Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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den immerhin recht weit entfernten Papst. Ich wurde am Saalausgang von allen Seiten aus beglückwünscht. Ich wusste selbst nicht, was eigentlich los war. In dem Mitteilungsblatt der Freien Studentenschaft war die erste Seite dem tapferen jungen Studenten gewidmet, der gegen eine überwältigende Übermacht seine religiöse Weltanschauung verteidigt hatte.

      Das wurde mir zu viel. Ich ließ an dem erwähnten Caféhaustisch an einem der nächsten Tage die Bemerkung fallen: es habe sich da überhaupt um keine Weltanschauung gehandelt, ich hätte in der Diskussion lediglich aufgrund einer Wette gesprochen, und sie alle würden bezeugen können, ich hätte diese Wette gewonnen. Mehr sei nicht dahinter. Dies sprach sich herum wie ein Lauffeuer. Schon am folgenden Tag wurde ich im Minerva von allen gemieden. Ich war aus, fertig. Die Studentenzeitung bereitete einen neuen Artikel, diesmal gegen mich, vor, und selbstverständlich meinen Ausschluss aus der Freien Studentenschaft.

      Da nahm mich der Theologiestudent an die Hand und lud mich ein über das Wochenende nach Naumburg in die Küsterwohnung. Vater und Sohn waren einander sehr zugetan, die Mutter war schon längere Zeit vorher gestorben, ältere Geschwister waren außer dem Haus. Der Sohn lebte für den Vater und der Vater wahrscheinlich für den Sohn. Beide hatten das Herz auf der Zunge, besonders dem Gast gegenüber. Eine Insel des Friedens und der Zuversicht. Uns wird heute eine solche Zeit, vielleicht sind in Wirklichkeit schon Jahrhunderte darüber vergangen, als geschichtliches Märchen aufgetischt. Literaten haben sich der Sache bemächtigt … es sollte jedenfalls darüber nicht so viel geschrieben werden.

      Ich spielte in Naumburg zur großen Freude des Küsters mit dem Sohn abwechselnd die Orgel; – ich glaube, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich auch in Neiße in der Kreuzkirche die Orgel oft vertretungsweise gespielt habe. Meist in den wöchentlichen Schulmessen am Morgen, zum Beispiel im Dezember. Ich habe dann, erinnere ich mich, die Register gezogen in die Überleitung zum Choral: Rorate coeli de super … Tauet, Himmel, den Gerechten …

      Vater und Sohn sind beide aus meinem Leben verschwunden. Beide habe ich nicht mehr wiedergesehen, auch keine Verbindung mehr gehalten.

      Ich habe es indessen noch einmal versucht, mich in Linie zu bringen. Vorbereitet in den Ferien durch zwei meiner Mitschüler, wurde ich im folgenden Semester Mitglied der Leipziger Burschenschaft Arminia. Von dieser Zeit ist nichts im Gedächtnis geblieben, nicht einmal die Gesichter der Kommilitonen, mit denen ich zweimal die Woche im Haus der Burschenschaft an einer langen Tafel saß, den Sonntagvormittag den Farbenbummel auf dem Thomasring bestritt, den Fechtboden regelmäßig besuchte und am Anfang und Schluss des Semesters an einem Ausflug mit Damen teilzunehmen hatte. Ich besuchte in dieser Zeit die juristischen Kollegs, soweit ich sie nachholen konnte. Ich muss mich schrecklich gelangweilt haben, aber es geschah sonst weiter nichts. Ich wurde ein leidlicher Fechter, besser geeignet für die Bestimmungsmensuren als für die Kontrahagen auf schwere Säbel – dafür war mein Arm im Verhältnis zur sonstigen Körpermasse zu kurz; ich bezog regelmäßig Prügel.

      Ich wechselte im nächsten Semester über nach Jena in die Burschenschaft Germania, zum Teil, weil ich mich dort besser auf meine Säbel-Kontrahagen vorbereiten konnte, mehr aber, weil ich eine breitere Gesellschaft, offenere Kameradschaft und Zusprache dort zu finden hoffte. Darin wurde ich sehr enttäuscht. Unter den dreißig bis vierzig Aktiven war auch nicht ein einziger, mit dem ich irgendwelche Ansichten oder Erlebnisse auszutauschen gehabt hätte. So würde ich mir das Leben in einer Kaserne vorgestellt haben. Es war alles genau geregelt. Es wurde kommandiert und zur Ordnung gerufen. Möglicherweise ist eine solche Erziehung für eine spätere Eignung im Beruf ganz angebracht. Ich konnte mir indessen keinen Beruf ausdenken, wo ich der stützenden Hilfe dieser Kommilitonen bedürfen würde. Es wurde ein großes Missverständnis, auch dann noch, als ich mich Hals über Kopf in den Betrieb stürzte, also Sänger unter den Singenden, Schläger unter den Schlagenden und Säufer unter den Pflichtsaufenden geworden war. Es war eben ein Missverständnis.

      Das merkte nicht nur ich. Das merkten noch mehr die anderen. Zwei Semester gingen darüber hin. Die Universität sah ich nur von außen. Ich hatte enorme Schulden aufgehäuft. Wir fuhren in der Kalesche um den Hahnfried und schmissen das Geld aus eigens dafür zurechtgemachten Säcken auf die Straße; eine gewaltige Horde Kinder, wahrscheinlich aus der Arbeitervorstadt Wenigen-Jena, hinterher.

      Auch das ging zu Ende. Ich war die Ferien über wieder in Jena geblieben und hatte mich mit einigen älteren Semestern, sogenannten verbummelten Studenten, angefreundet, in der Mehrzahl bereits ältere Herren. Sie waren auf dem besten Wege, sich zu Tode zu saufen und hielten sich mit Injektionen von Strophantus aufrecht. In dieser Gesellschaft fühlte ich mich wohl, obwohl ich nicht genau weiß, warum – ernstere Fragen dürften wir kaum erörtert haben.

      Eines Nachts, in der Weinstube Göhre, unserm Stammquartier, wo ich überdies den Couleurkredit genoss, muss ich das Bedürfnis gefühlt haben, mich vor meinen Kumpanen zu beweisen, die alle aus dem einen oder anderen Bund längst herausgeschmissen worden waren. Ein stadtbekannter alter Herr der Germania, irgendein hohes Tier in der Universität, hatte mich in dieser Gesellschaft aufgefunden und angefangen, mir die Leviten zu lesen. Ich ließ ihn nicht nur grob abfahren, sondern – als er zu drohen anfing, ging ich auch tätlich gegen ihn vor – er flog, glaube ich, in der Göhre die Treppe hinunter. Durch einen in aller Eile am nächsten Tage aus dem Kreise der in Jena ansässigen Alten Herren zusammengetrommelten Konvent wurde ich mit dem Rat zum Austritt bestraft.

      Ich verließ Jena ein paar Tage später. Mit meinen Eltern kam es zu einem großen Skandal, als dann die Rechnungen in der Heimat einzulaufen begannen. Ich weiß nicht, wie viele davon bezahlt worden sind; alle bestimmt nicht.

      Als ich Jena verlassen musste, dachte ich an so vieles, was die Stadt zu bieten gehabt hätte, mit einer gewissen Wehmut. An den Philosophenberg mit den schönen Villenhäusern, in denen sicherlich so viele berühmte Leute gewohnt haben. Wahrscheinlich auch Johannes Schlaf, für den ich eine tiefverschwiegene Begeisterung bewahrt hatte – ich habe den Philosophenberg nie betreten, ich bin nicht einmal in die Nähe gekommen. Ich dachte an den Eucken-Kreis, zu dem ich mich sowieso nicht hingetraut hätte. An die Lesesäle der Zeiß-Stiftung, die ich allerdings einmal von weitem gesehen habe, ohne jedoch den Mut aufzubringen, hineinzugehen, abgestempelt mit dem Kainszeichen der Couleur. Ich dachte an die Wanderungen im Frankenwald und die Tanzveranstaltungen mit den Dorfschönen von Ammerbach, die nach der Tradition alle das Band der Burschenschaft Germania über der Brust tragen und sich unter den jeweiligen Aktiven, den Burschen und Füchsen der Germania, besser auskannten als ich selbst. Aus all dem habe ich mir selbst nichts aufbauen und nichts erhalten können. Es ist verlorengegangen.

      Es ist schon im folgenden Jahr weggespült worden in Breslau. Die Eltern hatten in langen Beratungen mit Freunden des Hauses beschlossen – ich war nicht hinzugezogen, wurde auch nicht aufgefordert, irgendetwas zu erklären, zu beschönigen oder Besserung zu versprechen – trotz all der bisherigen Misserfolge das Risiko einzugehen, mich in Breslau das Rechtsstudium zum ersten Abschluss bringen zu lassen. Ich wurde in eine Pension eingemietet mit einem auf fünfzig Pfennig berechneten Taschengeld, das mir täglich mit dem Frühstück ausgezahlt wurde, und gleichzeitig bei einem Repetitor eingekauft, der mich für das Referendar-Examen vorzubereiten hatte und erst alle die versäumten Vorlesungen in abgekürztem Schnellverfahren nachholen musste. Beide Kontrollstellen hatten monatlich an die Eltern zu berichten, bevor weitere Zahlungen erfolgen würden. Merkwürdigerweise verlief das die längste Zeit ganz gut.

      Ich besuchte den Repetitor täglich für mehrere Stunden und besuchte nebenbei die noch ausstehenden Pflichtkollegs an der Universität. Aber darüber hinaus geriet ich in eine Art von Trance, vielleicht eher mit völliger Apathie zu beschreiben. Ich fing an, stark zu trinken, den billigen Henning-Korn – in einer Gesellschaft von Zufallskumpanen in den für Breslau typischen Kneipen, im Dunkel der Hinterhöfe gelegen. Ich traf dort die gleichfalls für Breslau typischen Studenten der katholischen Theologie, die ihren Ausgang vom Priesterseminar in diesen Kneipen verbrachten oder überhaupt bereits aus dem Seminar weggelaufen waren. Diese hatten den nahen Untergang vor Augen. Keiner hätte gewusst, was tun – keiner eignete sich im Augenblick wenigstens für einen Beruf, wenn das Stipendium des Pfarrers aus dem oberschlesischen Heimatdorf ausbleiben wird. Mir sind nur ganz wenige Fälle bekannt, in denen es solchen Seminaristen gelungen ist, sich über Wasser zu halten.

      Ich


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