Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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       Thomas von Kempen

       Neiße, Oberschlesien

      Die Stadt Neiße im preußischen Oberschlesien ist in ihrer sozialen Struktur, mit der sie in das zwanzigste Jahrhundert übernommen wurde, ein Überbleibsel aus dem Siebenjährigen Krieg. Friedrich, der preußische Soldatenkönig – nach der Historie – hatte für die Feldzüge gegen Kaiserin Maria Theresia ein Etappenlager bestimmt und zur Festung ausgebaut, etwas abseits gelegen von den Durchgangsstraßen durch das Gebirge nach Polen und Böhmen, geschützt in einem Winkel der westlichen Ausläufer der Sudeten. Im Zentrum dieses befestigten Heerlagers lag die Ackerbürgerstadt Neiße, am westlichen Abhang des Altvater-Gebirges in einer Ebene, die sich nach Norden hin zum Odertal ausweitet, Südzipfel jenes Österreich-Schlesiens, das nach den Feldzügen an Preußen abgetreten worden ist. Von dem eigentlichen Sudetenland war Neiße durch die Gebirgskette getrennt, aber nicht vergessen. Ein Waffenlager von beträchtlichem Ausmaß, Verpflegungs- und Ausbildungszentrum einer Armee. So ist es auch in all den Jahrzehnten, ein ganzes Jahrhundert und ein halbes, geblieben.

      Früher war Neiße einmal der Sitz eines Bischofs, was der Stadt in der österreichisch-ungarischen Monarchie den Beinamen „das schlesische Rom“ eingetragen hat. Und wie die Chroniken gehen, noch früher saßen Markgrafen in der Stadt, die von diesem Schutzwinkel aus im Bergkessel der Sudeten die Hauptverbindungswege der deutschen Länder nach Ungarn und dem weiteren Südosten beherrschten, die durchreisenden Kaufleute mit Zöllen belegten und, wenn die Gelegenheit sich dazu ergab, ausplünderten. Außer einer Vorliebe für Ungarwein ist in diesem Teile Oberschlesiens und in Neiße nicht viel von dieser Zeit zurückgeblieben.

      Dagegen aus der Bistumszeit ein Rathaus im Stil der Spätrenaissance, das in Kunstbüchern abgebildet wird, einige Kirchen aus dem österreichischen Barock, ferner die für diese Zeit typischen Giebelhäuser, die hohen Torbögen und schmiedeeisernen Straßenbrunnen.

      Um die Jahrhundertwende kamen bei einer Zivilbevölkerung von rund 25 000 Seelen mehr als ein Drittel dieser Zahl als Militärpersonen hinzu, in Uniform oder sonstwie zur Militärverwaltung gehörig. Außer diesen gab es kaum Fremde in der Stadt. Touristen hatten damals angefangen, Reste des Mittelalters im ursprünglichen Deutschland, im Westen und Südwesten, zu beschreiben und neu zu entdecken. Nach Neiße kamen sie nicht. Zu den Kurorten in den Bergen, diesseits und jenseits der Grenze, den Mineralquellen und Heilanstalten führen die Schnellzüge in direktem Durchgangsverkehr, meist ohne Neiße zu berühren.

      Die Reisenden kamen nicht, auch weil der Ruf der Stadt als eines gewaltigen Militärlagers den Besuch nicht gerade anziehend erscheinen ließ. Die Rekruten, die ausgebildet wurden, kamen in der Mehrzahl aus den rein polnischen Dörfern im Osten und aus Elsass-Lothringen, denen preußischer Schliff hier beigebracht werden sollte. Es schien manchmal, als ob der Zivilist auf der Straße sich dessen bewusst sei, dass er eigentlich nur geduldet wurde. Die Leute gingen sehr behutsam und zugleich scheu, und sie verschwanden sehr schnell in den Haustoren, oft wie weggefegt, als hätte sie ein Trompetenstoß getroffen von den Kasematten her.

      Es war keine direkte Bedrohung. Die Sonne schien wie überall, und von den Dämmen der Wallgräben konnte man das Blau der Bergkette sehen; aber es lag eine gewisse Eigenart in der Luft. Das war es, was mein Großvater mütterlicherseits nicht ertragen konnte. Er lebte in Breslau und war an der Schlesischen Zeitung beschäftigt. Als er starb, erschien die Zeitung mit einem breiten Trauerrand, das Einzige, was meine Mutter als Erinnerung an ihn aufbewahrt hatte; sie hatte die Zeitung aber nie gelesen, ich übrigens auch nicht. So wusste sie nicht, was er an der Zeitung zu tun gehabt und mit wem er Umgang hatte. Obwohl er ihr zugetan gewesen sein soll, ist er für sie ein völlig Fremder geblieben, den sie nur selten bemerkt hat und nur bei besonderen Gelegenheiten, so zum Beispiel als ihre Geschwister der Reihe nach innerhalb einer Woche an der Cholera starben. An diese Woche erinnerte sich die Mutter und auch an den Großvater, der zu Hause geblieben war. Sonst wird er die Abende mit Freunden verbracht haben. Es wurde davon gesprochen, dass er sich auf der Sternwarte der Universität, in der Freizeit mit Astronomie beschäftigte, eine Wissenschaft, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch als Scharlatanerie angesehen wurde. Auf meine neugierigen Fragen nach dem Großvater – ich habe ihn nie gesehen, er lebte schon damals nicht mehr – hat mir die Mutter keine klaren Antworten geben können, nur dass er sehr eigenartig gewesen sei, sich auch nicht darum gekümmert habe, dass die Kinder lesen und schreiben lernten; die Mutter hat es selbst erst sehr viel später in der Uhrmacherwerkstatt des Vaters nachgeholt.

      Dieser eigenartige Herr hat niemals die Eltern in Neiße besucht. Mit seiner Ablehnung auch gegen meinen Vater, dem er es übelnahm, dass dieser sich eine Existenz als Uhrmacher gerade in Neiße zu gründen suchte, hat er die ersten an sich schon schwierigen Ehejahre meiner Eltern sehr belastet. Die Mutter, die Putzmacherin gelernt hatte in einer Stadt, die sich zur Großstadt zu entfalten begann, hasste Neiße sicherlich ebenso sehr wie der Großvater. Sie ist oft, konnte ich noch hören, wochenlang nicht auf die Straße gegangen. Sie hasste dabei mehr noch als die Soldaten die Bauern, und die Bauern waren in der Hauptsache die Kunden des Vaters. In den späteren Jahren hatte die Mutter sich eher daran gewöhnt. Sie hat im Geschäft mitgearbeitet, die Wanduhren repariert und den dort in Jahren angesammelten Dreck weggeschabt; nach dem Abendessen durfte ich mithelfen, bis es Zeit war, schlafen zu gehen.

      Der Großvater hingegen lebte seinen Erinnerungen aus dem Revolutionsjahr 1848: Ein Rock – der eine Schoß war vom Säbelstich eines Königshusaren durchbohrt – hing am Ehrenplatz in der Breslauer Wohnung im Wohnzimmer an der Wand über dem Kanapee, darüber war eine Studentenmütze genagelt und darunter zwei Rapiere über Kreuz! Von anderer Seite in der Verwandtschaft habe ich erfahren, dass der Großvater damals auf dem Schlossplatz in Berlin festgenommen und später von der Universität relegiert wurde. Er pflegte in Breslau auf die andere Seite der Straße hinüberzuwechseln, wenn ihm auf seiner Seite eine Militärperson entgegenkam – in Neiße hätte er sich das nicht leisten können, weil unter vier ihm Entgegenkommenden drei Soldaten gewesen wären.

      Trotzdem sollte ihm im Leben noch eine große Genugtuung widerfahren. Wahrscheinlich war er seiner eigenen Familie entfremdet. Sie war preußischer Militäradel seit Generationen, Brüder und Vettern sind Offiziere gewesen. Und eines Tages ging die alarmierende Nachricht in die Öffentlichkeit des neuen Deutschen Reiches, dass ein Hauptmann v. Döring, Kommandierender der Schlosswache in Berlin, ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. versucht habe, indem er mit dem gezogenen Degen in der Hand Seiner Majestät den Weg verlegt … entwaffnet und in ein Irrenhaus gesteckt werden konnte … in der Geschichte der erste Attentatsversuch gegen einen preußischen König und Kaiser, der Bruder meines Großvaters! Ich bin sehr stolz darauf gewesen.

      Zwischen der Militärstadt, deren ziviles Wohnzentrum ein selbständiger Stadtteil, die Friedrichstadt, war und dem eigentlichen Neiße bestand keine wie immer geartete Verbindung. Die Bürger, das sind die Handwerker, die Kaufleute und die ständig ansteigende Zahl der Rentner aus dem oberschlesischen Industrierevier, die ihre Pension in dem außerhalb der deutschpolnischen Schuldstreitigkeiten gebliebenen Neiße zu verzehren gewillt waren, unterhielten keinen gesellschaftlichen Verkehr zur Friedrichstadt. Dieser Abstand blieb bestehen, weil Neiße von den Gründerjahren nach dem deutsch-französischen Krieg von 70/71 nicht berührt wurde. Die Industrie hatte sich um die Kohlengruben im östlichen Oberschlesien konzentriert.

      Die ständige Ausdehnung der militärischen Verwaltung und die zugleich auch enger werdende Bindung zur zivil-staatlichen Administration hatte eine Zwischenschicht entstehen lassen von durchaus selbständigem Charakter: die Beamtenschaft. Sie lebte in einer Art Ghetto, Neubauhäuser längs der Neiße und im südlichen Neustadt-Viertel. Dort setzte die allmähliche Verschmelzung der Schichten ein, vorerst zwischen der zugewanderten zivilen und der militärischen Beamtenschaft. Dem rapiden Ausbau des oberschlesischen Industriereviers waren größere Beamtenkolonien im Wege. So wurden höhere Verwaltungsstellen, Steuer- und Grundstücksämter, besonders die Justiz, nach Neiße abgeschoben. Sie bildeten noch zur Zeit meiner Kindheit gesellschaftlich einen Fremdkörper.

      Der preußische höhere Beamte war überwiegend lutherisch. Im katholischen Neiße kam dies einem Verbrechen gleich.


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