Die Katze und der General. Nino Haratischwili
alle und alles verschluckt. Es bedurfte größter Anstrengung, um das Nächste zu erkennen.
Der Nebel und die feuchte Kälte machten die Menschen angespannter, dünnhäutiger, die ohnehin frostige Stimmung im Dorf war kaum zu ertragen. Auf leisen Sohlen schlichen die Frauen umher, gingen still ihren Alltagsbeschäftigungen nach, während sich die Männer in kleinen Gruppen nachdenklich und geheimnistuerisch in die Hinterzimmer zurückzogen.
Der Winter würde bald mit seiner für diese Gegend gewohnten Schonungslosigkeit über die Schlucht hereinbrechen. Die Bewohner wappneten sich und stellten sich auf die frostigen, sternenklaren Nächte und eisigen Morgenwinde ein. Aber es war auch noch etwas anderes, das in der Luft lag, nein, vielmehr lauerte es dort, und sie konnte es nicht in Worte fassen, sie kannte diese Stimmung nicht, sie wusste nur, dass sie nichts Gutes bedeutete. Aber anders als alle anderen wollte sie sich nicht von Sorgen und Ängsten lähmen lassen. Sie wollte sich auf den ersten Schnee freuen, wie sie es jedes Jahr tat. Sie wollte mit der kleinen Asma Schneeballschlachten veranstalten und Schlitten fahren – trotz Mutters Gejammer, dieses Verhalten schicke sich nicht mehr für eine junge Frau ihres Alters. Sie wollte das Knirschen unter ihren Füßen spüren, wollte die weiße Decke von den dünnen Ästen der moosgrünen Tannen schütteln und dabei lachen, sinnlos, einfach so, wie sie es schon immer getan hatte und auch immer noch tun wollte.
Schließlich war es nichts Neues, dass die Alten ihr hinterherzischelten, sie mit ihren Blicken verdammten, sie kannte das, sie war daran gewöhnt, und auch jetzt, trotz der eisigen Stimmung, trotz der schwer in Worte zu fassenden Bedrohung, die in der Luft lag, würde sie sich davon nicht abschrecken lassen, würde keinen Umweg nehmen, um zur Mühle zu gelangen und dort das vorbestellte Mehl abzuholen. Sie würde nicht den Kopf senken. Sie musste nur kurz die Augen schließen und sich Natalia Iwanownas dünne, hauchige Stimme vorstellen, die ihr in ihrem feinen Russisch zuflüsterte: »Was ist das für eine Haltung? Geht so eine stolze Kaukasierin? Mach den Rücken gerade! Eine Frau mit krummem Rücken, mit geduckter Haltung wird sich niemals durchsetzen können! Gut so, wie eine Bolschoi-Ballerina, jawohl! Geht doch! Gut gemacht, Madame! Und nun müssen wir an deiner Osanka arbeiten!« Nura hatte schon immer geliebt, wie sie dieses Wort sagte, jede Silbe einzeln betont, und obwohl es nichts anderes hieß als Körperhaltung, bekam es dadurch einen weiteren, einen tieferen Sinn. Es war leicht, sich Natalia Iwanownas Stimme ins Gedächtnis zu rufen, schließlich hatte sie ihr die magische Formel beigebracht, die jede Widrigkeit, jeden lästigen Umstand, jede Zumutung des Lebens erträglicher machte. Ihre Stimme war nach wie vor so lebendig, als hätten sie sich erst gestern voneinander getrennt, und irgendetwas sagte ihr, dass es ihr ganzes Leben lang so bleiben würde. Mit ihren Worten im Ohr umarmte Nura ihren Stolz umso fester und überquerte erhobenen Haupts und mit kerzengerader Osanka den Marktplatz.
»Du musst dich konzentrieren! Die Fantasie verträgt keine Beliebigkeit und schon gar keine Nachlässigkeit. Du musst sehr präzise sein in dem, was du dir vorstellst!« Der Nebel umhüllte sie jetzt dicht wie eine Pelzstola, und für einen Augenblick glaubte sie, es wäre Natalia Iwanownas Werk, ihre Zauberei, um sie vor den missgünstigen Blicken und vor dem Geflüster zu schützen, das ganz sicher für ihre Ohren verletzend war.
Die Schlucht schlummerte, ließ sich vom Nebel in den Armen wiegen, und die Berge schienen den Atem angehalten zu haben. Immer wieder malte sie sich aus, wie sie eines Tages das Dorf verlassen würde, vielleicht sogar für immer, eine Erkenntnis wie eine Unvermeidbarkeit, diese Gewissheit schien sich in ihren Körper und in ihre Gedanken eingeschrieben zu haben, es war anders nicht denkbar, aber dennoch, wenn sie sich die Szene genau vergegenwärtigte, dann zog sich etwas in ihr zusammen. Und das nicht wegen der Menschen, nein, vielmehr wegen dieser Berge, wegen der Nähe zum Himmel. Hier schien sie nur eine Hand ausstrecken zu müssen, und schon konnte sie die Wolken streifen, nur eine Armbewegung, und schon konnte sie den Himmel ertasten, und wenn nicht ertasten, so doch zumindest einatmen.
Das erste und bisher einzige Mal, dass sie in einer Stadt gewesen war – und zwar in einer richtigen Stadt und nicht in einem dieser umliegenden Provinznester –, war sie von dieser Feststellung überwältigt worden, dass dort weder die Sterne noch der Himmel sichtbar waren, oder vielmehr war ihr der Himmel wie eine Attrappe vorgekommen, er hatte so gewirkt, als hätte ihn ein schlechter Maler nachzuahmen versucht und wäre dabei kläglich gescheitert. Damals war sie zehn gewesen und an der Hand ihres Vaters durch breite Straßen gelaufen und hatte Autos an ihnen vorbeijagen gehört, und obwohl sie sich merkwürdig gefühlt hatte, fremd und ungewohnt, war es ein wunderbares, ein aufregendes Gefühl gewesen, sie hatte etwas auf ihrer Zunge schmecken können, das sie bis dahin noch nie geschmeckt hatte und das für sie mittlerweile auch einen Namen hatte: Freiheit. Aber vielleicht war dieser Geschmack auch von der Tatsache intensiviert worden, dass sie dort mit ihrem Vater gewesen war, nur sie allein, ohne die Mutter mitsamt ihren Regeln und Verboten, und dass Vater ein anderer schien, so locker und gut gelaunt, so kindlich verspielt und so leicht, als wäre eine tonnenschwere Last von seinen Schultern gefallen. Lange war es her … Und auch die Erinnerung an ihn als einen frohen und zufriedenen Mann kam ihr mittlerweile fast unwirklich vor.
Der Mühlenbesitzer Avlan wischte die Hände an seiner Schürze ab und grinste über beide Ohren. Dann fragte er nach der Gesundheit der Mutter und erkundigte sich nach den Schwestern. Eigentlich interessierte er sich nur für Malika, die Älteste von den dreien. Aber es war ein hoffnungsloser Fall. Malika war schon längst eines anderen Mannes Frau, und auch er wusste um die Hoffnungslosigkeit seines Verlangens, wollte aber nicht ganz aufgeben, konnte sich noch nicht mit seinem Schicksal abfinden. Schon immer hatte Nura ihn bemitleidet. Es war von Anfang an eine törichte Sehnsucht, niemals hätte Malika ihn zum Mann genommen, und vor allem hätte sich die Gelajew-Familie niemals mit der seinen verschwägert. Er galt als zu weich und zu weibisch für die Berge, eine Art Kollateralschaden für den Taip, unvermeidbar und von minimalem Nutzen, nicht der Hauch eines Kriegers war in seinem Blut, und somit war er auch kein richtiger Nochtscho. Malika aber, die es liebte, gesagt zu bekommen, wo es langging, empfand eine fast erotische Verzückung dabei, sich unterzuordnen. So wäre diese Bindung schon allein aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt gewesen.
– Sehr gutes, sehr fein gemahlenes Mehl wie von deiner Mutter bestellt, ganz hervorragend geeignet für Chepalgaschi. Sie ist ja eine wahre Meisterin darin. Ich habe einmal beim Geburtstag deines Großvaters die Chepalgaschi deiner Mutter gekostet und habe den Geschmack immer noch im Mund, himmlisch!
Sie fragte sich, ob er übertrieb, weil er sie für sich einnehmen wollte, oder ob er davon wirklich überzeugt war. Mutter kochte wirklich gut, aber das taten die meisten Frauen im Dorf. Sie lächelte ihm zu und warf einen Blick nach draußen. Der Nebel war noch dichter geworden, graue Mauern hatte er in den Straßen des Auls errichtet.
– Wirklich gemein, dieser Nebel, nicht?
Avlan täuschte eine Art Schüttelfrost vor und grinste dämlich. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, aber sie wusste, dass die beiden Männer, die sich vor dem Eingang unterhielten, sie ununterbrochen beäugten, und da sie kein zusätzliches Ärgernis auf sich ziehen wollte, unterließ sie es und ärgerte sich im gleichen Augenblick über ihre Selbstbeherrschung.
– Und die gute Malika, geht es ihr gut? Besucht sie euch ab und zu?
Avlan konnte sich weitaus weniger beherrschen.
– Spätestens zum Opferfest wird sie kommen, da bin ich mir sicher. Ansonsten … also, ich hoffe, dass es ihr gutgeht.
Sie hoffte es wirklich. Malika hatte vor fast einem Jahr geheiratet und war nach Urus-Martan gezogen. Ob sie glücklich war, wusste man nicht, Mutter jedenfalls hatte sie mit ihrer Heirat sehr glücklich gemacht. Es war ein starker Clan, dem Vater des Bräutigams gehörte eine Seifenfabrik in Urus-Martan, sie galten zwar als assimiliert, aber auch nicht als Speichellecker, und so war es die Erfüllung eines Traums und gleichzeitig eine Rangerhöhung, die Malika und der ganzen Familie zuteilwurde; nach der Schande, die Vater über die Familie gebracht hatte, eine regelrechte Wiedergutmachung, ein Friedensvertrag. Mutter hatte schon immer auf Malikas Karte gesetzt. Erstens war sie die Gehorsamste, zweitens war sie ein »richtiges« Mädchen mit »richtigen« Mädchenträumen, die sich alle um einen starken und mächtigen Mann drehten, und drittens war sie die Hübscheste. Asma war noch zu klein, und man wusste nicht, in