Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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Pfemfert sich bei der Herausgabe eine breitere Wirkung versprochen hat, so wird die Enttäuschung, die ja auch immer erst einige Jahre nachher ins Bewusstsein rückt, recht bitter gewesen sein.

      Meine zwielichtige Stellung als Börsenkorrespondent, meine eigene Unsicherheit, mich entweder von der Börse oder der Literatur zu befreien, und die zur Schau gestellten Provokationen haben meine Eingliederung in den Aktionskreis nicht gerade erleichtert.

      In dieses letzte Berliner Jahr vor Ausbruch des ersten Weltkrieges fiel meine Befreiungskampagne für Otto Groß.

      Der Vater, ein Universitätsprofessor in Graz, Verfasser des „Handbuches für den Untersuchungsrichter“, ein internationales Standardwerk, hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Sohn wieder auf die bürgerliche Existenz einer Privatdozentur an einer von ihm ausgewählten Universität zurückzuführen; wenn notwendig, mit Gewalt. Über die Vorgeschichte weiß ich wenig. Otto Groß selbst pflegte darüber nur in dem allgemeinen und erweiterten Rahmen des Vater-Sohn-Komplexes zu sprechen. Den letzten Anstoß soll ein Aufsatz gegeben haben, den Groß in einer psychoanalytischen Fachzeitung über den Vater zu veröffentlichen gedachte, ausgehend von einer Analyse des Sadismus in der gesellschaftlichen Funktion eines Untersuchungsrichters mit den Assoziationen zum Vater, der dieses Handbuch verfasst hatte, sowie die entsprechenden sadistischen Reflexe in seiner Stellung zur Familie und dem Sohn Otto. Irgendwie ist dieses Manuskript schon vor der Drucklegung in die Hände des Vaters gefallen oder diesem in die Hand gespielt worden – das war die Version von Otto Groß, der auch einen bestimmten Verdacht auf Personen aus seiner nächsten Umgebung hatte.

      Aus dem latenten Unterton von gegenseitiger Abneigung entstand so der völlige Bruch. Der Vater Groß hatte vielleicht nur auf einen Anlass dieser Art gewartet. Er schlug zu mit der Autorität, die einem berühmten Professor der Rechtswissenschaften zur Verfügung steht, mit der Absicht, den Sohn dieses Mal endgültig zu vernichten. Vorher hatte sich der Vater von einem andern abgefallenen Freud-Schüler, dem Züricher C. G. Jung, ein Gutachten bestellt, worin dieser Jung seinen Kollegen Otto Groß als einen gefährlichen Psychopathen charakterisiert haben soll.

      Gestützt auf dieses Gutachten hatte der Grazer Professor die Berliner Polizeibehörden ersucht, Otto Groß festzunehmen und an die österreichische Grenze zu bringen, wo er von den vom Vater mobilisierten Schergen in Empfang genommen werden sollte.

      Otto Groß war kurz vorher nach Berlin gekommen, um sich eine neue Existenz aufzubauen, nachdem er auf eine geldliche Unterstützung durch die Familie nicht mehr rechnen konnte. Er hat bei uns gewohnt, und Margot und deren Mutter, die den Haushalt führte, haben ihn betreut.

      Er wurde auch in meiner Wohnung verhaftet.

      Ich hatte bisher den Auseinandersetzungen mit dem Vater und der Familie nicht allzu viel Aufmerksamkeit gewidmet. Mir hatte vorgeschwebt, Otto Groß selbst zunächst auf die Beine zu stellen, ihm eine Praxis aufbauen zu helfen und ihn zu wissenschaftlichen Arbeiten anzuregen, wofür sich ein Verleger bereits gefunden hatte. Auch die „Aktion“ brachte mehrere Aufsätze, die Groß in der Wohnung Pfemferts geschrieben hatte. Es schien auch langsam wieder bergauf zu gehen, es kamen neue Freunde. Überwunden werden mussten die tiefen Depressionen, in die Groß von Zeit zu Zeit noch verfiel. Dazu war mitfühlendes Verständnis notwendig, Hilfsbereitschaft und eine große Geduld – überraschend viele aus dem Aktions-Kreis, auch bisher sonst Fernstehende, waren dazu bereit.

      Der Vorstoß des Vaters hat mich allerdings noch in ganz anderer Weise alarmiert. Um dem Ersuchen um Ausweisung bei der Berliner Polizei noch größeren Nachdruck zu geben, hatte der Grazer Professor angegeben, dass sein Sohn in die Hände von gefährlichen anarchistischen Elementen gefallen sei, vermutlich eine Erpresserbande, die frühere Untersuchungen des Otto Groß über Homosexualität ausnützen werden, ihn – den Vater – zu erpressen.

      Ich erwähne das alles etwas ausführlicher in diesen Aufzeichnungen, weil ich damals noch fähig gewesen bin, zu einem Gegenschlag auszuholen; auch unter Anwendung jedes möglichen und geeignet erscheinenden Mittels. Allein diese Tatsache hat mir eine größere Selbstsicherheit gegeben, die noch lange Zeit nachher vorgehalten hat – insofern kann man diese Kampagne als einen Wendepunkt bezeichnen, der die nachfolgenden Jahre entscheidend mitbeeinflusst hat.

      Das von dem Vater eingeschlagene Verfahren bot eine gute Angriffsfläche – das Ansuchen um Ausweisung stellte eine ungehörige Beeinflussung der Polizeibehörde eines anderen Landes dar, die ihrerseits an eine bestimmte Prozedur, die einer solchen Ausweisung vorangehen muss, gesetzlich gebunden ist. Der Professor glaubte dies, auf seine Autorität gestützt, ignorieren zu dürfen. Die preußischen Polizeibehörden haben ihm in seiner Annahme recht gegeben. Damit rückte der Fall bereits auf zu einer Kernfrage der Innenpolitik: Welches Recht haben die Ausländer in Preußen-Deutschland überhaupt? Hinzu kam noch, dass die Verdächtigungen, die der Professor benutzt hatte, nur sehr vage waren. Er hatte sich auch nicht einmal die Mühe genommen, zum Mindesten durch eine Geste, sie beweisen zu wollen.

      Mit der Diversion auf das innenpolitische Gebiet und die Rechtsbeziehungen zwischen Österreich und Preußen hatte ich die Leitartikler der großen bürgerlichen Blätter gewonnen, die sich sogleich des Falles annahmen. Wie ein Schneeball rollte die Kampagne weiter auf die Zeitschriften, für die zusätzlich das Vater-Sohn-Verhältnis in den Vordergrund gestellt wurde, den privaten Konflikt innerhalb einer Familienbindung unter Anrufung der staatlichen Polizeiapparate lösen zu wollen; der Hinweis auf die Psychoanalyse, die soeben erst gesellschaftsfähig geworden war, goss Öl ins Feuer.

      Allenthalben wurde der Professor Groß als ein Typ hingestellt, dessen Behandlung durch einen Psychiater im Interesse der allgemeinen Sicherheit als notwendiger erachtet wurde, als für den Sohn; Otto Groß war inzwischen in die Landesirrenanstalt Troppau eingeliefert worden mit dem Aktenzeichen: unheilbar geisteskrank.

      Ich selbst hatte mir von Johannes R. Becher die Zeitschrift „Revolution“ ausgeborgt, die dieser in München zusammen mit Bachmair herausgab. Ich füllte die Zeitschrift mit Zuschriften und Beiträgen von Dichtern und Schriftstellern aus aller Welt für das Recht des individuellen Erlebens gegen den gefährlichen Starrsinn väterlicher Autorität. Dem Professor wurde die Fähigkeit abgesprochen zu lehren, ein Amt zu bekleiden – eine internationale Schande für die Rechtswissenschaft. Zu Studentendemonstrationen an den österreichischen Universitäten wurde aufgerufen. Nicht genug damit: Ich hatte aus dem Grazer Adressbuch Hunderte von Adressen herausgeschrieben, die Caféhäuser in Graz und Wien, die Universitäten, die Büchereien, die Buchhandlungen … ich habe über 1000 Exemplare der „Revolution“ auf diese Weise versandt. Ich war darauf aus, den Professor an seiner eigenen Basis anzugreifen und zu vernichten.

      Als auch die Kampagne in der österreichischen Öffentlichkeit aufgegriffen wurde, die Wiener Neue Freie Presse veröffentlichte einen Leitartikel gegen den Professor Groß, gab der Alte klein bei. Es hätte sich um ein Missverständnis gehandelt, ließ er erklären, Otto Groß habe sich freiwillig in die Landesirrenanstalt begeben, um sich einer Entziehungskur zu unterwerfen; er könne jederzeit entlassen werden. Ich wurde telegrafisch von der Anstalt nach Troppau eingeladen. Ich fuhr hin und habe Groß dort abgeholt. Ich bin empfangen worden wie ein inspizierender Minister aus der Wiener Regierung. Otto Groß war inzwischen bereits aus der Kategorie der Unheilbaren zum behandelnden Assistenzarzt in derselben Anstalt aufgerückt.

      Ich möchte die Affaire Groß sogleich hiermit abschließen. Unsere Freundschaft ist in den folgenden Kriegsjahren, in denen Groß als Militärarzt eingezogen wurde, an einer Reihe äußerer Umstände verblasst und schließlich ganz zerbrochen.

      Für mich bedeutete Otto Groß das Erlebnis einer ersten und tiefen, großen Freundschaft, ich hätte mich ohne zu zögern für ihn aufgeopfert. Dabei stand ich ihm wahrscheinlich äußerlich, genau gesagt, nicht einmal besonders nahe. Es war eine Mischung von Respekt und Glaube, das Bedürfnis zu glauben und zu verehren, aufzunehmen und zu verarbeiten, was er uns ständig einhämmerte. Für Groß selbst war ich vielleicht nicht viel mehr als eine Figur auf dem Schachbrett seiner Gedankenkombinationen, die hin- und hergeschoben werden konnte. Zudem war es an sich schon schwierig, den Gedankengängen zu folgen, besonders in der Form persönlichen Zusammenseins; sie waren überschattet von den äußeren Unzuträglichkeiten, die mit der Abhängigkeit von Opium und Kokain verbunden sind.


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