Der Weg nach unten. Franz Jung
Politik sein zu lassen, sie mehr innerlich zu verarbeiten und umzusetzen in gute Dichtung. Die Zusagen, die er von mir erwartet haben mag, habe ich verschluckt; ich blieb störrisch. Herr Fischer wollte durchaus mein Zutrauen gewinnen. Er zog aus der Schreibtischschublade das Frühstücksbrot, das er von zu Hause mitgebracht hatte, und gab mir die Hälfte ab über den Schreibtisch hinüber. Ich bin sehr einsilbig gewesen. Der andere Schriftsteller, der zur Auswahl stand, ist Otto Flake gewesen; Flake ist der Standardautor geworden.
Ich war viel mit meinem alten Freunde Max Herrmann-Neiße zusammen; eine Oase in der Wüste. Ich traf mit Theodor Däubler, dem von der Stadtverwaltung die doppelten Lebensmittelkarten zugebilligt waren, zusammen. An und für sich hätte das Däubler nicht nötig gehabt. Wo immer er in den größeren Restaurants am Kurfürstendamm erschien, die Kellner servierten ihm ohne Karten. Trotzdem haben wir auch noch in unserem Kreis Karten für Däubler eingesammelt.
In dieser Zeit erneuerte ich meine Bekanntschaft zu Else Lasker-Schüler, mit der ich schon früher auf den Aktionsabenden bekannt geworden war. Ich traf sie meist im Café des Westens. Sie saß dort viel allein, wie von allen verlassen. Sie war dankbar für jedes freundliche Wort.
Else Lasker-Schüler hatte jeden Kontakt zur Umwelt und den Vorgängen draußen in der Welt verloren. Der Krieg muss für sie etwas Unvorstellbares und auch völlig Unverständliches gewesen sein. Sie hat mich manchmal im Café aufgefordert, sie in ihre Wohnung zu begleiten. Ich erinnere mich an ein typisches Altberliner Zimmer, mit einem kleinen Podium am Fenster, wie das früher war in der guten alten Zeit, als die Bewohner dort ihre Blumentöpfe stehen hatten. Auf diesem Podium saß dann Else Lasker-Schüler auf einem einfachen Rohrstuhl und sah auf die Straße hinaus und in ihre Welt, die Kamelstraßen durch die fernen Wüsten, das seit Jahrtausenden angestammte Land des Prinzen von Theben. Sie sprach vor sich hin und überließ sich den bunten Träumen oder sie rezitierte Gedichte oder las aus Briefen vor, die sie durch Kuriere zu senden beschlossen hatte und die niemals abgeschickt worden sind. Der Besucher saß etwas abseits am Tisch in der Mitte des Zimmers und hörte zu, stundenlang und voller Ehrfurcht.
Die Revolution wirft ihre Schatten voraus
Wir benutzten die Redaktionsräume des Industrie-Kuriers, mit halber Duldung meines Partners, solange ich ihm die Redaktion stellte, für illegale Arbeiten aller Art. Wir hatten Deserteure mit falschen Papieren eingestellt, eine der sporadisch jetzt auftretenden Spartakus-Gruppen, unter meinem Freund Georg Fuchs und dem später in München erschossenen Leviné, stempelte in unseren Räumen die Markscheine mit Spartakus-Parolen. Die Markscheine lieferte ein bekannter sozialdemokratischer Industrieller, der später auch hundert Mark für jeden Deserteur zahlte, der in einer eigens organisierten Durchgangsstelle geprüft wurde. Die Wahrheit zu sagen: Ich sympathisierte mit diesen Dingen, aber ich war nicht mit Herz und Seele dabei.
Ich bin übrigens bald aus dem Industrie-Kurier ausgetreten, nachdem ich schon vorher die Redaktion einem Freunde übertragen hatte. Die ständige Ausweitung der Verbindungen brachte mir die Vertretung Hamburger Transportversicherer. Ich wurde zur Gründung des „Seedienstes“ in Hamburg zugezogen, die geplante Konkurrenz zum Londoner Lloyd, und ich richtete das Berliner Büro des Seedienstes ein. Hierhin konzentrierte ich die ernsteren illegalen Aktionen.
Übrigens etablierte sich dort unmittelbar nach Kriegsende die „Räte-Korrespondenz“, eine für Deutschland damals besonders wichtige Zweigstelle der Komintern, die das kommunistische Kampfmaterial für die Gewerkschaftsbewegung lieferte. Niemals ist dieses Berliner Büro des Seedienstes von der Polizei oder den Gesellschaften, die dafür bezahlten, belästigt worden. Ich selbst erhielt mein Gehalt, aufgeteilt auf monatliche Zuschüsse der Seeversicherungsgesellschaften, noch ausgezahlt, als ich schon, und zwar in Hamburg, wegen Schiffsraub auf hoher See im Untersuchungsgefängnis saß.
Die Lage war allgemein wieder kritischer geworden. Die Gefahr, dass die Militärbehörden sich für mich interessieren würden, wuchs ständig, als neue Nachmusterungen angeordnet wurden. Leute, die halbwegs kriegstauglich aussahen, wurden auf der Straße angehalten und mussten ihre Papiere vorweisen.
Ich hatte ein Haus in einer sozialdemokratischen Siedlungsgenossenschaft im Berliner Vorort Grünau gemietet. Es bedeutete großes Entgegenkommen vonseiten der Gesellschaft, denn die Häuser waren für die Parteiprominenz reserviert, und es wurde besonders strikt auf Reputation gesehen. Für mich war das Siedlungshaus ein großer Schutz; mehr oder weniger war den leitenden Funktionären meine Lage bekannt, wenn auch natürlich nicht der Mehrzahl der Siedlungsmitglieder, besonders nicht den Frauen, deren Männer im Felde standen. Aber es bedurfte nur eines geringen Anstoßes, um mich auffliegen zu lassen.
Dafür hat dann Margot genügend gesorgt. Ich war zunächst mit Margot, dem Kind und Margots Mutter dort eingezogen, Cläre folgte nach. Anfangs schien alles gut zu verlaufen.
Margots Mutter hielt ein paar Hühner und mästete Gänse; wirklich ein Heim tiefsten Friedens. Margots regelmäßig auftretende Explosionen hielten sich in Grenzen und konnten nach außen ziemlich abgedämpft werden. Immerhin hatten sie bereits zur Folge, dass wir alle von jedem Verkehr in der Siedlung abgeschnitten waren.
Dagny wird vielleicht ein Jahr alt gewesen sein, betreut von Margots Mutter im üblichen Stil einer Kinderamme. Beobachtet von Margot, die ständig mit der Mutter stritt; das Kind wird schon mit Entsetzen diese Streitigkeiten in sich aufgenommen haben.
Dagny begann zu weinen. Margot stürzte zum Wagen, um das Kind zu beruhigen. Dagny fing an zu schreien, lauter und lauter, wenn Margot sie dann aus dem Wagen gerissen hatte, hochhob und schüttelte. Die Alte mischte sich ein, die beiden Frauen rissen sich um das schreiende Bündel Mensch.
Dann bekam Dagny die Krämpfe. Die Alte lief mit dem Kind ins Haus. Margot schimpfte hinter der Mutter her.
Sie demolierte den Wagen, hob ihn hoch und schmiss ihn gegen den Zaun. Vor dem Zaun draußen hatten sich schon eine Menge Leute angesammelt. Solche Szenen wurden tägliche Routine.
Es war entsetzlich anzusehen. Ringsum und weithin verstreut das Leid der menschlichen Existenz: Ohnmacht, sich nicht wehren zu können, Unfähigkeit, sich daraus zu lösen, der Schrei, den man schon nach außen nicht mehr hört … das Gesicht zur Fratze verzerrt, die Hände in den Haaren, dann zu Fäusten geballt vor dem Mund … die fremden Leute drückten sich scheu an dem Haus vorbei. Sie wären sowieso mit unflätigen Schimpfworten weggejagt worden.
Der Siedlungsbeirat hat mir das Haus aufgekündigt, mit der im Statut vorgesehenen Begründung: unmoralisches Verhalten. Man gab mir den Rat, so unauffällig wie möglich und so schnell wie möglich zu verschwinden. Ein mir besonders wohlgesinnter Funktionär beschaffte für Margot und das Kind ein gleiches Haus in Hellerau bei Dresden. Mit Cläre zog ich wieder in die Stadt zurück.
Aus der neuen Wohnung, zuletzt in einem Atelier in Friedenau, nahmen wir dann an den Vorbereitungen zur Revolution in verstärktem Maße Anteil. Wir hatten ständig Leute bei uns, die von der Polizei oder den Militärbehörden gesucht wurden. Es herrschte ein reger Durchgangsverkehr, den in der Hauptsache Cläre betreute. Sie gab auch die unter der Hilfe von Pfemfert ermöglichte Hefte-Folge „Die Freie Straße“ heraus.
Von hier aus starteten die einzelnen Spartakus-Gruppen, die in der Umgebung von Berlin, als Wandervögel verkleidet, die Getreidemieten in Brand steckten und den Bauern das Vieh auf der Weide abschlachteten.
Es werden tiefergreifende Vorbereitungen für den Sturz des Kaiserreiches in Deutschland im Gange gewesen sein. Wir waren in unserem kleinen Kreis nur unbedeutende Mitläufer. Wir waren erfüllt von diesem ungestümen Trieb, zu folgen, wo eine Bewegung war – mit den Mitteln und in dem Umfange, wie er unseren Möglichkeiten entsprach. Irgendwelche Perspektiven oder Befehle haben uns nicht erreicht, obwohl wir nur zu eifrig bereit gewesen wären, sie zu befolgen. In der ersten Phase der deutschen Spartakusbewegung waren die spontan entstehenden Gruppen völlig auf sich gestellt.
Wir verfolgten die Entwicklung mehr aus der Dienstboten-Perspektive und durch einen Spalt in der Hintertür.
Ein solcher Spalt war die Pension am Knie in der Bismarckstraße, wo allabendlich die Sekretäre der