Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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darauf einstellen, bei vielen sogar für ein ganzes Leben voller Licht und voller Schatten, es geht eben; nicht, dass man nur sagen würde, es muss eben gehen.

      Zwischendurch entstehen die Spannungen, Stockungen im Kreislauf der beiderseitigen Beziehungen zueinander, wenn nicht rechtzeitig vorausgefühlt und unvorbereitet oft – Explosionen bis zur Kettenwirkung dieser Explosionen, zu wilder Abneigung und tierischem Hass. Das ist eben so. Die Schriftsteller machen viel zu viel Wesens davon und vor allem viel zu viel Worte.

      Jeder Einzelne hat es in der Hand, eine solche Entwicklung abzufangen, zu mildern und es nicht erst zu einer Explosion kommen zu lassen. Das Verständnis hierfür, das gegenseitige Verständnis, die Brücke, die sich so allmählich bildet … das ist, was die Literatur und die geistigen Disziplinen unter Liebe verstehen oder, genauer gesagt, mit Liebe zudecken.

      Mit Margot war es anders. Ich sah es sich entwickeln, ich sah das Gewitter heraufziehen, ich verfolgte es mit wachsender Spannung und wusste, die Entladung wird folgen … ich habe sie nicht gerade provoziert, aber auch nicht verhindert. Ich kann nur von mir aus sprechen; wie es auf der anderen Seite ausgesehen hat, weiß ich nicht. Die Entladung kam mit Naturgewalt, der Wille zur Zerstörung, die Lust, auch noch das Letzte in der Bindung auszulöschen, zu zertreten … bei mir war der Höhepunkt der Spannung dann schon vorbei, ich war längst wieder passiv. Und – niemand braucht mir das zu glauben, ich habe darunter entsetzlich gelitten. Dieser wühlende Schmerz ging so tief, dass er mir manchmal den Atem verschlagen hat. An solchen Sonntagen und freien Tagen von der Redaktion, wenn jeder von uns verschiedene Wege ging, ungewiss, ob der eine überhaupt zurückkehren würde, in solchen Stunden und auch Tagen hat sich vieles an Verkrampfung gelöst.

      Ich habe erst viel später manchmal geweint, in persönlicher Auswegslosigkeit befangen und unfähig, Unrecht zu ertragen – weit entfernt davon, dass ich mich geniert hätte. Ich habe in diesem Jahr an solchen Tagen nicht gerade geweint, die Tränen mögen nach innen gesickert sein und haben dort Narben hinterlassen, die – würde ich sie heute bloßlegen – noch immer schmerzen. Ich weiß seit dieser Zeit, was es heißt, allein zu sein.

      Die Bindung der Geschlechter scheint beim Menschenwesen biologisch darauf gegründet, dass die Partner jeweils von der Lebensenergie des anderen zehren, Stück für Stück aufsaugen und auffressen. Zuletzt – der Dauerhaftere, angefüllt mit der Erinnerungskraft an den anderen, frisst sich selber auf. Dies eben tut – allen Berufswissenschaftlern zum Trotz – weh; es tut sehr weh, wenn der Einzelne einsam wird. Die Panik, allein zu sein – niemand kann dem entgehen, und im Grunde hat auch niemand die Absicht, dem zu entgehen und den zyklischen Ablauf dieses Parasitären ändern oder verbessern zu wollen. Es wird später notwendig sein, diese Beobachtung auf das gesellschaftliche Zusammenleben allgemein zu erweitern.

      Grabisch hatte sich die Idee in den Kopf gesetzt, Margot und ich sollten heiraten. Wir heirateten. Grabisch brachte noch einen zweiten Zeugen. An dem Termin, an dem wir vor dem Standesamt erscheinen sollten, war ich so stark betrunken, dass sich die Zeugen weigerten, mit mir aufzutreten. Die Zeremonie musste einige Wochen auf einen neuen Termin verschoben werden. An diesem Tage hatten wir alle zusammen so wenig Geld, dass wir nicht, wie vorgesehen, in eine Kneipe für den feierlichen Umtrunk gehen konnten.

      Ich war bereits wieder arg in Schulden, wenngleich diesmal vorsorglich geordneten. Wir hatten eine Neubauwohnung im Hansa-Viertel, Hinterhaus, gemietet. Ich bezog die Einrichtung mit allem Drum und Dran auf Kredit mit Hilfe der Garantie der Firma. Die Firma schrieb sogar an meinen Vater, um ihn zu veranlassen, die Verbindung zu mir wieder herzustellen.

      Ich hatte zu dieser Zeit schon meinen eigenen Tisch im Pressezimmer der Börse. Ich war nicht nur ein Informationszentrum für die Handelsredakteure und Korrespondenten, sondern auch für Makler, die mich mit einem sicheren Tipp mit einsteigen ließen. Das hätte sich groß entwickeln können …

      Ich hatte bereits Angebote von großen Tageszeitungen, nach Hamburg, nach Essen …

      Ahrends & Mossner wollten mich gegen eine geringe Beteiligung in das Verlagsgeschäft ihrer Börsenhandbücher bringen, um mich irgendwie enger an die Firma zu binden. Der Vater sollte die Beteiligung vorschießen …

      Ich führte bereits das Leben eines avancierten Verlagsangestellten, eines Redakteurs, eines zukünftigen Börsenmannes; noch ein paar Jahre und …

      Ein Sohn wurde in die Ehe geboren.

      Manchmal kam ich abends nicht zur Zeit nach Hause, das Abendessen wurde kalt. Ich war in einer Wettgemeinschaft mit den Setzern der Verlagsdruckerei, wir wetteten in französischen Rennen auf Pferde, die wir meist dem Namen nach nicht einmal kannten. Ein Experte, der Faktor in der Druckerei, besorgte das für uns. Wir gewannen und verloren. Manchmal gewannen wir etwas mehr, und das wurde in einer Kneipe am Bahnhof Börse gefeiert; dort trafen wir uns auch sonst abends auf ein Glas. Es kam nicht oft vor, aber es kam vor, dass ich dann abends spät zu Hause erschien.

      An einem solchen Abend, wir saßen im Nebenzimmer der Kneipe um einen runden Tisch, gesprächig, laut und lärmend und auch sonst guter Dinge, da stand plötzlich Margot in der Tür, hochrotes Gesicht, wie eine Furie anzusehen.

      Sie kam durch die lähmend gewordene Stille auf mich zu und schlug mir die Hand ins Gesicht, rechts und links.

       Mit Ohrfeigen in die Literatur

      Ich hatte bisher kaum Anstrengungen gemacht, mein ursprüngliches Interesse für die schöngeistige Literatur in eigene schriftstellerische Versuche umzusetzen. Zudem war seit meinem Weggang aus Leipzig dieses Interesse für Gedrucktes im Allgemeinen stark geschwunden. Ich las nur noch die Geschäftsberichte von Gesellschaften, deren Aktien an der Börse gehandelt wurden.

      Es steht mir allerdings heute klarer in der Erinnerung, dass ich noch auf der Schule nach der Lektüre von Dostojewskis „Idiot“ sogleich begonnen hatte mit den Aufzeichnungen eines Idioten, im Thema zwar wesentlich verändert – ich selbst war, versteht sich, der Idiot, der im Garten eines Spitals herumwandelt und sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen hat … zuvor hatte ich meine Mutter umgebracht. Eine ganze Weile sind diese Blätter von mir aufbewahrt worden. Ich glaube aber nicht, dass ich sie jemandem gezeigt habe; später sind sie verlorengegangen.

      Ich schrieb damals in großer Erregung und innerer Anteilnahme und habe eine große Menge Schokolade dabei gegessen.

      In gleicher Weise, wenn ich das hier bereits sagen darf, habe ich später auch geschrieben, explosiv und explodierend, eingeengt und zerdrückt von einer dynamischen Vorstellungswelt, gegen die ich mich wehre, ohne sie aufgeben zu können und vielleicht auch, ohne dies zu wollen.

      Nach dieser kleinen Abschweifung: Ich bin an diesem Abend aus der Kneipe nicht nach Hause gegangen. Margot ist wieder aus der Kneipe hinaus und auf die Straße, nachdem sie mich geohrfeigt hatte – ob sie draußen auf mich gewartet hat, ob sie davongelaufen ist aus Angst, ich könnte ihr folgen, oder ob sie mich überhaupt nicht mehr sehen wollte, das weiß ich nicht.

      Ich selbst bin bei dem überstürzten Aufbruch der anderen zunächst sitzen geblieben – und werde daran gedacht haben, ins Wasser zu gehen. Warum? – das wird seltsam genug sein zu beantworten; ich selbst könnte es nicht. Ob mir die Welt fremd geworden, die Leute, die Kollegen, die Setzer und was sonst noch zugelaufen war – so etwas wird diesen ganz alltäglich erschienen sein … die Männer, die sich vertraulich am Biertisch unterhalten, erzählen sich in den Untertönen gegenseitig immer dasselbe: wie oft sie von ihren Frauen buchstäblich oder symbolisch geohrfeigt werden.

      Es wird nur dieses kleinen Anstoßes bedurft haben: Ich fühlte mich außerordentlich überflüssig, stehe mir – erschreckend zu wissen – im Wege, unerträglich … besser zu verschwinden und ins Wasser zu gehen … wohin hätte ich sonst gehen sollen?

      Irgendjemand aus der Druckerei hat sich mir angeschlossen, draußen auf mich gewartet und ist neben mir hergegangen. Viel wird nicht gesprochen worden sein, wir sind noch in eine Reihe anderer Kneipen gegangen, bis in die Frühe hinein. Und ich bin dann tatsächlich in eine Badeanstalt gegangen, die gerade geöffnet wurde, und habe mich ins Wasser gelegt; aber ertrunken bin ich nicht.


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