Der Weg nach unten. Franz Jung
Mit der Zeit wurde das eine regelmäßige Einnahme. Etwas von der inneren Verkrampfung löste sich. Jemand verschaffte mir Aushilfen als Klavierspieler, sonntags am frühen Morgen in einer der Breslauer Ausflugsorte, oder als Stimmungsklavierspieler in einem der kleinen Kinotheater – war die Katastrophe bereits in Sicht oder wurde die Tote ins Bild hereingetragen: Chopin; stieg jemand feierlich die breite, vielstufige Treppe herab, der Treulose, die betrogene Braut, oder der Hochstapler zum entscheidenden Coup, stand eine schwerwiegende Entscheidung bevor: Rubinstein oder Mendelssohn.
Ich verkehrte schließlich in einer Halbwelt von Studenten, Zirkusartisten und Künstlern, Serviermädchen und allerhand zweifelhaften Gestalten aus der Provinz, die mit Geld um sich schmissen. Solche Abende endeten für gewöhnlich im Café Royal, Reudel genannt, das die ganze Nacht geöffnet war und hauptsächlich von Strichmädchen besucht wurde. Ich lernte dort eines dieser Mädchen kennen und freundete mich mit ihr an. Wir warteten, bis ein Besucher und Kunde an den Tisch kam, dann entfernte ich mich. Ich glaube, ich hatte damals die ernste Absicht, den Beruf eines Zuhälters zu wählen – ich würde darunter verstanden haben, dass es meine Aufgabe sei, das Mädchen zu schützen, ihr Kunden zuzuführen und im Notfall für Kleidung und Nahrung zu sorgen.
Meine Freundschaft endete mit einer großen Verwirrung. Ich hörte eines Nachts von dem Ober im Royal, dass das Mädchen in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Ich wollte sie aufsuchen, wurde aber nicht vorgelassen. Es war auch kein eigentliches Krankenhaus, sondern das Gefängnisspital. Sie war von einer Sittenstreife hochgenommen worden, als sie auf ihrem Zimmer am Neumarkt, wo ich sie oft besucht hatte, sich zum Fenster hinausgelehnt haben soll, wahrscheinlich um jemandem etwas nachzurufen, vielleicht auch nur, um etwas frische Luft zu schnappen. Nach der Polizeiverordnung war dies für eingetragene Strichmädchen verboten.
Im Augenblick schien die Welt einzustürzen. Ich hätte jeden einzelnen Polizisten, der mir gerade in den Weg gekommen wäre, angefallen und niedergeschlagen. Merkwürdigerweise konzentrierte sich dann sehr bald die Wut weniger auf die beteiligten oder zuständigen Personen, sondern sinterte durch auf Staat und Gesellschaft, die Stadt Breslau, das Haus am Neumarkt – ich hätte es einzeln Stück für Stück niederreißen mögen.
Das Mädchen blieb im Spital. Es war lungenkrank und würde vermutlich irgendwohin verschickt. Ich habe es nicht wiedergesehen. Es ließ mir durch ein anderes Mädchen bestellen, ich solle mich nicht weiter mehr um sie kümmern.
Ich muss noch erwähnen, dass ich in diesem Jahr selbst mit den Behörden in Konflikt gekommen bin. Ich hatte in einer betrunkenen Nacht an die große Portaltür der katholischen Garnisonkirche gepisst und war dabei festgenommen worden. Damals hat mir noch die frühere Verbindung zur Burschenschaft geholfen. Bekannte, die mit mir zusammen ihren Spaß gehabt hatten, mobilisierten am nächsten Morgen einen Burschenschaftler-Anwalt, der mich aus dem Polizeigewahrsam und der Kette von Paragraphen loseiste und mich dem Disziplinargericht der Universität überstellte. Dort kam ich mit einem strengen Verweis davon und drei Tagen Karzer, die ich mit Ausnahme der täglichen Mahlzeiten, für die ich freien Ausgang hatte, in der Wohnung eines der Pedelle in der alten Universitäts-Sternwarte verbringen musste. Ich hatte die Tage über eine recht lustige und lärmende Gesellschaft um mich versammelt. Mein Großvater wird von diesem Raum aus auf die Sterne gesehen haben.
In diesen Wochen lernte ich in meinem Umgang mit arbeitslosen Artisten eine Tänzerin kennen, die sich als Modell in der Kunstakademie einiges Geld verdiente und mit den jüngeren Kunstprofessoren auf vertrautem Fuße stand. Sie war in unserer Gesellschaft durch ihren rüden Umgangston mehr gefürchtet als gelitten. Ich hatte Margot zunächst kaum beachtet. Merkte aber dann, dass sie sich in besonderer Weise für mich zu interessieren begann, indem sie mich manchmal auf der Tanzfläche herumschubste, als wollte sie mich in die Ecke feuern. Warum gerade ich, der mit solcher Anteilnahme beehrt wurde … zudem war ich um die Zeit, wenn Margot in unserem Kreis auftauchte, schon meist stark angetrunken. Ich hatte ihr nichts zu bieten, und sie interessierte mich nicht im Geringsten, auch nicht, als sie mich eines Tages zwang, sie mit auf mein Zimmer zu nehmen.
Das ging so eine Weile, bis mich die Pensionswirtin, der die nächtlichen Besuche nicht verborgen bleiben konnten, eines Tages hinauswarf. Margot brachte mich in einem Hotel unter, wo sie gut genug aus früheren Besuchen bekannt war. Mich rettete vor dem neuen Bruch mit den Eltern, dass der Repetitor meine Zulassung zum Referendarexamen fertiggebracht hatte. Ich stieg bei all dem Trubel in die schriftlichen Vorprüfungen, von der brieflich mir übermittelten tiefsten Verachtung der Mutter begleitet.
Ich habe den vielen Erzählungen der Margot mit halbem Ohr nur zugehört. Da war eine Mutter, die sie, wenn die Not sehr dringend war, mit Geld unterstützte und sie auch manchmal in der Wohnung heimlich schlafen ließ. Da war der Stiefvater, der seinerseits sie aus dem Haus gewiesen hatte. Da war die Reihe der Freunde und Künstler und Liebhaber, die sie alle abgeschüttelt hatte und die sie beschimpfte, sobald sie ihrer ansichtig wurde. Da war der Kanonenkönig, der auf der Bühne eine Kanone über seine Brust rollen ließ und dem anscheinend ihre erste große Begeisterung gehört hatte, und der sie dann sitzen ließ. Da waren die verschiedenen Engagementsverhandlungen mit den oft recht undurchsichtigen Agenten, und da war schließlich der Vertrag mit einer Schau- und Tanzgruppe für eine Tournée durch Finnland, Russland und die Türkei … der Manager der aus vier Personen bestehenden Truppe saß vor einem Zelt in der Wüste und spielte als Haremsscheich die Flöte. Der Mond ging über der Szene auf, die drei Mädchen bewegten sich im Kreise und gingen jeweils einige Schritte vor und zurück – getanzt wurde da nicht viel.
Ich habe es kaum bemerkt, eines Tages war Margot auf Tournée verschwunden, abgereist, und wird mir Nachricht senden, dass ich ihr nachkommen soll.
Ich lernte inzwischen auf die mündliche Schlussprüfung im Referendarexamen und fing wieder an, Geld zu pumpen. Ich tat das, was die Agenten von mir verlangten: Ich kaufte Lexika und wissenschaftliche Bücher auf Kredit, auf Grund der Studentenkarte, bekam von den Agenten nur den Pfandschein zu Gesicht, den ich ihnen verkaufte, das heißt, ich erhielt etwa zehn Prozent des Wertes in bar, für den ich den Abzahlungsvertrag zu unterschreiben hatte. Ich unterschrieb auch allerhand Versicherungen, die dann der Agent belieh oder zurückkaufte, bis ich schließlich so viel Geld zusammen hatte, dass ich eine Fahrkarte nach St. Petersburg kaufen konnte. Von dort erhielt ich von Margot ein Telegramm, ich solle nachkommen, und zwar sofort.
Warum ich wirklich abgefahren bin, das weiß ich heute ebenso wenig wie in früheren Jahren, wenn ich gelegentlich darüber nachgedacht habe. Es lohnt sich nicht, darüber analytische Spekulationen anzukurbeln, denn sie stimmen ja doch niemals ganz. Man wird es mir nicht glauben, aber es war weder der brennende Wunsch, Margot wiederzusehen, noch die Flucht vor den Schulden oder das masochistisch-sadistische Vergnügen, im letzten Augenblick noch das Examen zu schmeißen, ebenso wenig reine Abenteuerlust … vielleicht, um es dem Leser leichter zu machen, war von jedem ein wenig dabei.
Ich kam nach einigen Tagen Bahnfahrt ziemlich durcheinander in St. Petersburg an. Margot, in Begleitung einer Kollegin, nahm mich am Bahnhof in Empfang. Ich hatte unterwegs überall und in jedem Reisenden im Zugabteil einen Spion der zaristischen Staatspolizei gesehen, der mich festnehmen wollte. Ich war noch so aufgeregt und durcheinander, dass ich im Fontanka-Kanal beim Aussteigen aus dem Verkehrsboot vom Laufsteg ins Wasser fiel, mit dem Koffer fest in der Hand.
In dem Artisten-Hotel, wo die Truppe logierte, wurde ich die Nacht über einquartiert. Am nächsten Morgen ließ mich der Dwornik nicht mehr in das Hotel hinein. Ich ging in das Etablissement Flora-Varieté, wo die Truppe im Programm war, und sprach dort mit einem der Direktoren, mit dem ich mich deutsch verständigen konnte. Eine Beschäftigung als Bühnenarbeiter, Kulissenschieber, irgendeine Tätigkeit im Betrieb, Restaurant, oder Logendiener, Tellerwäscher, Auskehrer oder was immer – wäre mir recht gewesen. Als der Mann aber hörte, dass ich der Freund oder Liebhaber eines der Mitglieder des Ensembles sei, der ihr von Breslau aus nachgereist und hier ohne Mittel gestrandet war, schmiss er mich sofort hinaus – das Flora-Varieté lebt von den Separee-Logen, in denen für die Kavaliere Sekt serviert wird, die dafür das Recht hatten, die auftretenden Tänzerinnen in die Logen zu beordern.
Einige Tage später setzte die Geschäftsleitung auch Margot vor die Tür. Die ganze Truppe wäre entlassen worden, wenn diese nicht Margot einfach geopfert hätte.