Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard
ohne Haltestelle, ein vergifteter Stausee, an dessen Oberfläche die Forellen ihre blassen Bäuche sonnen, eine Hauptstraße mit künstlich aufgeschütteten Schallschutzhügeln zu den Seiten und jeder Menge Arbeiterschließfächern aus Stahlbeton. Überhaupt ist hier eigentlich alles aus Beton gemacht, sogar die Kinderspielplätze sind nicht mehr als ein paar wahllos durcheinandergeworfene Zementröhren. Die Sowjets, hat mein Stiefvater einmal gesagt, haben den Eisernen Vorhang gebaut und die DDR die Mauer, weil sie Angst haben, dass ihnen die Leute davonrennen, in Neuenhof haben sie einfach keinen Bahnhof gebaut. Er hat es im Scherz gesagt, der Viktor, aber es ist einer, bei dem dir das Lachen im Hals stecken bleibt.
Ich habe von Leuten in Neuenhof gehört, die verlassen nur mit nüchternem Magen das Haus, weil sie sonst kotzen müssten, wenn sie frühmorgens durch die Straßen gehen und nicht einer dieser vielen Tage ist, an denen der dichte Nebel, der vom Stausee heraufsteigt, die Sicht auf das Schlimmste nimmt. Und jetzt versteht man auch, warum es so viele Magersüchtige gibt dort und warum so viele Selbstmörder.
Trotzdem. Ich wäre gerne nach Hause zurückgekehrt. Auch wenn meine Mutter gar nicht da war. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Es hätte mir gereicht, barfuß über das Fischgrätparkett zu gehen im Wohnzimmer und in der Ecke neben dem Fernseher auf die losen Lamellen zu treten, immer und immer wieder, die dann knarren wie die Spechte, die es hier nicht mehr gibt. Ich wäre in die Küche gegangen, um dem knirschenden Klicken der Sicherung zuzuhören, wenn man das Licht aufdreht, und hätte dieses unentschiedene Flackern beim An der Leuchtstoffröhren über der Ablage beobachtet. Den Herd hätte ich aufgedreht und mich hingesetzt. Ich könnte das stundenlang tun, einfach nur in der Küche sitzen und dem Gas beim Flüstern zuhören. Leider ist das zu teuer und saugefährlich. Um zu verhindern, dass es das ist, saugefährlich, könnte man es anzünden, aber damit verliert das Geräusch seine gesamte Unschuld. Das gierige Fauchen, die blaue Flamme, sie haben nichts Beschauliches an sich, sie sind aufdringlich, dumpf und hohl und einfach nur bedrohlich.
Ich hätte nach Mister Freitag geschaut zu Hause, natürlich. Wie es ihm geht in seinem Käfig. Mister Freitag ist mein Papagei und heißt nur heute so. Morgen heißt er Mister Samstag, übermorgen Mister Sonntag, überübermorgen Mister Montag und so weiter. Und wenn einmal die Reihenfolge der Wochentage durcheinandergeraten sollte oder Leute wie Viktor auf die Idee kommen, ihre Namen zu vertauschen, dann heißt er eben anders. Keine Frage, den armen Vogel verwirrt das ungemein. Er ist ein Graupapagei, muss man wissen, ein Wildfang aus dem Kongo. Die Geschichte, wie er zu mir gekommen ist, ist mindestens so abenteuerlich, wie es gewesen sein muss, das Tier im Urwald zu fangen. Aber hier ist nicht der Ort dafür und nicht die Zeit.
Jack überlegt.
– Wirklich nicht?
Meine Finger nesteln heftig am Bund der Pyjamahose herum. Blut schießt in mein Gesicht, dass es heiß und kalt wird in ihm.
– Ich … Ich habe keine schwarzen Klamotten.
Jack wirft mit einem dieser Blicke um sich, bei denen man nicht so recht weiß, was der jetzt bedeuten soll. Er sagt nichts.
– Außer Socken, sage ich dann, um wenigstens irgendetwas zu sagen.
– Und Unterwäsche, sagt Jack.
Und dann, nach einer Minute oder zwei, in denen wir uns anschweigen und es mir nicht gelingt, den Blick vom braunen Linoleum zu lösen, sagt Jack:
– Ich hab einen Plan. Versuchen wir’s bei mir zu Hause. Ich glaube, da liegt noch was rum. Was meinst du?
Ich nicke heftig mit dem Kopf. Alles lieber, denke ich, als mit Jack zu mir nach Hause zu fahren. Aber dann, als wir im Käfer sitzen, bin ich trotzdem etwas traurig, weil ich an Mister Freitag denke und ans Fischgrätparkett und an den Specht unter ihm.
Hätte ich gewusst, was bei uns eigentlich heißt, wäre ich vielleicht noch einmal umgeschwenkt. Wir fahren lange, und das will was heißen bei Jacks Tempo. Das Haus seiner Eltern nämlich ist ziemlich abgelegen. Zum ersten Mal in meinem Leben überquere ich den Berg, hinter dem die ganze Zeit die Postautos verschwinden. Ich habe mich immer gefragt, warum andauernd Busse dahin fahren, aber eine Antwort habe ich nie gekriegt. Jetzt weiß ich: Ein nebliges Tal gibt es dort und eine Handvoll Dörfer und ein armseliges Flüsschen, das nie ein Schiff gesehen hat auf seinem Wasser und kein Mühlrad in ihm. Es ist das einzige Tal in diesem Land, in dem bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein die Juden leben durften. Und da weiß man auch schon, was das für ein Tal ist, wenn man damals sogar Juden geduldet hat in ihm, und die Juden, die wussten’s auch. Kaum wurden die Niederlassungsbeschränkungen aufgehoben im Land, haben sie das getan, was jeder getan hätte an ihrer Stelle: Sie haben samt und sonders Reißaus genommen.
Und nun liegt also dieses schwarze Kleid vor mir auf dem Bett. Wir sind nach oben gegangen, in ein viel zu aufgeräumtes Zimmer, in dem die Rollos heruntergelassen sind und irgendwelche Bandposter hängen, von Secret Service ein riesiges und von Blondie eins und was weiß ich von wem nicht noch alles. Sofort verschwindet Jacks Oberkörper in einem riesigen Schrank, der aussieht wie ein Zimmer, und zwar deshalb, weil da so viele und so große Spiegel hängen an den Türen, dass sich das ganze Zimmer spiegelt in ihnen. Nach ein paar Minuten, in denen er die gut zwei Dutzend Bügel vielleicht etwas häufiger als nötig auf der Kleiderstange hin- und herschiebt, holt Jack ein Kleid heraus und legt es sorgfältig aufs Bett.
– Gefällt’s dir?, fragt er und setzt ein Lächeln auf, das man gar nicht anders bezeichnen kann als traurig.
Natürlich gefällt es mir. Es ist ein schönes Kleid, eines mit Puffärmeln, das herrlich glänzt unter der Lampe wie in der Nacht die Straßen, wenn Regen auf sie fällt. Aber es gibt ein Problem damit: Das Kleid gehört Lea. Deswegen bin ich auch dagegen, dass ich es anziehe. Und dafür, dass wir trotzdem noch zu mir fahren. Andererseits: Ich weiß nicht, wie ich es Jack beibringen soll. Dass ich Leas Kleid nicht tragen will und dass ich gelogen habe vorhin. Ich weiß nur: Unter keinen Umständen ziehe ich das Kleid einer Toten an.
Aber dann, als ich gerade die Worte bereitlege, um Jack klar zu machen, dass das nicht geht, ist da wieder dieses traurige Lächeln in seinem Gesicht.
Er sagt:
– Es gefällt dir nicht, nicht wahr?
– Im Gegenteil, ich brenne darauf, es anzuprobieren!, höre ich jemanden rufen, und ich wundere mich über diese Worte und über die Begeisterung im Gesicht dieses Mädchens mit dem dunkelblonden Haar, das mir von der Schranktür entgegenlacht und das ich nicht bin in diesem Moment.
– Gut, sagt Jack und verlässt aus irgendeinem Grund das Zimmer.
Ich schaue auf die Tür, die sich hinter ihm schließt, und auf Leas Kleid, das so etwas wie auffordernd schimmert unter der Lampe. Ich erinnere mich an ein ähnliches Kleid, das ich getragen habe und das auch nicht meins war. Es hat meiner Schwester gehört, es war rosa und hatte auch solche Puffärmel an den Seiten und einen Ausschnitt mit Knöpfen, und dann habe ich es gekriegt. Ich mochte es sehr, aber es machte mich traurig, dass ich es nicht geschenkt bekommen habe und meine Schwester schon, und dass ich es erst gekriegt habe, als es ihr nicht mehr passte. Und dann kommt mir in den Sinn, dass es doch immer so gewesen ist, dass ich immer nur die getragenen Kleider meiner Schwester bekommen habe und nie was geschenkt.
– Bist du fertig?, fragt Jack durch die Tür.
Ich schaue auf das Kleid und dann schaue ich auf die Schiene an meinem linken Arm und den bleichen Daumen. Ich denke: Bist du blöd eigentlich?
– Kann ich reinkommen?, fragt Jack schon wieder.
– Ja, sage ich, – du musst.
– Okay, sagt Jack, und ich glaube, da steckt so eine Vorfreude in seiner Stimme oder auf ihr oder dahinter oder wie man das auch immer nennt. Jedenfalls hört man das jetzt.
Aber als er dann die Tür öffnet: großes Traritrara.
– Du hast dich ja noch gar nicht umgezogen, und: – Gefällt es dir also trotzdem nicht?, und all so ein Zeug.
Ich zeige auf meinen linken Arm.
– Mal daran gedacht?
–