Der Weg nach unten. Franz Jung
und meist zugleich auch das Ende. Wer die Möglichkeit hatte – die höheren Offiziere, die Senatspräsidenten und sonstige Beamte mit freier Disposition – ließ sich versetzen. In einer neuen Umgebung konnte etwa auf die zukünftige Erbschaft der Ehefrau eine Anleihe aufgenommen werden, die inzwischen lawinenmäßig angestiegene Wechselzinsen so weit deckte, dass Gerichtsverfahren vermieden wurden. Davon hatte aber der Zweitschuldner nichts. Er saß mit gleich hohen Beträgen belastet in Neiße und ging schließlich pleite. Dem jüngeren Offizier, der vielleicht zunächst unter dem Druck der Gerichtsklage Unterschriften gefälscht hatte, blieb nichts übrig, als den bunten Rock auszuziehen oder sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Das geschah nicht selten und wurde sorgsam vertuscht.
Weit entfernt von dem allgemeinen Wohlstand, den die Geschichtsschreiber den Gesellschaftsschichten in Preußen zuzuschreiben pflegen, war das Charakteristische: der faule Geruch des Verfalls, Verwesung und Korruption. Ein Intendanturrat, dessen Tochter ich von fern verehrte, sprang aus einem dieser Neubauhäuser aus dem dritten Stock auf die Straße … meine Mutter hätte gern gesehen, wenn ich das Mädchen geheiratet hätte, sofern ich angesehen genug geworden wäre.
Geldverleiher waren sehr zahlreich; das waren die Leute, die sich auf die Wechselmanipulationen verstanden, fast ausschließlich zugewanderte Rentner aus dem Industrierevier, pensionierte Eisenbahner und Obersteiger, die gekommen waren, sich zur Ruhe zu setzen. Der Schaden, den diese Leute angerichtet haben, muss außerordentlich gewesen sein. Obwohl im Uhrmacherladen des Vaters Abend für Abend davon gesprochen wurde, ist mir das meiste nur sehr oberflächlich in Erinnerung geblieben. Damals war der Vater schon dabei, die Uhrmacherei aufzugeben und mit Gleichgesinnten eine Handwerker- und Hausbesitzer-Genossenschaft zu gründen, in deren Vorstand er später berufen wurde. Ich schrieb, noch in der Prima des Realgymnasiums, nach den Angaben des Vaters eine Broschüre über die zu ergreifenden Maßnahmen im Kampf gegen das Borgunwesen im Handwerk, die in der Schriftenreihe der gewerblichen Genossenschaftsbewegung München-Gladbach erschien. Heute weiß ich nicht mehr, was da im Einzelnen angeregt worden ist.
Es war noch eine andere Gruppe von Geldverleihern vorhanden, aus dem Handwerkerstand selbst hervorgegangen, aus demjenigen Teil, der noch den „goldenen Boden“ hatte, Fleischer und Bäcker, die sich nach wenigen Geschäftsjahren zur Ruhe setzen konnten, zum überwiegenden Teil vom Lande nach der Stadt eingewandert. Sie verborgten Geld aufs Land, an die Bauern. Das Ende war, dass der Bauer alles verlor, Haus und Hof. Solche Leute wurden „Güterschlächter“ genannt. Sie schlachteten aber nicht die Güter, sondern die kleinen Bauernanwesen, die dann zu Gütern zusammengefasst und an Grundstücksmakler im Industrieviertel verkauft wurden, vorerst für landwirtschaftliche Nutzung, in Wirklichkeit aber als stille Reserve für eine spätere Ausdehnung der Zubehörindustrie. Der erste Weltkrieg hat diese Entwicklung unterbrochen.
Mein Großvater väterlicherseits war einem solchen Güterschlächter in die Hände gefallen. Bauer in Seiffersdorf, vielleicht fünfzig Kilometer von Neiße, aber zur nächsten Kreisstadt Grottkau gehörig, mit etwa sechzig Morgen Acker. Als Schulze im Dorf hatte er seinem Nachbar einen Gefälligkeitswechsel unterschrieben. Später zur Schuldenzahlung mit herangezogen, ließ er sich auf Hypothekeneintragung und ähnliches nicht ein, was ihn bis ans Ende des Lebens in Schulden gehalten hätte. Lieber ließ er Hof und Haus versteigern, verlor sein Schulzenamt und ging als Arbeiter in die im Dorf ansässige Zuckerfabrik. Ich bin als Kind mehrmals dort gewesen zu Besuch. Er war mit der Großmutter eingemietet bei einem Häusler und betreute die Bewässerungsrinnen für die Wiesen der Fabrik. Von seinen beiden Söhnen hätte er keine Unterstützung angenommen. Eine Tochter war an den Schlächter im Dorf verheiratet, ein halbes Dutzend Enkelkinder; ich wurde bei der Tante untergebracht und mitbetreut. Mit dem Onkel fuhr ich dann über Land Kälber einkaufen.
Ich erinnere mich an den Großvater, der im Dorf der „polnische Josef“ genannt wurde und damals schon über siebzig Jahre alt war, besonders deswegen, weil er einmal im Jahr zu Ostern nach Neiße kam. Wahrscheinlich einem Gelübde folgend, kam er den langen Weg, nachdem er am Abend des Karfreitags in Seiffersdorf aufgebrochen war, oft noch bei Schnee und Eis barfuß nach Neiße, die Stiefel über den Rücken gehängt. Ich war mit meiner Schwester am Eingang der Bechauer Chaussee nach der Stadt aufgestellt, wo wir ihn erwarteten. Er traf in den frühen Nachmittagsstunden des Samstags ein und wurde von uns nach Hause gebracht, wo sich dann die Familie feierlich zum Essen versammelte.
Er beachtete meine Mutter überhaupt nicht, die Mutter kam auch niemals nach Seiffersdorf. Mit dem Vater sprach er gerade das Notwendigste, sonst blieb er einsilbig und abweisend. Warum er nach Neiße kam und den Vater besuchte, weiß ich nicht – wahrscheinlich ist er mit der Uhrmacherei nicht einverstanden gewesen. Wie ich so hörte, sollten die Söhne Lehrer werden; wenigstens einer, aber dazu reichte das Geld nicht mehr. Der Großvater blieb die Tage über im Haus. Er ging nicht auf die Straße und auch nicht in die Kirche.
Er blieb in einem Winkel sitzen und sah meist starr vor sich hin, ein großer starkknochiger Mann, die schwere Joppe bis zum Hals zugeknöpft. So wird er auf der Wiese gestanden sein, das Wasser fließt über die Rinne. Wie das Wasser, so verrinnt die Zeit, die Hoffnungen und Erwartungen eines Lebens. Das Wasser tropft auch auf die gelben Sumpfdotterblumen und vereinzelte Vergissmeinnicht. Gedanken wird er sich darüber nicht gemacht haben.
Trotz alledem – ich bin in der Welt herumgekommen und könnte eine Reihe von Städten aufzählen, für die es sich verlohnen würde, Erinnerungen zu bewahren an Landschaft und Leute und einige Besonderheiten; im Grunde … Neiße gehört nicht zu diesen Städten. Enge Straßen, die konzentrisch zu einem Marktplatz laufen, dem Ring, Promenaden schon mehr an der Außenseite, ein Damm längs des Neiße-Flusses zwischen den beiden Brücken, die Kette der Sudetenberge bei klarer Sicht und nach Osten und Westen hin Flachland, Wiesen und Äcker. Vorgeschoben der Soldatenstadt nach dem Flachland hin ein Netz von Festungswällen, Wallgräben und Redouten, für Spaziergänger freigegeben, aber nicht zum Spielen für die Kinder – dort blühen im März in großen Büschen die weißen und blauen Veilchen und vorher noch die Schneeglöckchen. Dammwege, die in der Richtung zum Flusswehr, Übungsplatz für das Pionier-Bataillon, in eine Art Stadtwald gelangen. Die Biele, die hier in die Neiße mündet, fließt in mehreren Armen durch das Stadtwäldchen und kanalisiert eine Wiese, auf der im Winter Schlittschuh gelaufen wird.
Es gibt in dieser Landschaft nichts besonders Erinnernswertes … außer einer der mit Kiefern bewachsenen Anhöhen im äußeren Festungsgürtel. Der Kieferduft an heißen Sonnentagen, das Gras und die Feldblumen, kleine blaue Falter und Grashüpfer und die Ameisen im Teppich der Kiefernadeln vom Sommer vorher. Ich brachte dorthin das weiße Kaninchen, das ich die Schulferien über behalten durfte. Sobald die Ferien zu Ende waren, wurde das Kaninchen wieder weggegeben.
In Neiße hat es angefangen
Die Erinnerung ist das, was sich abgesetzt und bereits eingefressen hat, die ganzen Jahre über mitgewachsen und eingekerbt, Jahresringe. Vergangenheit allein verliert an Interesse, zumal es sich nicht vermeiden lässt, dass sie zumeist irreführend akzentuiert wird. Das zeigt sich in besonders eindringlicher Form in der Geschichte der Menschen als einer der bekannteren Lebensstufen unter tausend ähnlichen Entwicklungsphasen. Jeder weiß, wie verwirrend das sein kann, denn der Mensch steht nicht an der Spitze der Lebewesen.
Was zählt, ist das, was – wenngleich noch so entfernt – Gegenwart geblieben ist. Was sich in eine neue Gegenwart zurückrufen lässt, bunter und ständigem Wechsel unterworfen. Das was missverstanden worden ist oder überhaupt nicht verstanden. Das was so wehgetan hat und jetzt plötzlich explodiert in einer Hochspannung von Glück. Eine neue Gegenwart, tiefer verwurzelt in der Vorstellungswelt alles Lebenden, die in unser Dasein hinein die Zukunft spiegelt.
Ich meine diese Gegenwart, die ich vielleicht zurückzurufen in der Lage bin.
Es wird noch im ersten Lebensjahr gewesen sein, in dem schmalen Frontzimmer mit dem einen Fenster, allgemein Berliner Zimmer genannt. Längs der rechten Wand war die Krippe aufgestellt, das schmale Bett, das vielleicht schon etwas größer gewesen sein mag als die Krippe, und an der gegenüberliegenden Wand über dem Sofa mit dem Tisch davor, an dem in den späteren Jahren die Mahlzeiten eingenommen wurden … an dieser Wand