Der Weg nach unten. Franz Jung
Otto Groß ist in den ersten Monaten der Unruhen nach dem ersten Weltkrieg auf der Straße buchstäblich verhungert. Die Freunde können einmal und vielleicht noch ein andermal mit dem Revolver in der Hand Apotheken in der Nacht überfallen und Opium herausholen, aber das kann nicht zur Regel werden. Groß fühlte sich im Stich gelassen, hatte auch keine Kraft mehr, jemanden aufzusuchen und dort wieder für eine Zeit unterzukriechen. Er hatte sich eines Nachts in einen sonst unbenutzten Durchgang zu einem Lagerhaus geschleppt und ist dort liegen geblieben. Er wurde zwei Tage später aufgefunden. Eine Lungenentzündung, verschärft durch völlige Unterernährung, konnte nicht mehr behandelt werden. Er ist den Tag darauf gestorben. Der Stern eines großen Kämpfers gegen die Gesellschaftsordnung – der Stern ist explodiert, erloschen und untergegangen; die Zeit war nicht reif, das Gesindel der Satten noch zu zahlreich. Vorläufig ist der Einzelne noch machtlos gegen sein Verhängnis.
Die Rückkehr zum Handelsjournalismus ist mir nicht so richtig gelungen. Ich konnte mich nicht mehr einfügen. Ich hielt zwar die Verbindungen aufrecht, übernahm gelegentlich Vertretungen, mit denen ich etwas Geld verdiente, aber ich hatte keine festen Bindungen. In Erinnerung ist mir geblieben eine auf sechs Wochen begrenzte Börsenvertretung für die „BZ am Mittag“. Das Blatt erschien an der Börse um 12 Uhr 30 und gab praktisch für den Mann auf der Straße die Börsentendenz an. Um 12 Uhr 30 aber gingen auch die amtlichen Makler in ihre Kojen und stellten die ersten Kurse fest. Ich hatte dagegen einen Setzer im Ullstein-Haus, um schon um 12 Uhr die Kurse von einem Dutzend Papieren in die Maschine zu diktieren sowie die allgemeine Tendenz mit einigen Begründungen – eine gute Schule, Prognosen zu lernen.
Ich schrieb auch einige Monate ein wöchentliches Bulletin für einen sogenannten Bucketshop, das ist ein von England her übernommener Typ von Schwindelfirmen, die an Kunden gegen Depotzahlung Aktien verkaufen, die sie weder besitzen noch überhaupt zu kaufen beabsichtigen. Der Kunde wird durch Telefongespräche und Telegramme meist in der Provinz angelockt zu ständig neuen Spekulationen, mit Versprechungen hingehalten, bis die Depotzahlung nach dem Kurszettel als Verlust aufgerechnet werden kann.
Margot ging ihre eigenen Wege. Wir lebten zusammen, waren auch gelegentlich zusammen zu sehen. Ein völlig Fremder hätte uns aber für Gelegenheitsbekanntschaften gehalten.
Die Prominenz der Branche pumpten wir über das Telefon an: Alfred Kerr, Maximilian Harden, Theodor Wolff, Sammy Fischer und andere. Ich ließ durch einen Partner das Geld abholen. Das spielte sich meist in der Frühe ab, von einer Kneipe aus, wo wir die Nacht durchgesoffen hatten. Ich befand mich nach dem Telefon in einer besonders schwierigen Lage, aus der ich nur durch sofortige Zahlung ausgelöst werden konnte.
Mit diesem Partner verdiente ich Geld im Billard-Spiel. Wir spielten im Café Kerkau an der Friedrichstraße eine Schaupartie für die durchreisenden Provinzler. Der Partner, für den Serien von 80 und 100 nichts Besonderes waren, verlor, ich zog die Gäste aus der Provinz, die uns der Kellner zugetrieben hatte, ins Gespräch und nötigte sie, es mit dem Partner zu versuchen. Zuerst um das Billard-Geld, dann um 5 Mark die Partie und mehr, wenn die Leute erst richtig warm geworden waren. Sie hatten keine Chance zu gewinnen.
Wir spielten in der gleichen Weise Schach in Caféhäusern in Neukölln, allerdings mit einem Verdienst eher nach Pfennigen. Dort lernten wir aber einen Bademeister Bernhard Bode kennen, mit dem wir glaubten, einen neuen Geschäftszweig eröffnen zu können. Bode, bei dem man einen Ring gefunden hatte, der zuvor einer Dame ins Wasser gefallen war, – darauf wurde die Sache gedreht – war als Bademeister entlassen worden und suchte nach einer neuen Beschäftigung. Er hatte angeblich ein Verfahren, durch besondere Kombination von Brustgürteln und in sich gekuppelten Schnallen eine Anzahl vollbesetzter Boote, wie sie in den Ausflüglerlokalen an der Spree vermietet werden, hinter sich herzuziehen – Typ: der lebende Frachtdampfer. Mit dem Mann wäre ein großes Sommergeschäft zu machen gewesen. Wir ließen Plakate drucken: Bernhardi Boddi – der lebende Frachtdampfer, und machten einen Startversuch in einem kleinen Gartenlokal in Weißensee, als zusätzliche Attraktion zu dem sonntäglichen Gartenkonzert, vermieteten sechs Boote zu je acht zahlenden Passagieren und verkauften etwa 100 Eintrittskarten. Die Sache fiel ins Wasser. Bode kam vom Laufsteg nicht los. Ich hörte ihn prusten und gurgeln und stöhnen – es nutzte nichts, er kam nicht los, und die Boote bewegten sich nicht.
Als die Leute anfingen unruhig zu werden und Witze zu reißen, habe ich mich entfernt, der Partner, der am Eingang an der Kasse saß, war schon vorher abgehauen. Der Frachtdampfer wird von den Gästen, deren Enttäuschung und Wut sich gewiss gesteigert hat, später mächtig verprügelt worden sein … wir haben die Neuköllner Caféstuben bisher gemieden, Bode wird eine andere Beschäftigung gefunden haben.
Mein Partner bei diesen Abenteuern war einer der wenigen aus dem Aktionskreis, mit dem ich mich verstanden habe: der Lyriker Richard Öhring. Im Krieg ist auch diese Freundschaft zerbrochen – nicht deswegen, weil zu dieser Zeit Cläre Öhring mich bei sich aufgenommen hatte. Öhring, der wie so viele von uns Schwierigkeiten mit den Einziehungsbehörden hatte, war nach Wien zu Otto Groß gefahren. Von dort ist er nach wenigen Monaten völlig verwandelt zurückgekommen, aggressiv, von einer ihm bisher völlig fremden schneidenden Ironie … es ist nie zu einer Aussprache gekommen, die Frau hat er einfach stehen lassen. Ich war gezwungen, ich musste mich gegen ihn wenden. Was ist das für eine Barriere, die sich plötzlich zwischen zwei Menschen aufrichten kann? Vielleicht haben wir Fehler gemacht, vielleicht ist ein Mensch an irgendeinem Punkte plötzlich zutiefst getroffen. Ich habe solche Situationen selbst erlebt, Teil der Verschmähung … es ist dann unmöglich umzukehren, zurückzuschauen … so ist Richard Öhring aus meinem Leben geschieden. Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen. Als wir uns später in Russland wiederbegegnet sind, kannten wir uns nicht mehr.
Ich musste mich der üblichen Musterung für den Militärdienst unterziehen und wurde für tauglich befunden in der Reserve, die am Tage der Mobilmachung einberufen wird. Offen gestanden, ich habe mir nicht viel dabei gedacht. In einer Isolierzelle hätte ich nicht mehr von den Vorgängen der Politik abgeschlossen sein können. Es gibt Spannungen und Proklamationen und patriotische Aufmärsche – aber was ging das mich an? Wir hatten in München in der Gruppe Tat Leute, die an uns verwiesen wurden und die einem Einberufungsbefehl zum Militärdienst nicht folgen wollten, nach der Schweiz verfrachtet, für gewöhnlich zu den Brüdern Gräser in Ascona, die dann die Leute unterbrachten – aber ein tieferer politischer Sinn steckte nicht dahinter; außerdem wurden diese Leute bei den Gräsers, hieß es, schlecht behandelt, wie Sklaven; sie arbeiteten in den Obstgärten für das tägliche Brot, das heißt unentgeltlich. Es gehörte einfach mit zu unserer Routine. Als ich gemustert wurde, hatte ich die Gräsers schon vergessen.
Mein Bewusstsein war schon stark getrübt – wie man heute sagen würde. Ich fand aber bei allen, mit denen ich in Berührung gekommen bin in diesen Wochen, die gleiche Teilnahmslosigkeit. Mein Interesse war konzentriert auf einen Tipp, den ich dem Börsenvertreter eines Berliner Bankhauses gegeben hatte. Die Berliner Firma Eckert Maschinen hatte einen großen Auftrag in Russland untergebracht, der Kapitalerhöhung und Erweiterung der Produktionsanlagen, voraussichtlich auch die Verschmelzung mit einer anderen Firma der Branche notwendig machen würde. Es war ein goldsicherer Tipp, den ich von dem Aufsichtsratsvorsitzenden der für die Verschmelzung vorgesehenen Firma erhalten hatte, den auch das bereits erwähnte Bankhaus mit zu beteiligen hatte. Man konnte mit einer Marge von etwa 100 Punkten schon im Verlauf weniger Wochen rechnen. Der Vertreter, der in Wirklichkeit das Bankhaus leitete, war auf Ferien in die bayerischen Berge gereist und dirigierte täglich von dort aus die Operationen.
Wir blieben mit der Operation stecken. Trotz ständig steigender Käufe von unserer Seite bewegte sich der Kurs nicht. Dabei war der Tipp absolut sicher. Der Kurs ging sogar herunter. Der Mann in den bayerischen Bergen tobte allnächtlich bei mir am Telefon. Schließlich wurde der Kurs überhaupt gestrichen. Das geschah am Tag der Kriegserklärung. Der Krieg Nr. 1, der erste in der Serie der Weltkriege, hatte begonnen.
Auf! – Sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht die Jäger blasen?
Die Straße Unter den Linden zu beiden Seiten entlang zum Schloss zog eine nach Tausenden zählende Menge hin und her, unter infernalischem