Der Weg nach unten. Franz Jung
Zusammenbruch dieser Erwartung. Im Beinahe – möchte man sagen. Der Rhythmus ist das Leben selbst, sicherlich mehr als das physische Leben … wächst und weitet sich und zieht sich zusammen, konzentriert sich auf den Atem … ein und aus, tiefer ein und schneller aus.
Und weiter: Ja, ich habe mich auf die Aufnahmeprüfung in der Musikhochschule vorbereitet. Den Eltern hätte ich keine größere Freude bereiten können, als auf das Musikstudium umzuschwenken. Der Gerstenberg besorgte mir aus einer Leihbücherei Klavierauszüge. Ich hatte mit drei Spielopern zur Auswahl anzutreten, geeigneter Konzertmusik und einigen Schaustücken. Ich paukte auf dem Klavier in diesen April-Wochen 1907 in Leipzig von morgens bis abends – ich hatte in den letzten drei, vier Jahren keine Taste mehr angerührt, manchmal brachte mir der Freund etwas zu essen, manchmal aber hatte er auch selber nichts.
So ging ich schließlich in die Prüfung, spielte Teile von „Maurer und Schlosser“, ferner mächtig rauschenden Klingklang von Schumann und irgendeine Ecke von Brahms, die Umsetzung eines Themas in verschiedenen Schlüsseln und hatte noch ein Thema in die Form einer Fuge zu bringen – die beiden Prüfungen im Transponieren gingen so gerade schlecht und recht, in den ersten Übungen kam ich glatt durch. Immerhin wurde mir sogleich für das erste Semester ein Pflichtkurs bei Max Reger in Kontrapunkt auferlegt. Als Blasinstrument wählte ich die B-Klarinette, obwohl ich kaum eine Aussicht sah, mir das Instrument anzuschaffen, das jeder selbst mitzubringen hatte.
Den Eltern waren die veränderten Umstände noch nicht bekannt. Ich benutzte den Wechsel nur insoweit, als ich über den Bautzener Onkel Geld für einige zusätzliche Ausgaben anforderte, etwaige Kurse in der Musik-Hochschule betreffend, wovon ich die Immatrikulation an der Universität schließlich bezahlen konnte.
Inzwischen verkaufte ich meine sämtlichen wohlsortierten Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe und den Zylinderhut, den damals die Abiturienten am Tage des bestandenen Examens als eine Art Uniform zu tragen pflegten. Ich besaß gerade nur noch das Allernotwendigste, um auf die Straße gehen zu können.
Ich zog in eine Vorstadt um, hatte einen Fußweg von etwa einer Stunde zum Thomasring oder Augustusplatz im Zentrum der Stadt. Ich war völlig ohne Mittel und im Grunde auch ohne ernstliche Aussichten für das eine oder andere Studium. An der Universität konnte ich nur einige Freikurse belegen, Literatur bei Witkowski, Musikgeschichte bei Riemann.
Ich erwähne diese Einzelheiten, weil ich in Wirklichkeit sehr zufrieden und ausgeglichen in dieser Zeit gewesen bin. Ich habe diese innere Ausgeglichenheit trotz aller der damit verbundenen Mängel nie mehr wieder gefunden. Ich hatte kaum Freunde und nur einige Zufallsbekanntschaften. Es schien, dass ich imstande sein würde, alles, was ich in den Schuljahren an aufbauender Lebensenergie versäumt hatte, jetzt nachzuholen. Wenn es erlaubt ist, von einem jungen Menschen zu sagen: ich richtete mich wieder hoch, ich blühte auf.
Mit der Musikhochschule hatte es ein schnelles Ende. Es machte mir nichts, inzwischen innerlich viel sicherer geworden. Ich war nur einmal mit zirka vierzehn anderen Schülern im Reger-Kurs. Der Meister behandelte uns nicht nur wie Idioten, hergelaufene Strolche und noch nicht entwöhnte Müttersöhnchen, für die der Staat Geld zahlt, dass sie ihm, dem Meister, die Zeit stehlen – offensichtlich war Reger, was auch viele andere bestätigen werden, bei solchen Gelegenheiten stark unter Alkohol –, sondern er erklärte auch frei weg, dass er keinen von uns den Kurs passieren lassen werde – dies sähe er schon an unserem ganzen Auftreten. Er nahm die ersten drei vor mit einer Themenführung und sagte jedem Einzelnen schon nach wenigen Minuten, dass er sich nicht mehr mit ihm beschäftigen würde. Er habe zwar nicht das Recht, ihm zu verbieten, das Studio zu betreten, aber für ihn sei er künftighin Luft und von der Liste gestrichen. Ich wäre an einer der nächsten Stunden drangekommen und gab schon vorher auf. Im Augenblick erschien es mir sinnlos, dagegen anzukämpfen.
Auf diese Weise verkürzte Reger die Zahl seiner Pflichtstunden im Semester um mehr als die Hälfte. Ich war nicht einmal besonders enttäuscht. Die beiden Klavierkurse waren überflüssig geworden – ohne den Reger-Kurs wäre ich das Semester nicht weitergekommen.
Wenn folgenschwere Entscheidungen zu treffen sind, wählt derjenige, der völlig auf sich allein gestellt ist und niemanden hat, mit dem er darüber sprechen oder streiten kann, mit Sicherheit das Falsche. Er weiß es meist schon vorher, aber bestimmt gleich nachher, was er vielleicht noch hätte ändern können.
So war es auch bei mir, als ich mich entschlossen hatte, das juristische Studium wieder aufzunehmen, obwohl mir die Vorlesungen, die ich besuchte, nicht angerechnet wurden. Das wird später noch nachzuholen sein … ich saß mit ein paar Gleichaltrigen, die ebenso unentschieden waren wie ich, im Café Minerva am Thomasring. Wir diskutierten ohne Thema und ohne Ziel darauf los und in die Luft; nach all den Aufregungen der letzten Jahre ein wohltuendes Nichts. Und offensichtlich – ich war ruhiger, und ich schien reifer geworden zu sein. Geld hatten wir alle nicht und auch keine Lust zu besonderen Ausgaben. Einmal in der Woche ging ich in das Speiselokal „Zum weißen Hirsch“ zum Mittagessen. Ich habe lange Zeit die Löffel von dort aufbewahrt als Andenken, auf denen eingraviert war „Gestohlen im Weißen Hirsch“.
Was fehlte, waren die Menschen, die Freunde, die Kameraden, die wirklich Gleichgesinnten, vielleicht auch die Mädchen, obwohl ich kein Interesse hatte, denen hinterherzusehen oder sie gar anzusprechen. Die Leute um den Caféhaustisch waren mir im Grunde fremd; sie blieben schemenhaft, Figuren, mit denen man über den Kooperationsstaat diskutieren konnte – das gab es damals schon, Lenkung der Wirtschaft nach Säulen der Berufe durch eine obere Spitze als die politische Regierungsform, für uns damals noch ein Affront gegen Schmoller, dessen Vorlesungen wir alle besuchten –, aber eben nicht mehr, und dann der abendliche Fußmarsch nach Leutzsch … warte deine Zeit ab und alles wird werden. Zu der Tasse Kaffee wurde sehr viel Wasser getrunken, und es reichte sehr selten zu einem Stück Kuchen, das heißt, das knappe Geld war genau auf den Pfennig eingeteilt.
Hätte es so bleiben sollen? – ich machte einige schüchterne Versuche, den Leuten etwas näher zu kommen, der eine von dieser Tischrunde ist Rechtsanwalt in Apenrode geworden und hat in der dänischen Politik lange eine Rolle gespielt. Ich habe ihm eines Tages in einer unverständlichen und völlig überflüssigen Laune Gottfried Kellers Gesammelte Werke geschenkt, von dem Gerstenberg mir besorgt, auf Abzahlung bei seiner Firma; nichts ist weiter daraus entstanden; ich habe allerdings auch später die Bücher nicht bezahlt. Der andere ist Pastor geworden an der Kirche in Naumburg, wo sein Vater als Küster angestellt gewesen ist. Ich habe den Vater auch kennengelernt, damals, als plötzlich dieses Idyll in Leipzig durch eine kleine Bombe zerstört worden war, damals, als ich es dann in Leipzig nicht mehr aushalten konnte und wer weiß wohin ausgerissen wäre, hätte mich nicht dieser Bekannte an die Hand genommen und nach Naumburg zu Besuch über das Wochenende zu seinem Vater gebracht, der an einer der Kirchen dort Küster war, Chordiener und die Orgel spielte.
Der Blitz kam aus heiterem Himmel. In einer der von der Freien Studentenschaft veranstalteten Massenversammlungen hielt der Graf v. Hoensbroech, ehemaliger Jesuitenzögling, die übliche Brandrede gegen das Papsttum. Schließlich ging mich das alles nichts an. Ich besuchte solche Veranstaltungen der Freien Studentenschaft genau gesagt aus Langeweile und aus dem Bedürfnis nach Abwechslung. Ich hörte den Grafen vor dieser Massenversammlung von vielleicht zwei- bis dreitausend Studenten gegen den Papst losdonnern. Weder die Lautstärke noch die Argumente zündeten, obwohl sicherlich alle die Anwesenden dem Grafen zugestimmt haben. Es sprachen in der folgenden Diskussion noch ein paar ältere Studenten und hieben in die gleiche Kerbe, nur noch dümmer und, wenn möglich, noch aufgeblasener.
Auch ich hatte mich zu Wort gemeldet. Die Stimmung war noch flauer geworden, lustlos zum Gähnen. Ich wusste im Grunde nicht, was ich sagen wollte – wahrscheinlich stimmte ich mit dem Grafen überein, aber das spielte jetzt keine Rolle. Technisch – schien es – hatte ich den Grafen anzugreifen. Ich musste ein grobes Geschütz auffahren, und ich legte los.
Aus dem katholischen Religionsunterricht und der allgemeinen Atmosphäre des heimatlichen Katholizismus war bei mir nicht mehr viel übrig geblieben; umso gröber konnte ich loslegen … wozu erst Argumente, lass das Herz sprechen.
Ich hatte großen Erfolg. Die Versammlung wurde aufgeregt. Neue Wortmeldungen, alle zwar gegen mich, aber mit Ehrenbezeugungsfloskeln. Die ehrbaren