Der Weg nach unten. Franz Jung
früher ein gemeinsames Bindeglied vorhanden gewesen sein, das die Schwabinger zusammenhielt und zu der Charakteristik als Schwabinger Boheme geführt hatte – die Herausforderung gegen das Althergebrachte, gegen die bürgerliche Tradition, der Elan des „épatez le bourgeois“, der von Paris übernommen worden war. In dieser Bürgerschreck-Atmosphäre muss eine tiefere Sinngebung vorgewaltet haben, als ich sie damals noch in Schwabing angetroffen habe. Eine gewisse Nachwirkung war zurückgeblieben, vereinzelt und beinahe schon wieder außerhalb der Zeit … die Arrivierten, deren Bilder schon wieder gekauft wurden, anzupumpen und darauf zu achten, dem Hauswirt die fällige Monatsmiete schuldig zu bleiben; mehr nicht.
Die neue Sezession, die sich aus einzelnen Gruppen zusammengefunden hatte, war bereits im Verfall. Ihre Parallele der Literatur hatte es noch nicht zu Profil und Eigenart gebracht. Was von den Malern übrig geblieben war, schon völlig außerhalb der ursprünglichen Boheme, leitete bereits den Expressionismus ein, die provozierend unabhängige Kunstform, unbeeinflusst von Paris und Mailand.
In der Literatur habe ich dagegen eigentlich nur noch den üblichen Geschäftsbetrieb angetroffen. Die älteren Semester, die sich früher zur Boheme gerechnet haben mögen, trafen sich außerhalb Schwabings in der Torggelstube, die Wedekind, Halbe, Bierbaum, Bleibtreu und so weiter, die Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschriften „Simplizissimus“ und „Jugend“ und was sonst als Literaturbeflissene dort Eingang gefunden hatte, Herr Piper und Herr Langen und die Kunst-Mäzene, die sich damals schon Essayisten nannten; der Kreis hielt sehr auf Exklusivität, genauer genommen ein Kegelclub.
Im Café Stefanie residierte der Dr. Franz Blei, ein ausgezeichneter Mann, mit einem umfassenden kritischen Wissen – ich sage das mit besonderer Genugtuung, weil Blei mich mit einer offen zur Schau getragenen Verachtung behandelt hat und – das „Trottelbuch“ war gerade erschienen – mich nicht als Schriftsteller gelten lassen wollte. Er hatte einen Kreis junger Leute um sich, Sprösslinge wohlhabender Eltern, ästhetisch abgestimmte, gesittete Manieren. Sie waren nach München gekommen, Schriftstellerei zu lernen, das heißt Romane zu schreiben und Gedichte zusammenzustellen … zum Zeitvertreib. Blei hat diese Leute in die Literatur gebracht, den Zeitschriften zugeführt, zu denen er Beziehungen hatte, und sie bei den Münchner Verlegern einkaufen lassen. Auch dieser Kreis gab sich äußerst exklusiv und Margot hat sich dort sehr wohlgefühlt.
Und im Café Stefanie selbst saßen noch Erich Mühsam und Roda Roda, beide eigentlich der Torggelstube zugehörig, und spielten jeden Tag zur bestimmten Stunde Schach. Anziehungspunkt für Durchreisende. Der Ober Julius pflegte die beiden den Fremden zu zeigen als Schaustücke – bei Mühsam war es der Revoluzzerbart, bei Roda Roda die rote Weste.
Unter den Bohemiens, die vom Pariser Café Dome nach dem Stefanie in München herübergewechselt waren, machte Henry Bing, der Simplizissimus-Zeichner, am meisten von sich her. Auch Bing hatte stets einen Kreis Gleichgesinnter um sich – gleichgesinnt meine ich in der Aufgeblasenheit, dem lauten Auftreten und ihrer Maniriertheit, mit Geld um sich zu werfen, auch wenn sie in Wirklichkeit keins hatten; Julius hatte das Geld vorzuschießen und sammelte es dann auch wieder ein. Ich nehme an, dass die Mehrzahl der Bing-Jünger später Handelsreisende geworden sind. In diesem Kreis war Margot gleichfalls ein viel gesuchter Gast.
Die Künstler-Boheme war bereits in den Sog der allgemeinen Gesellschaftskrise geraten, die das laufende Jahrhundert auszeichnen wird. Die bedeutsamste Rolle für die sozialkritische Aufspaltung der „guten alten Zeit“ hat die Psychoanalyse von Sigmund Freud gespielt. Der Höhepunkt im Streit um die richtungsweisende Interpretation der Freudschen Grundregeln zwischen den von Freud abgefallenen Schülern war vorüber. Otto Groß, in München Assistent in der psychiatrischen Universitätsklinik unter Kräpelin, war bereits von München nach Ascona in der Schweiz abgewandert und bereitete sich dort auf eine Privatdozentur vor.
Otto Groß hatte in seinen Münchener Jahren einen Kreis von Anhängern um sich versammelt, die zum größten Teil mit ihm nach Ascona gegangen sind; bekannt geworden sind mir Leonhard Frank, Karl Otten, Frick und Schiemann, den ich schließlich in Moskau zehn Jahre später wiedertreffen sollte. Die Asconaer kamen noch oft nach München, auch Otto Groß, mit dem ich dann bei einem dieser Besuche näher bekannt geworden bin.
Die zersetzende Wirkung dieser Gruppe auf die bisherige Kultur- und Gesellschaftsanalyse habe ich selbst in München nicht mehr beobachten können. Je mehr ich später mit Groß befreundet wurde, um so mehr habe ich die verlorenen Jahre als Handelsjournalist in Berlin bedauert. Dieses Versäumnis habe ich auch in all den nachfolgenden Jahrzehnten nicht mehr aufholen können.
Groß hatte den Plan, in Ascona eine freie Hochschule zu gründen, von der aus er die westliche Zivilisation anzugreifen gedachte, die Zwangsvorstellungen der inneren wie äußeren Autorität, die von dieser getragenen sozialen Bindungen, das Zerrbild einer parasitären Gesellschaftsform, in der zwangsläufig jeder von jedem zu leben genötigt ist, um weiter existieren zu können.
Nach München waren über Ascona im Grunde nur Gerüchte gelangt über die Aufhebung der Sexualmoral, in bürgerlichem Sinne interpretiert als „freie Liebe“, im Gegensatz zu den Dunkelkammerassoziationen unserer Zeit. Auch der Prozess über den Sacharinschmuggel aus der Schweiz nach Österreich-Ungarn und Böhmen, in den der Kreis um Otto Groß mit verwickelt gewesen ist, war längst über die Bühne gerollt, die Erinnerung war noch sehr lebendig geblieben.
Aus der heilsamen Explosion, die selbst von der medizinischtherapeutischen Anwendung der Psychoanalyse in ihren ersten Anfängen ausgelöst worden ist, hätte sich eine revolutionäre Bewegung entwickeln können weit über die engere politische und soziale Zielsetzung hinaus, hätte nicht Freud den opponierenden, weil ungeduldigen Schülern selbst die Tür zugeschlagen mit dem unheilvollen Ausspruch: Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben. Er hat damit zugleich den noch unheilvolleren Konkurrenzkampf unter den abgefallenen Schülern ausgelöst. Freud selbst hat sich zwar an diesen seinen Grundsatz selbst nicht gehalten, als er später die Untersuchung über das „Unbehagen in der Kultur“ schrieb. Damals hatte er dann allerdings auch nicht mehr den Begeisterungseinsatz von Schülern hinter sich, die bereit gewesen waren, für ihn in die Arena zu steigen.
Aus den mit allen Mitteln der Intrige, oft unter Anrufung der staatlichen Autorität, geführten Streit der Schüler unter sich, der sich zunächst darauf zu konzentrieren schien, Otto Groß auszuschalten und zur Strecke zu bringen, ist der Kreis um Otto Groß allmählich auseinandergefallen. Als ich Otto Groß in München kennengelernt habe, war er für das tragische Ende eines Einzelschicksals bereits gezeichnet.
Etwas Ähnliches wie dieser Kampf innerhalb der Boheme spielte sich auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft ab.
Der Durchbruch zur Biologie war erfolgt im Rahmen der Gesellschaftswissenschaft, der von der orthodoxen Wissenschaft an den Universitäten nicht nur nicht erkannt, sondern fanatisch verfolgt wurde – gleichfalls abgedrängt als Boheme. Ich hatte nur sehr lose Beziehungen zu diesen Leuten, ich kannte eigentlich nur Raoul Francé persönlich, aber ich weiß, dass eine sehr weitverzweigte und aktive Anhängerschaft, besonders unter den Studenten und jüngeren Dozenten, dahinterstand. Francé, Haeckel-Schüler, hatten eine eigene Bewegung ins Leben gerufen, deren Angehörige sich Vitalisten nannten. Ihr Ziel war, mit den rationalistischen Lehrsätzen des Konfutse den emotionellen und mystischen Dunst aus den westlichen Religionssystemen zu beseitigen, mit einer materialistischen Moral ein neues Gesellschaftssystem aufzubauen. Ich kann nicht sagen, ob diese Vitalisten einen großen Erfolg, zum Mindesten einen nach außen sichtbaren, aufzuweisen hatten. Aber, wenn ich hier aus der Hitler-Zeit vorgreifen darf, die Groteske, dass Hitler gleich zu Beginn seiner Regierung eine Kommission bestellt hatte aus Fachwissenschaftlern, die mit der Aufgabe betraut war, für Deutschland und die übrige Welt eine Einheitsreligion zusammenzustellen. Raoul Francé war in diese Kommission neben fünf anderen berufen worden. Er hat abgelehnt und ist sogleich aus Deutschland emigriert.
Francé ist in Budapest 1943 gestorben. Mir war die Ehre zuteil geworden, am Grabe vor einem kleinen Kreis ungarischer Wissenschaftler und einem halben Dutzend seiner deutschen Freunde einige Worte als Nachruf für den Toten zu sprechen.
Ich bin trotzdem noch einigen Nachfahren der echten Schwabinger Boheme begegnet. Da war vor allem Fritz Klein, der wandernde Scholar, aus dem Jahrhundert der Romantik