Hallerbau, in die Turnhalle, in die Aula, in die Pavillons und die lockeren Alleen, dann ist der Bunker das genaue Gegenteil. Der Bunker heißt so, weil er ein Klotz ist und viel zu sehr aus Beton besteht, weil er grau und fest und dunkel ist, weil seine Gänge eng und schummrig, seine schmalen Treppenschächte beinah absatzlos sind und so eng, dass sich gerade einmal zwei oder vielleicht drei Menschen kreuzen können in ihnen. Und weil es nur zwei Treppenschächte gibt und drei Etagen, und weil im ersten Stock die Bibliothek untergebracht ist und die je zwölf Klassenzimmer erst auf der zweiten und der dritten Etage, also bei jeder Pause um die vierundzwanzig Klassen mit zwanzig Schülern einmal hinab in die Mensa und wieder hinauf wollen, gehen von den dreißig Minuten Pause fünf Minuten für den Hin- und fünf Minuten für den Rückweg verloren. Und wie das dann erst gehen soll, wenn’s einmal brennt im Bunker, will man sich gar nicht vorstellen, aber man tut’s dann eben doch. Erst schrillt die Alarmglocke los und du denkst: Fehlalarm. Aber dann riecht einer den Rauch und dann ein Zweiter und dann ein Dritter und dann sieht ihn der Erste auch schon und dann noch einer und dann alle. Man bewahrt Ruhe in den Klassenzimmern, so gut sich die Ruhe eben bewahren lässt, wenn man mit fünfhundert Leuten in einem Gebäude feststeckt, wenn die Decke psychedelisch flackert von der Feuerwehr, der Polizei und was sich sonst noch alles ums Gebäude herumtummelt und dabei doch nichts tut, außer zuzuschauen, wie alles seinen Lauf nimmt. Man bewahrt Ruhe, obwohl überall Rauch ist und man weiß, dass die Fluchtwege verstopft sind, weil der Plastikboden im Treppenhaus und die Gase, die sich aus ihm lösen, dir die Lunge zerfressen würden, wenn du sie einatmest, dass sie dir hochkommt in Stücken und vor dir auf dem Tisch blutig liegen bleibt. Und irgendwann bricht der Tumult los, weil die zunehmende Hitze jemandem die Sicherungen hat durchschmelzen lassen und dann einem Zweiten in der Klasse und dann einem Dritten. Und dann stürmt die Menge auf den Flur und schießt hinaus zu den Treppenhäusern, drängt sich zusammen und auseinander, drückt sich gegen das Glas und die Wände und die Betonstützen und auf den Boden, und wenn einer gefallen ist, rücken die nachfolgenden Schüler sogleich nach in die Lücke, die sich vor ihnen aufgetan hat, und steigen einfach über den Liegenden hinweg. Und als man die Feuerschutztüren erreicht, bleiben die Vordersten stehen vor Grauen und Entsetzen und brechen in Geheul aus und Geschrei. Hinter dem Drahtglas ist der Qualm so dicht, dass jede Flucht unmöglich erscheint, vielleicht sind die Türen sogar defekt und lassen keinen Ausweg, nicht einmal den tödlichen hinein in den Rauch. Doch von hinten schiebt die Menge, die flucht und weint und spuckt und einfach nur hinauswill, und sich gegen das heiße Drahtglas quetscht, das krachend birst unter dem Druck und die Vordersten zerschneidet und zerteilt und zerreißt, dass ihre Körper ins Treppenhaus hineinhängen und gleichzeitig nicht hineinhängen. Sofort suchen sich der Rauch und das Gas und die Hitze einen Weg in den Flur hinein, drücken in die entgegengesetzte Richtung, sammeln sich an den Decken und füllen langsam den Raum von oben nach unten, und bald sieht man die Hand vor Augen nicht mehr, so dicht ist der wabernde Qualm. Scheiben werden jetzt eingeschlagen, man hält sich an den Fensterrahmen fest und streckt den Kopf ins Freie, um nach Luft zu schnappen, einige fallen schreiend in die Tiefe, regnen schwer aufs Pflaster wie Hagelkörner an einem lauen Sommerabend, begleitet vom Kreischen der im Innern feststeckenden Menge, das immer lauter wird und verzweifelter, nach einigen Minuten aber abnimmt und abnimmt und abnimmt und schließlich verstummt. Und wenn das Feuer endlich gelöscht ist und die ersten Feuerwehrleute


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