Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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gleiche Bodensatz, bei allem und jedem: Schlagschatten der Jugend, Nachwehen von Idealen, die in einer früheren Zeit, unter weniger komplizierten gesellschaftlichen Bedingungen, in diesen Jahren geboren wurden – sowieso schon stark verdünnt und gerade noch angelernt, der Träger schon unfähig geworden, aufzustehen, zu kämpfen und Opfer zu bringen, ganz gleich für was und für wen – selbst das Wenige gibt es heute nicht mehr. Den Jüngling, der nach Stifter die Sonne sich an den Hut stecken wollte und die Abendröte umarmen, den gibt es nicht mehr.

      Für mich hätte das schon von Grund aus keine Rolle gespielt. Ich merkte sehr bald, dass ich ausgezogen war, nicht in die Gesellschaft hineinzuwachsen, sondern aus der Gesellschaft entfernt zu werden. Das dauerte zwar noch eine Weile und vollzog sich mit Schwankungen nach oben und unten, aber es fügte sich zu dem Ende Punkt für Punkt; zusammengetragen nur von mir, nicht von draußen und nicht von anderen.

      Mein erstes Auftreten in Leipzig wurde sogleich ein Fehlstart; nahe genug einer Katastrophe. Der Bautzener Onkel hatte mich in eine Pension eingemietet. Am ersten Abend hatte ich mich mit einem um einige Jahre älteren Mitschüler verabredet, der früher von der Schule abgegangen war als ich und in Leipzig in einem Buchhändlerkommissionshaus als Lehrling arbeitete. Name Gerstenberg; sehr literaturbeflissen. Er ist ein paar Jahre später mein erster Verleger geworden, brachte das „Trottelbuch“ heraus. Er hatte wenig Ahnung vom Verlagsgeschäft und verlor sehr bald die kleine Erbschaft, mit der er den Verlag aufmachen konnte, nachdem seine Mutter gestorben war. Er war spezialisiert auf Schulausgaben von Klassikern mit erklärenden Texten, für Lehrer wie für Schüler gesondert, und druckte sogenannte Kladden, Themenbehandlung für Schulaufsätze zu den Klassikern, das Einzige, wofür er Honorar bezahlte; auch ich habe solche Schemaaufsätze geschrieben zu Wilhelm Tell und Maria Stuart, fünfzig Mark pro Band. Gerstenberg ist früh gestorben.

      Mit diesem Gerstenberg ging ich den ersten Abend aus. Ich hatte Geld und zwar das Geld, womit ich meine Einschreibegebühr und die Kollegs in den juristischen Pflichtfächern bezahlen sollte. Kurz – wir landeten in einer Kneipe mit Damenbedienung. Zuletzt spielten wir mit zwei Männern, die die Kellnerin an den Tisch gebracht hatte, Karten – Meine Tante Deine Tante. Sie werden es jetzt schon wissen, ich verlor in kürzester Frist alles bis auf den letzten Pfennig.

      Am nächsten Tage hielt ich mit dem Gerstenberg Kriegsrat. Die Universität selbst war noch nicht offen, aber wir lasen die Anschläge, wonach man sich bei der Musik-Hochschule immatrikulieren konnte, ohne Geld und ohne weitere Gebühren. Allerdings war ein Aufnahmeexamen vorgeschrieben.

      Ich zog noch den gleichen Tag aus der Pension aus, ließ das vorausbezahlte Zimmer im Stich, eine Art Strafe, die ich mir auferlegt hatte, mietete ein Zimmer mit Klavier – das Geld schaffte Gerstenberg herbei, indem er meine Bücher, eine ziemlich umfangreiche Sammlung neuester Literatur, an einen Buchhändler verschleuderte – und ich bereitete mich für das Examen vor. Ich startete von Neuem.

      Es scheint, dass ich vergessen habe, früher zu erwähnen: ich soll sehr musikalisch gewesen sein. Meine Mutter gefiel sich lange Zeit in der Vorstellung, dass sie an der Kasse, am Eingang zu den großen Sälen sitzen würde, wenn das Wunderkind Franz vom Podium aus die Konzertstücke auf dem Klavier vortragen würde. Angefangen hat das bei einem Stiftungsfest des Sängervereins Liedertafel. Ich brachte als Einlage Präludium und Fuge in h-Moll von Johann Sebastian Bach zum Vortrag. Ich bin damals neun Jahre alt gewesen.

      Ich habe das vergessen zu erwähnen, weil es zum gewöhnlichen Tagesablauf gehörte, die Wutanfälle des Vaters, der mich, glaube ich, vom vierten Lebensjahr an unterrichtete, die Übungen, die Finger für die Oktave zu spannen, das Gewicht auf dem Handrücken, um die Hand im Gleichgewicht und ruhig zu halten und ähnlichen Virtuosenkram mehr, von Clementi bis Mozart. Es hat mich nicht gerade interessiert, ich habe aber auch nicht besonders darunter gelitten. Ich kam schließlich, bevor ich noch auf das Realgymnasium ging, zu einem anscheinend erstklassigen Klavierlehrer; der sollte mir erst den richtigen Virtuosendreh beibringen. Vielleicht wäre das sogar gut gegangen; ich spielte alle Stücke nach einmaligem Durchgehen und nur noch gelegentlichem Aufholen sofort auswendig. Wahrscheinlich wird es mir genügt haben, dass ich wusste, die Noten waren da – ich hätte, wenn nötig, nur hinzusehen brauchen.

      Ich sah nicht hin oder nur sehr selten. Der Mutter fiel das auf. Da stimmte etwas nicht, und sie ärgerte sich darüber, je öfter ihr das auffiel. Kopfschüttelnd: der Junge folgt doch nicht, der sieht wieder nicht auf die Noten – und zu dem Vater gewendet: siehst du denn nicht, der Junge hat die Augen ganz woanders? Er sieht nicht auf die Noten … dies konnte sich in einer Spirale, jeweils einen Ton zwingender immer wiederholen, bis der Vater etwas zögernd zwar eingriff und von sich aus etwas sagte …

      Allmählich brachte dies die Krise zum Reifen. Ich hörte auf, Klavier zu spielen, jeden Tag weniger, die Schularbeiten – konnte angeführt werden – verlangen mehr Zeit, und ich fing an, die Violine zu lernen, in fest bestimmten Stunden und außerhalb des Hauses.

      Wenn es interessiert – es gab sogar eine kurze Zeit, wo mir das Klavier Spaß gemacht hat. Das war – ich spielte zur Erholung Walzer –, als ich von dem Vater für einen durchkomponierten Walzer mit mindestens drei verschiedenen Themen fünfzig Pfennig bekam. Ich komponierte nach dem Vorbild der Dynastie Strauß sehr schnell und dann in solcher Menge, dass man sich schließlich nach einigen Wochen gezwungen sah, das Angebot zurückzuziehen.

      Mit der Violine ging es etwas anders. Ich lernte bei einem alten gediegenen Militärmusiker, der jeden Ton feilte, während er Karl-May-Bücher las, die ich ihm mitzubringen hatte, und der auch nicht einen halben Ton abrutschen ließ. Ich lernte bei dem Mann sehr schnell, zu schnell, sodass ich bald alles Interesse verlor. Es gehörte zu einer festen Norm, wie Schularbeiten, Violinstunde und der Spaziergang mit den Eltern.

      Das änderte sich, als der Vater, der mich für das Klavier verloren hatte, auf den Ausweg verfallen war, im Hause Quartett-Abende zu veranstalten. Irgendwelche musikbeflissenen Leute aus der Stadt spielten Bratsche und Cello. Der Vater oder mein früherer Klavierlehrer spielten Klavier, und die beiden Geigenstimmen hatten der Militärmusiker und ich. Damals war ich schon sehr selbstbewusst geworden. Mit dem Part der ersten Geige und den brillierenden Solopartien kümmerte ich mich wenig darum, dass die Mutter kritisierte und mäkelte, ich stünde zu nahe am Pult, ich halte die Schulter schief oder lasse sie hängen – wahrscheinlich sollte ich dadurch veranlasst werden, Augengläser zu tragen; was auch durchaus angebracht gewesen wäre.

      Ich war schon wieder auf dem Wege zum Virtuosen, zu Sarasate und Tartini und den Teufelstrillern. Wie es mit diesen Quartetten weitergegangen wäre, weiß ich heute nicht. Sicherlich wäre es zu einer Explosion gekommen, denn diese abendlichen Quartette, obwohl ich dabei behandelt wurde wie ein rohes Ei, nahmen einfach zu viel von meiner Zeit weg. Ich hätte zwar nicht direkt gewusst, was sonst zu tun – sie standen mir aber im Wege. In dem Jahr, als der Tod die große Unruhe in unser Haus brachte, hörten die Quartette von selbst auf; zugleich auch meine Violinstunden.

      Seltsamerweise habe ich von diesen Quartetten, die sozusagen die ganze Skala klassischer Musikliteratur umfassten, und von den Violinkonzerten der Mozart, Beethoven, Bruch und Genossen nichts behalten. Ich strich sie mit einer zunehmenden Fertigkeit hin und her, von der Pizzicato-Kadenz bis zur Viola-Stimme auf der G-Saite; aber das war auch alles.

      Heute sehe ich: Ich hasse diese klassische Musik, ich hasse Musik überhaupt. In dieser Gesellschaftsform ist so vieles ausschließlich auf Musik gestellt, der Tod und die Geburt, die Moral und der Versuch, dieser Moral Widerstand zu leisten – alles ist eingewickelt in Musik; die Prügel, die Wehlaute, alles, was schreit und nicht mehr aufstehen wird und selbst bis zuletzt die Hinrichtung, sei es im Marschtempo, in der Ballade oder den langgezogenen Wellentönen bei Wagner. Ein einfaches Geräusch ist mir lieber – solange nicht jemand kommt und es in Musik setzt; leider ist das zu oft der Fall.

      Ich bin gezwungen, zuzuhören und stille zu sein. Ich bin schwach, zu schwach, gegen diesen von der Gesellschaft ausgehenden Druck etwas auszurichten. Für mich liegt der Betrug in der biologischen Fehlleistung, die als Musik bezeichnet wird, darin, dass sie als notwendig erkannt wird, die Leere, die Langeweile, den Überdruss auszufüllen und, wenn notwendig, innerhalb der Gesellschaft niederzuhalten, weil ohne dieses die Gesellschaft explodieren würde … Würde sie? Warum nicht?

      Verwechseln


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