Der Weg nach unten. Franz Jung
alles nicht erklären können, denn ich hatte Geld genug, wie es sich gehört, in den Herbergen zu übernachten und mich satt zu essen. Ich habe kaum darüber nachgedacht, keine Probleme gewälzt, keine Phantasieschlösser gebaut. Um die Heinzelmännchen habe ich mich nicht gekümmert und bin sicherlich an den Feen des Waldes achtlos vorübergegangen. Ich bin allein mit mir gewesen, ich hätte nichts zu sagen gehabt, und niemand hat mit mir gesprochen. Es war herrlich. Es war eine gute Zeit, war es die beste meines Lebens? … besonders, wenn oben auf dem Kamm die Nebelschwaden mich eingeholt hatten. So wird es noch einmal sein. So wird es dann sein … der Onkel ist vergessen, und ich weiß noch kaum etwas von ihm. Aber damals ist er mit mir gewandert, ich weiß das jetzt, und ich weiß auch, dass er wieder bei mir sein wird, in der Nähe, wenn die Zeit reif ist.
Ich habe keine derart gleichbleibende Erinnerungen an die Eltern zurückbehalten, zwar eine Fülle von Einzelheiten, manche davon schwerwiegend genug, dass es mir manchmal den Atem verschlägt, aber in Wirklichkeit lösen sie sich wieder auf. Ich habe die Eltern nicht verstanden.
Im Verhältnis zu heranwachsenden Kindern wirkt sich das verschieden aus. Meine um zehn Jahre ältere Schwester, die im gleichen Jahr wie der Onkel einige Monate später gestorben ist, hat es erfahren müssen. Ich war damals schon erwachsen genug für eine allerdings noch reichlich unbeteiligte Beobachtung.
Für die Eltern ist das Kind Teil der Familie, es gehört zum lebensumspannenden Haushalt, ein Stück, das man hier und da hinstellen kann und entsprechend dirigieren, worunter man zum größten Teil die Erziehung versteht; selbstverständlich nur zum Besten, zum Schutz des Kindes, zur besseren Vorbereitung für das spätere Leben. Ich sage das hier durchaus ohne jede Spitze und ohne jede Spur von Ironie. Dass ein Kind darunter leidet, dass es ständig gefoltert und bis in die Wurzeln der Lebensentfaltung getroffen und gestört wird, und dass schließlich das Kind in der Schwäche, die dem Unverstandensein folgt, in der Kälte und Verlogenheit der gesellschaftlichen Bindungen ringsum und in der Not der Verzweiflung, nicht länger selbst zu sein, in den Schoß der Familie flieht, den Kopf wieder an die Brust der Mutter legt … dass es sich ein Leben lang dann für die Schwäche rächen wird und an allem, was die Familie später ersetzen soll … das ist so. Ich habe es noch verhältnismäßig unberührt und nur wenig beteiligt miterlebt. Die Katastrophe rollte für mich ab wie ein gestelltes Schauspiel.
Die Schwester, bevor sie starb, hat unter diesem Einfluss der Eltern sehr gelitten. Es wäre zu einer Explosion gekommen, eine Erwartung, die mich überhaupt erst darauf aufmerksam machte, wäre die Schwester nicht plötzlich erkrankt. Ich weiß heute noch nicht, worin ihre Krankheit bestanden hat, die Symptome wechselten mit den Ärzten, die der Reihe nach hinzugezogen wurden. Sie starb im Alter von dreiundzwanzig Jahren, bis dahin blühend wie das Leben. Wenn damals noch irgendwelche Konfliktstoffe vorhanden gewesen sind, so hatten die Eltern schon vorher nachgegeben. Die verschiedenen Freier, die jeweils abgewiesen worden waren, standen jetzt bereit zur Auswahl. Die Schwester hätte sich einen aussuchen können, und die Verlobung wäre bekanntgegeben worden. Aber die Schwester hatte bereits vorgezogen zu sterben.
Ich konnte das alles beobachten: Die letzten Wochen vor dem Tode wichen die Eltern nicht mehr aus dem Krankenzimmer. Die Schwester hielt sie dort fest. Der Vater, mit dem sonst kaum eine tiefere Bindung bestanden zu haben schien, war der Bevorzugtere. Aber auch die Mutter, die von einem Tage zu dem anderen weniger sprach und mit zusammengebissenen Zähnen am Fußrande des Bettes saß, wurde mit zärtlichen Gesten bedacht, gestreichelt und zu vertraulicher Zwiesprache ermuntert – ich konnte das alles etwas verwundert von einer Ecke des Zimmers aus beobachten, in das ich von Zeit zu Zeit gerufen wurde; das Idealbild einer Familie, die Gott zusammengeführt hat und die er schließlich auch weiterhin zusammenhalten will.
Es ist notwendig, hier zu sagen: es war ein aufregendes Erlebnis für mich, dass die Schwester aus dem Hause kommen würde, so oder so, verheiratet oder tot. Als die Schwester dann starb – starb die Mutter mit, wenn ich das so ausdrücken darf. Die Mutter, die ich so oft erlebt hatte – kritisierend, mäkelnd, verbietend und im Schutz des Vaters intrigierend … die es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, wenn sie die Schwester ins Unrecht setzen konnte. Noch heute steht mir diese Tragödie vor Augen.
Der Schmerz der Mutter hatte kaum mehr die sonst bekannten Züge menschlichen Leids, es lag darin etwas so Gewaltsames, etwas nach außen so Zwingendes, dass darunter alles weitere Leben in diesem Hause erstickte. War das nur eine Art von Schuldgefühl? Ich glaube nicht; aber mehr und etwas anderes weiß ich auch nicht.
Und doch ging der Alltag weiter. Die Mutter hatte sich aus den Trümmern ein Kartenhaus zusammengerichtet, in dem sie sich nach einer bestimmten und sehr begrenzten Ordnung bewegte, ein Tag genau wie der andere; wenig Leute, mit denen sie sprach und mit denen sie über die Straße ging.
Der Vater stand behutsam und helfend zur Seite. Ich gehörte zwar noch hinzu, aber ich zählte in Wirklichkeit schon nicht mehr. Ich stand im Wege. Mit mir konnte man sich nicht beschäftigen, dazu hätte die seelische Kraft nicht ausgereicht. Mir war auch plötzlich die Möglichkeit entzogen, Widerstand zu leisten, zu widersprechen, mich vor mir selbst zu beweisen, aufzuwachsen – wenn es das ist, das den Jungen ins Leben eingleiten lässt. Genau genommen hatte ich auch schon früher nichts getan, was meine Ausschließung gerechtfertigt hätte – jetzt aber wurde ich der Schuldige.
Die Tragödie dieses Jahres traf mich mitten im Entwicklungsprozess des Bewusstwerdens von Charakter und Persönlichkeit; ich war damals vierzehn Jahre alt.
Bin ich auch schon früher im Wege gestanden?
Freunde der Eltern und gleichaltrige Verwandte, die mir die Ehre gegeben haben, auch später noch gelegentlich Verbindungen zu halten, haben mich überzeugt, dass dem nicht so gewesen sein kann. Schon von den frühesten Jahren an soll ich abweisend gewesen sein, scheu gegen Zärtlichkeiten und, wie die Mutter sich zu beklagen pflegte, mit einem bösen Gesicht. Ich weiß nur so viel, dass ich ständig abgeschoben wurde, beiseite gestellt. Dabei empfand ich die Vorwürfe, die Ermahnungen und gelegentlichen Bestrafungen nicht einmal besonders schwer, mehr allerdings, wenn ich das Gefühl hatte, dass dies zu Unrecht geschah, und das schien recht oft der Fall.
Die Schwerpunkte sind nur angedeutet. Was noch im Laufe der Jahrzehnte sich davon niederschlägt, das ist nicht mehr lebendig genug, um die Gegenwart zu erklären. Als in den persönlichen Wirren des ersten Krieges mein eigener Sohn von seiner Mutter bei den Eltern abgesetzt wurde, haben die Eltern alle bisher unfruchtbar gebliebene und unterdrückte Liebe auf dieses Kind übertragen. Die Mutter ist dabei gewillt gewesen, mich ohne Weiteres aufzuopfern – vielleicht war das die einzig mögliche und gerechte Lösung, das Kind zu halten. Fast ein Jahrzehnt ist über diesem Kampf, bei dem keine Mittel gescheut wurden, vorübergegangen. Ich habe gegen besseres Wissen für das Recht einer Mutter auf das eigene Kind gekämpft, obwohl mir bewusst war, dass es bei der Unausgeglichenheit der Mutter, die selbst mit ihrem eigenen Leben nicht fertig werden konnte, zugrunde gehen würde; seine besseren Chancen lagen, die äußeren Verhältnisse nüchtern gesehen, bei den Eltern. Ich wurde, was nicht zu verwundern ist, von der Frau, für die ich mich eingesetzt hatte, im Stich gelassen. Der Junge blieb schließlich bei meinen Eltern und hat mir für diesen Kompromiss keineswegs gedankt – er hasst seine Mutter, ist auch von mir abgerückt und sieht in mir den Fremden, der lästig werden kann, was verständlich ist.
Die Erinnerung an diesen Kampf mit meiner Mutter, der zum Teil über die Gerichte ausgetragen werden musste, lässt eine Zeit wiedererstehen voller Scham und Schrecken. Ich glaube, ich hätte selbst einen Teil dieser fanatischen Liebe für das Kind, auf mich bezogen und verstanden, selbst sehr nötig gehabt. Ich will mich nicht beklagen, aber vieles hätte damals noch geändert werden, das ist: mir erspart bleiben können.
Immerhin ist dies in den Kinderjahren nicht das Entscheidende, was in die Gegenwart gehoben wird. Aus all dem Unrecht, dem Fremdsein und dem Sich-Selbst-Überlassen-Bleiben schält sich trotzdem ein Lebensgefühl heraus, bleibt für sich alleinstehend erhalten, für das wir in unserer armseligen Sprache das Wort Glück zu gebrauchen gewohnt sind. In Kummer, Herzeleid und Unverstandensein schwingt oft die Schaukel nach oben zu jubelnder Freude, die sich einmal entladen wird, wenn die Zeit dazu da ist.
Die Zeit sollte stille stehen.
Die Jahre gehen vorüber