Der Weg nach unten. Franz Jung

Der Weg nach unten - Franz Jung


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der Welt gekommen?

      Zum Mindesten stürzte eine Welt zusammen über die paar Dutzend Friedensdemonstranten, in die ich hineingeraten war. Soviel ich mich erinnere, war diese Demonstration von den Syndikalisten um Kater und Rocker aufgezogen worden. Ein Transparent, über zwei Stangen gespannt, wurde hochgehoben, eine rote Fahne entfaltet, und die Demonstration: Nieder mit dem Krieg! begann sich in Reihen zu ordnen. Wir sind nicht weit gekommen.

      Ich glaube nicht, dass besondere Gewalt angewendet worden ist; die Flut ging über uns weg, wir trieben vereinzelt und auseinandergerissen in dieser Flut, jeder wahrscheinlich unfähig, sich zu wehren, sich überhaupt zu rühren. Polizei hatte nicht nötig, einzugreifen. Militärposten und Polizei, die ich vorher um die französische Botschaft herum gesehen hatte, schienen nicht mehr vorhanden.

      Sie werden erst später in Erscheinung getreten sein. Ich fand mich wieder in einer Art Turnhalle am Hausvogtei-Platz, die von der Polizei requiriert worden war. Dort wurden die verdächtigen Ausländer eingeliefert, die auf der Straße als Spione aufgegriffen worden waren. In einem Kreuzverhör von erstaunlicher Kürze und Präzision wurden die Eingelieferten – von Stunde zu Stunde strömten neue Hunderte hinzu – sortiert in Gruppen und irgendwohin abtransportiert. Mir wurde bedeutet, ich hätte mich in Spandau beim 5. Garde-Grenadier-Regiment zu melden und würde dorthin überstellt werden. Ich wartete nicht ab, sondern entfernte mich – die Wachen am Tor kümmerten sich nicht darum, wer da ein- und ausging.

      Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Margot und die Mutter schrien sich gegenseitig an: um Geld und um die Zukunft des Kindes. Die beiden stritten sich um den Sinn der Welt, die Unterhaltspflicht und den Respekt der Kinder gegenüber den Eltern. Mein Erscheinen vereinigte die Wut, für die es sonst keine Auslösung gegeben haben wird, gegen mich. Ich war der Schuldige. Vieles, was so auf mich eingeschrien wurde, war mir durchaus nicht fremd, ich habe selbst manchmal darüber nachgedacht: die Verantwortungslosigkeit, Kinder in die Welt zu setzen, die zweifelhafte Rolle des Mannes in der Bindung zur Frau, die Stellung in der Familie.

      Ich wurde mehr oder weniger aus der Wohnung herausgeschmissen; so eines der ersten Opfer dieses Krieges.

      Margot kam mir auf die Straße nachgelaufen und versuchte, mich wieder zurückzuholen. Ich wollte nicht mehr. Für mich war an diesem Tage einiges eingestürzt; vielleicht mehr als nur eine Welt.

      Wir stritten uns auf der Straße. Leute kamen hinzu. Wir fingen an, aufeinander einzuschlagen. Alles wurde jetzt weggewischt – die Zärtlichkeit, die Verschmähung, der Schmerz des Unverstandenseins und die Hoffnung – nicht nur die Hoffnung, die Gewissheit, die Zuversicht.

      Die Umstehenden mischten sich ein. Ein Herr im steifen Hut schlug mir mit einem Stock über den Kopf. Ich brach durch die Menge hindurch, die sich um mich und Margot angesammelt hatte, und begann zu laufen … hörst du schon die Jäger blasen? … viele Jahre später pflegte das Harriet dann zu zitieren.

      Ich fuhr den nächsten Morgen – wie ich die Nacht verbracht habe, weiß ich nicht mehr, sicherlich allein, ich ließ mich treiben –, den nächsten Morgen meldete ich mich in Spandau in der Kaserne. Ich hatte nicht die notwendigen Papiere bei mir. Das machte damals wenig aus. Auf dem Kasernenhof waren Strohsäcke ausgelegt. Dort kampierten wir, es gab Essen, und von Zeit zu Zeit wurden Leute aufgerufen. Für mich kam das am dritten Tage, und ich wurde zu einer Kompanie eingeteilt. Wir wurden aufgeschrieben. Ich befand mich in der Gruppe der Kriegsfreiwilligen. Nach einigen Wochen wurde ich aus dieser Gruppe wieder ausgesondert und in eine andere Kompanie gesteckt. Das ist der Grund, warum ich schon nach sechs Wochen, kaum in dem Grundverhalten ausgebildet, ich konnte zur Not grüßen, aber nicht schießen, ins Feld geschickt wurde – dieser Vorgang hat mir wahrscheinlich später das Leben gerettet. Mit dem ersten Ersatz zum aktiven Regiment, mitten hinein in die Schlacht bei Tannenberg. Der Ersatz kam zwar nicht mehr zur Zeit, die Schlacht war schon geschlagen, aber wir fuhren dann noch mit der Bahn ein paar Wochen hin und her und marschierten Tage um Tage nach Polen hinein, bis wir zum Schluss an der Weichsel zum Einsatz kamen, ich glaube bei Iwangorod.

      Den größten Teil des darauf folgenden Rückzuges der 3. Garde-Reserve-Division nach der heimatlichen Grenze habe ich allein gemacht, als Mitglied der Grünen Armee, einer Gruppe von Deserteuren, die sich auf eigene Faust in die Heimat absetzte, nachts auf Seitenstraßen durch die Wälder. Am Tage schliefen wir in verlassenen Scheunen und in Bauernhöfen, die von den Bewohnern verlassen waren. Es gab eine Anzahl kritischer Situationen, besonders an den zentralen Kontrollpunkten der Feldlazarette, die wir passieren mussten, um den Krankenschein zu bekommen.

      Für mich war dies die geringere Schwierigkeit. Auf diesem Marsch zur Heimat bin ich körperlich derart heruntergekommen, Mantel und Uniform zerrissen, die Hose klebte in einer festen Kruste von Dreck und Blut, dass man mir den Oberschenkelschuss ohne weiteres geglaubt hat; zum Glück waren zu gleicher Zeit ringsum Schlachten im Gange, Versprengte und von der Einheit Abgekommene keine Seltenheit. Unser Feind war die berittene Feldgendarmerie.

      Ich bin durchgekommen. Ich kam nach Berlin. Im Café des Westens wurde ich von einem Dr. Serner in Empfang genommen, der von Margot gebeten war, sich meiner anzunehmen. Dr. Serner empfing mich im Café in einem pompösen Pelzmantel – das war aber auch alles; darunter war nur spärliche Unterwäsche, den Anzug hatte er versetzen müssen. Dieser Serner war auch kein Doktor und hieß nicht Serner, sondern Seligmann. Sohn eines Zuckerbäckers aus Karlsbad. Serner schrieb unter seinen vollen Titeln einen ärztlichen Rapport an das Ersatz-Regiment, wonach er auf der Straße einen Soldaten mit dieser und dieser Nummer aufgefunden habe, in einem desolaten Zustand, so dass er sofort die Überweisung in ein Spital veranlasst habe – er vergaß, den Namen des Spitals anzugeben. Ich hatte damit einen Vorsprung von gut einer Woche für meine Flucht nach Österreich gewonnen.

      Walter Serner schrieb später eine Reihe Kurzgeschichten, darunter den Sammelband „Der Pfiff um die Ecke“, aus dem man ganze Serien von amerikanischen Kriminalromanen herausstehlen könnte. Es ist mir eine große Freude gewesen, später zu hören, dass Dr. Serner sich nach der Schweiz absetzen konnte, und zwar am gleichen Tage, als die Polizei im Café des Westens bereits mit dem Verhaftungsbefehl auf ihn wartete.

      In Wien wurde ich bald festgesetzt in eine Art Ehrenhaft in der Elisabeth-Promenade, um meine Auslieferung abzuwarten. Zusammen mit einem der größten Schweine-Exporteure Serbiens, der dort als Spion festgehalten wurde. Der Herr wurde besonders bevorzugt behandelt, ein Wärter stand ausschließlich zu seiner Verfügung, nachmittags wurde er in einem Fiaker durch Wien spazieren gefahren. Den Tag über legte er Patience und zündete Kerzen vor dem Bild seiner Frau an, das er vor sich auf dem Tisch stehen hatte. Wenn noch Zeit blieb, erzählte er dazwischen balkanesische Witze und Zoten. Er hatte mir das Angebot gemacht, in seine Firma einzutreten. Ich habe vergessen, darauf später zurückzukommen.

      Ich wurde per Schub aus Österreich herausgebracht. In Mährisch-Ostrau, so nahe meiner Heimat, wäre ich im Keller des Arrestlokals beinahe erfroren; auf den Straßen draußen lag meterhoch Schnee. Ich hockte oder lag auf dem Steinboden, der Gefängniswärter war betrunken und hatte mich im Keller völlig vergessen. Gerettet wurde ich durch den preußischen Unteroffizier, der von Ratibor gekommen war, mich abzuholen. In Ratibor, beim Abtransport vom Bahnhof nach dem Militärarrest, bewarfen mich die Kinder mit Steinen. Es war sehr feierlich: Zwischen zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr, der Unteroffizier an der Seite des Zuges, ohne Marschmusik – offen gestanden, unter anderen Umständen, bei veränderter Gelegenheit hatte ich mir einen Einzug in die Heimat in tief gegliederter Marschkolonne mit Musik vorgestellt.

      Ich wurde in das Festungsgefängnis Spandau eingeliefert. Ich blieb dort eine ganze Weile, täglich mit dem Kompanie-Essen verpflegt. Ich hörte nichts von einem Prozessverfahren. Mir wurde auch keine Anklage verlesen. Ich saß in der Zelle und schrieb den ersten Teil der Bücher, die im Aktionsverlag später erschienen sind. Niemand hat mich dort besucht.

      Es ist natürlich leicht, nach den Jahrzehnten die Erinnerung abzustoßen in hell und dunkel, trotzdem ist es ohne Übertreibung die Wahrheit: Ich habe mich niemals mehr in meinem Leben so wohlgefühlt. Ich habe mich mit den Fliegen unterhalten, denen ich Zucker gestreut habe und Brotkrümel in Zuckerwasser getaucht. Ich habe dann beobachtet, wie die Fliegen betrunken wurden, im Zickzack um den Zucker gezirkelt und oft auch umgefallen sind; alle haben sich


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