Der Weg nach unten. Franz Jung
der Zwischenzeit kam ich in die Landesirrenanstalt Wittenau einige Wochen zur Beobachtung. Die übliche Routine vom Kastenbett auf Holzwolle zur Bettruhe, später im Kittel auf dem Stuhl neben dem Bett, dann ein paar Schritte im Saal hin und her und schließlich der Rundgang im Anstaltsgarten – die Routine ist mir schnell eingegangen. Ich hatte mir nichts Besonderes vorgenommen, keine Stimmen, keine Anfälle – der Maler George Grosz ist in ähnlicher Situation damit schwer reingefallen; er hatte es in langer Praxis und mit großer Kunst fertiggebracht, Schaum vor den Mund zu produzieren, ein besonderer Trick in der Atemtechnik, den Tiefatem ständig zu unterbrechen und abzudrosseln – eine Prozedur, die einem epileptischen Anfall täuschend ähnlich ist. Das Pech für Grosz ist gewesen, dass die andern im Saal ihre Ruhe haben wollten, vor allem aber musste vermieden werden, die Wärter in den Saal zu ziehen. Sobald Grosz seine Technik durch tieferes Stöhnen vorbereitete – lautlos geht so etwas nicht –, fielen die Kameraden über ihn her und prügelten ihn windelweich. Grosz musste die Sache schließlich einstellen – was ich dagegen zu tun hatte, bedurfte keinerlei Anstrengung, es kam sozusagen ganz natürlich und von selbst. Ich zeigte nicht das geringste Interesse, ich las nicht die Zeitung, ich hörte den verschiedenen Gesprächen ringsum nicht zu, ich ignorierte den Wärter und den besuchenden Arzt, der täglich mich ansprach, das heißt, ich gab exakt die Antwort auf das, was gefragt wurde, aber auch nicht ein einziges Wort mehr.
Schließlich konnte ich ein etwas eingehenderes Verhör nicht vermeiden. Es fand im Zimmer des Arztes statt. Ich habe bereitwilligst alles beantwortet, meine Interesselosigkeit, mein Unvermögen, mich anzupassen, überhaupt zu verstehen, was um mich herum vorging und was von mir verlangt wird. Bei dieser Gelegenheit hörte ich auch, dass meine Mutter an die Anstalt geschrieben hatte, mich möglichst für die Dauer dort zu lassen, weil ich, einmal entlassen, ihr Leben bedrohen würde. Auch Margot war vorgeladen worden. Ich entnahm aus Bemerkungen des Arztes, dass Margot einen wenig günstigen Eindruck hinterlassen hatte – was mir wahrscheinlich sehr genützt hat.
Das war alles, was ich von dieser Untersuchung weiß. Den schriftlichen Befund habe ich nicht gesehen. Ich wurde wieder in das Festungsgefängnis zurückgebracht und wartete dort wieder einige Monate auf die Eröffnung des Verfahrens. Ich schrieb ein weiteres Buch für den Aktionsverlag.
Ich wurde eines Tages sang- und klanglos entlassen und in eine Rekonvaleszentensammelstelle gesteckt. Man wusste mit mir dort nichts anzufangen, meine Papiere waren nicht mitgeschickt worden und sind dort, glaube ich, auch niemals angekommen.
Alles, was ich über meinen eigenen Fall weiß, habe ich von dem zu dieser Zeit gerade gegründeten Schutzverband Deutscher Schriftsteller gehört, von Robert Breuer, dem Generalsekretär. Breuer hat alle die Verhandlungen geführt mit den Militärbehörden, die Zeugen gestellt, meinen Status als Militärperson angezweifelt … meine Verschickung an die Front ohne militärische Ausbildung mag den Behörden unangenehm genug gewesen sein … von Breuer hörte ich auch, dass mein ärztlicher Befund als manische Depression, untauglich für den Militärdienst, umschrieben worden ist. Ich verdanke diesem Breuer nicht nur in diesem einen Falle mein Leben.
Wenn ich hier bereits wieder etwas vorgreifen darf: Später, als Breuer in den ersten Revolutionsjahren Pressechef der Reichsregierung geworden war, habe ich ihn einmal nachts zufällig auf der Straße getroffen. Verschiedentlich war ich in Vorgänge verwickelt, die der Verfolgung durch das Presseamt unterstanden, zum Beispiel, als wir an die Auslandskorrespondenten in Berlin eine besondere Korrespondenz „Berlin Expreß“ täglich durch Boten austragen ließen, in der wir über versteckte Waffenlager und die Wiederbewaffnung Deutschlands berichteten – Breuer hat mir darüber keine Vorwürfe gemacht. Er war traurig und sprach sehr besorgt und sagte mir dabei, dass er schon einige dringende Anfragen erhalten habe, warum das Amt mich noch nicht den Gerichtsbehörden übergeben habe; man werde sonst zur Selbsthilfe greifen müssen. Bisher habe er solche Fälle immer noch abbiegen können, aber wie lange noch? – die Warnung kam sehr zur Zeit. Wir schieden damals mit einem festen Händedruck. Ich bin ihm viel schuldig geblieben.
Bis man sich über meinen Status entschieden haben würde, blieb ich in der Revierstube. Der Oberleutnant, dem der Rekonvaleszenten-Haufen unterstellt war, weigerte sich, mich zu sehen, genauer: Er bekam einen Wutanfall, wenn nur mein Name genannt wurde. Der Sanitätsfeldwebel dagegen hatte seine eigenen Pläne mit mir. Die zur ebenen Erde gelegene Revierstube eignete sich sehr gut dazu, das bei der Kompanie übrig bleibende Kommissbrot zu verkaufen. Zu einer bestimmten Stunde versammelten sich vor meinem Fenster die Interessenten, es wurde bald eine lange Kette von Käufern, die anstanden, – ich reichte die Brote heraus, kassierte das Geld, fünfzig Pfennig das Stück – der diensthabende Sanitäter stand schon hinter mir, das Geld sogleich in Empfang zu nehmen. Wahrscheinlich wird der Verkauf mit der Zeit aufgefallen sein. Eines Tages sagte mir der Sergeant vom Dienst, ich hätte sofort zu verschwinden. Er drückte mir eine Mark in die Hand mit dem Befehl, den Bahnhof Spandau zu meiden, mit der Straßenbahn zu fahren und am Spandauer Block umzusteigen. Auf diese Weise würde ich nicht in die Hände einer Militärkontrolle geraten. So wurde ich entlassen – wie schon früher gesagt, sang- und klanglos und ohne das geringste Papier.
Ich darf hier nicht vergessen zu erwähnen, dass manchmal, wenn die Kompanie ausgerückt war, die Knochen zu bewegen, mich die Revier-Sergeanten auf den Hof hinausgehen ließen. Die eine Seite des Hofes war durch einen kleinen Damm abgeschlossen, der mit Gras bewachsen war. Das Grün war mit Sommerblumen gesprenkelt, weiße Margeriten und blaue Glockenblumen. Darüber wuchsen zwei große Akazienbäume empor. Ich hatte mich an dem Abhang niedergelegt und dem Summen der Bienen gelauscht. Falter strichen über die Blumen hin. Und alle Süße der Welt lag in dem Duft der Akazienblüten. Ich habe diesen Duft in Erinnerung behalten, mehr als ich zugestehen mag. So stark, dass, wenn ich heute an einer Akazie vorübergehe, ich zögere, ich habe fast Mühe weiterzugehen – es ist nicht so leicht, eine solche Erinnerung einfach beiseite zu schieben.
Durch Vermittlung des Schutzverbandes erhielt ich eine Stellung als Handelsredakteur am Deutschen Kurier, einer neu gegründeten Berliner Tageszeitung, die von politischen Dissidenten-Gruppen aus Reichstag und Abgeordnetenhaus kontrolliert wurde, ausschließlich zu dem Zweck, die Industriefonds zur Bekämpfung der Steuergesetze zur Verteilung an die politischen Parteien an sich zu ziehen. Trotzdem geriet das Blatt sehr bald in Schwierigkeiten, die Gehälter konnten nicht gezahlt werden, und das Ende war abzusehen.
Mit einem Kollegen am Blatt gründeten wir den „Industrie-Kurier“, Fachblatt für die oberschlesische Eisen- und Kohlenindustrie unter der etwas anzüglichen Firma „Jung & Ehrlich“. Trotzdem wurde das Blatt ein voller Erfolg, wir erhielten Kredit, Ehrlich besorgte die Inserate, ich leitete die Redaktion.
Der Krieg fand unterdessen am Rande statt. Ich habe während dieser Jahre in diesem Geschäftskreis niemanden getroffen, der sich ernstlich für den Krieg und insbesondere für den Ausgang des Krieges interessiert hätte. Zwanzigtausend Mark wurden geboten für die deutsche Friedensfeder, das ist die Feder, mit der Kaiser Wilhelm den Friedensvertrag unterzeichnen würde; ein Leipziger Fabrikant versprach sich mit dieser Feder ein Riesengeschäft – ich konnte sie ihm nicht verschaffen. Die Wellen der Kriegskonjunktur gingen hoch.
Margot wurde davon mit weggespült. Wir hatten wieder eine neue Wohnung genommen, und ein zweites Kind war bereits unterwegs – die Tochter Dagny, die geboren wurde, als ich Margot bereits verlassen hatte und zu Cläre gezogen war, der Frau von Richard Öhring.
Ich bewegte mich in einer immer betonter werdenden Doppelexistenz, als wäre ich von einer geheimen Kraft abgeschirmt und gepanzert. Es wird nicht der Fall gewesen sein, mehr die Flucht vor der Gefahr, wieder in einen Strudel ungelöster und unlösbarer Fragen zu stürzen, in ein Nichts, aus dem ich nicht herauskommen würde. So seltsam das an dieser Stelle klingen mag, ich war nach all dem Feuerwerk der letzten Jahre erwachsen geworden.
Ich war sehr viel ruhiger geworden und ausgeglichener. Im Gegensatz zu meiner redaktionellen Tätigkeit neigte sich mein Interesse wieder mehr der Literatur zu. Ich besuchte Verleger und war die Nachmittage im Café des Westens anzutreffen. Einige der größeren Verleger zeigten Interesse, mich zu einem Autor für den Leserkreis des Verlages zu erziehen, vielleicht für später in Reserve zu halten. Ich hatte eine solche Unterredung mit Sammy Fischer, der mir sehr wohlgesinnt gewesen ist. Der Verlag suchte gerade einen neuen Standard-Autor.