Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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nur sehr ungern, nein – überhaupt nicht darüber hinaus. Es mag notwendig sein zu betonen, dass ich darin keine Ausnahme bin und kein Sonderfall; es wird bei allen das gleiche sein.

      Und: sobald ich im Wege gestanden bin, aufgefallen, dass ich nicht genügend beschäftigt war, mich nicht einfügte – wer weiß, was man erwartet haben mag … ich sollte dann einfach auf die Straße gehen, auf den Marktplatz hinaus. Ich bin um den Ring herum gelaufen, jede Runde immer schneller und schneller, eine Runde um die andere, vor einem imaginären Kreis von Zuschauern, den Leuten von Neiße, die noch einmal stolz darauf sein werden, Zuschauer gewesen zu sein – fühlte ich.

      Und: jedes Jahr die großen Überschwemmungen. In den Uferanlagen auf den unteren Promenadenwegen gelbbraune Fluten, allerlei Hausgerät und oft ganze Ställe im Strudel, die Brücken werden nicht halten, das städtische Schwimmbad kracht zusammen, treibt hinaus in die Breite der Neiße, es regnet und regnet. Am Morgen die Enttäuschung, dass es aufhören wird zu regnen, und die tief brennende Glut des Wunsches, dass es niemals aufhören soll – zu regnen.

      Und: das große Feuer im städtischen Schlachthof.

      Die Fackelzüge der Schützengilde. Das feierliche Einholen der Fahrer zum sonntäglichen Radrennen, das Rennen selbst mit den Fahrern tief über die Lenkstange gebeugt in den farbigen Trikots. Das jährliche Kinderfest der Schulen, der Ausmarsch mit den vielen Musikkapellen, und zwischen den marschierenden Kolonnen der älteren Klassen, die Kleinen in stolpernden Haufen und die Hosenmätze, die überhaupt noch nicht in die Schule gehen. Die Mütter marschieren nebenher. Wenn einer von den Kleinsten, eine Fahne in der Hand oder die Stange mit dem Lampion, der abends beim Abmarsch in die Stadt angezündet wurde, einer von diesen stehen blieb und aus der Reihe treten wollte und nicht mehr gewillt schien, weiterzugehen und mitzumarschieren, dann wurde er von der Mutter oder der älteren Schwester wieder in die Reihe geschubst; weiter ging’s.

      Und der jährliche Fleischerball, wenn die jungen Fleischergesellen mit Musik vorneweg im Wagen zu viert durch die Stadt fuhren, mit Fahnen und Bannern.

      Im Berliner Zimmer auf dem Fensterbrett die Bleisoldaten, ganze Armeen in Schlachtordnung, Blockadeflotten auf dem unteren Rahmen des Fensters, wie ich das in der Schule über Salamis gelernt habe und daneben – unentschieden wer siegen und wer besiegt werden wird, beide kommen zurück in die gleiche Schachtel – daneben die Schundromane, die Bettelgräfin und Jack der Bauchaufschlitzer in 101 Heften und die Geheimnisse der Freimaurerei, die mir ein Gehilfe des Vaters zusteckte, dessen Mutter die Kolporteurin war, und mit dem allen eng verbunden die Brote mit Gänsefett und die Schokoladenplätzchen, ohne die man weder Schlachten schlagen noch Bücher lesen kann.

      Wenn ich Drachen steigen ließ, sah ich ganze Luftflotten in Linienordnung über die Dächer der Stadt ziehen, obwohl damals das Gebrauchsflugzeug noch nicht erfunden war. Die Phantasie im Leben des Kindes greift voraus als Teil einer kosmischen Energie, die mit der Zeitenfolge nichts gemeinsam hat und deren Erkenntnis und Bewusstwerdung nachhinkt, oft nur zufällig übereinstimmt, meist aber überhaupt nicht oder erst nach Generationen.

      So habe ich in vielen technischen Abenteuern mich bewegt, ohne die entsprechenden Bücher gelesen zu haben, Wells und Verne und wie solche Leute alle heißen, hätten mich nur in eine langweilige Wirklichkeit zurückgeführt. Beschäftigt hat mich das Prinzip der automatischen Ansammlung von Energie, das heutige Akzelerationsgesetz, auf dem die Atomforschung beruht. Mich beschäftigten nicht so sehr die Folgen, die Zerstörung, sondern der ständige Zuwachs von Energie, die sich im Leben nicht mehr entladen kann und immer weiter und immer schneller sich umsetzen muss. Das gibt Spielraum der vorausahnenden Bildfolge im eigenen Erleben, mit großen Sensationen und einer tiefen inneren Befriedigung.

      Auch die Todesstrahlen waren mir keineswegs unbekannt, die Möglichkeit, durch Konzentration über weite Entfernung das Leben in einem anderen Wesen zu fixieren, aus Umweltsreaktionen zu isolieren und zum Erlöschen zu bringen; den Daumen drauf. Viel hat sich daraus allerdings nicht entwickelt. Die Vorstellung war noch zu schwach, wer in dieser Wirklichkeit ein Fremder und ein Feind ist, und außerdem – gab es damals für mich noch nicht so viele Feinde. Sie sind auch noch nicht so gewaltig in der Überzahl gewesen.

      Es ist kaum noch etwas hinzuzufügen, was sich über den normalen Ablauf der Pubertätsjahre hinausheben würde. Einzelheiten, die vielleicht von einer tieferen Nachwirkung gewesen sind, werden sich als Krisenpunkte im späteren Leben widerspiegeln.

      Die drei Jahre, die ich nach dem Tode der Schwester noch in Neiße zu bleiben genötigt war, sind ein wüster Trümmerhaufen von Erinnerungen, die alle das Eine gemeinsam haben: Panik, allein zu sein, eine zunehmende Unfähigkeit, sich anzupassen und sich ordnungsgemäß zu bewegen, wie ich die anderen sich täglich bewegen sah. Die Verschlossenheit, sich jemandem zu offenbaren, zu jemandem zu sprechen oder selbst angesprochen zu werden. Zu den großen Irrtümern in der Beobachtung ähnlicher Entwicklungen gehört, darin die Wurzeln einer Revolte zu sehen. Ich würde sagen, es ist eher das angeschlagene Tier, das sich verkriecht und das wütend faucht, wenn jemand sich nähert. Um zu helfen? … unter diesem Begriff sind zu viele sich widersprechende Deutungen im Verhalten der Menschen zueinander enthalten.

      Aber von dem abgesehen, ich – der Gekränkte, der Übersehene, hätte den Eltern helfen sollen. Ich weiß, aber ich weiß auch heute noch nicht wie. Die Eltern erwarteten das. Sie werden erst mit Verwunderung und wachsendem Erstaunen, später mit Schmerz und Erbitterung verfolgt haben, wie ich mich zurückzog, mich gegen außen abschirmte, wie ich jede wie immer geartete Verbindung, moralisch und gesellschaftlich, niederriss – unfähig, mich aus dieser inneren Erstarrung zu lösen und unfähig, mich zu erklären. Diese drei letzten Jahre in Neiße waren an der Grenze des Erträglichen. Einen Tag länger noch nach der Abschlussprüfung im Realgymnasium hätte zu einer Explosion geführt, deren Umstände und Folgen sich auszudenken überflüssig ist. Wie eben erwähnt – das Tier, das sich eingekreist fühlt, entdeckt verborgene Kräfte; es geht wild. Nicht mein Trieb zur Gewalt, sondern der Überschwang zum Amok ist hier geboren worden.

      Ich bestand diese Abschlussprüfung mit Ach und Krach. Der Schulrat hatte in seiner Schlussansprache mich nicht für reif erklärt, er sei indessen von dem Lehrerkollegium überstimmt worden; der Vater war in diesen Jahren inzwischen in die Stadtverwaltung gewählt worden und leitete das Schuldezernat.

      Man lernt in solchen Schulen sowieso viel zu viel. Es wäre mir auch schwergefallen, mich für die einzelnen Stunden vorzubereiten. Wenn ich überhaupt Interessen hatte, so waren sie wesentlich anders gelagert. Man versteht dies leider erst sehr viel später.

      Sobald ich mich von Haus freimachen konnte, und das stand völlig in meinem Belieben, ging ich Karten spielen – nicht, dass ich ein besonders eifriger Spieler gewesen wäre, aber es tötet die Zeit. Es wurde jeweils um eine Runde Bier gespielt, sodass ich kräftig mittrinken musste; aber auch an dem Trinken war mir nicht viel gelegen, es gehörte nur dazu. Die Hauptsache wird für mich gewesen sein, dass ich ein Heim hatte, eine Unterkunft, eine Gesellschaft, in die hinein ich wie selbstverständlich gehörte, wo niemand etwas von mir wollte als gerade das, wozu auch die andern gekommen waren – zu spielen und zu trinken. Dabei zuzüglich noch die bittere und zugleich erregende Schwäche … ich sollte gehen … ich komme wieder zu spät … es ist schon lange über die Zeit … das Abendbrot wird schon abgeräumt sein … die Mutter wird verbissen schweigen und mit Blicken strafen … der Vater wird zu einer Versammlung gegangen sein, der häuslichen Atmosphäre zu entfliehen, die sich zusammenballt … ich muss … ich sollte …

      Ähnlich die Sonntagnachmittage, wenn ich die Eltern hätte begleiten sollen, die gewohnten Spaziergänge über die Festungswälle. Am Rande der Stadt gab es ein Kaffeehaus von etwas zweifelhaftem Ruf, wohin die Soldaten ihre Mädchen ausführten, ehe sie zum Tanzen gingen. Ich setzte mich dort fest und beschäftigte mich mit einem Spielautomaten. Die Bälle rollen in verschieden bewertete Löcher. Ich spielte stundenlang, allein; die Kartenspieler waren ihrerseits auch sonntags ins Freie gegangen. Ich habe dort gelernt, dass zum Glücksspiel mehr gehört als nur die Leidenschaft der Chance. Die Angst, plötzlich allein gelassen zu werden, nagelt den Spieler an den Tisch.

      Inzwischen bin ich dann auch eingeführt worden in den Literaturbetrieb durch Max Herrmann-Neiße, der, einige Jahre älter als ich, bereits


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