Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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wollte man den Zeitpunkt nutzen und die ungebetenen Gäste endlich verabschieden.

      Natalia Iwanowna hatte zeit ihres Lebens nirgendwo dazugehört, und nun konnte ihr dieser Umstand zum Verhängnis werden. Im Süden war schon Blut geflossen – in Georgien hatte es begonnen, in Armenien und Aserbaidschan hatte es sich fortgesetzt, und nun konnte man diesen metallenen Geruch auch hier im Norden riechen. Sie verkroch sich in der Scheune und fing an zu zaubern. Nun zauberte sie nicht mehr für die anderen, Kinder und Jugendliche, sondern für sich. Sie fantasierte, sie reiste durch das antike Griechenland und schwebte in pompösen Kleidern und mit turmhohen Perücken durch Versailles und Fontainebleau. Sie war Herrin über ganze Welten, die sie in ihrer Vorstellung erschuf. Da sie keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, unterrichtete sie die Kinder nur noch gelegentlich in Russisch, da Russisch im letzten Jahr vom Lehrplan der Schulen gestrichen worden war, manche Eltern aber weiterhin darauf beharrten, dass ihre Kinder die Sprache beherrschen sollten. Ihre »Denkanstöße« und Vorträge ließ sie von diesem Zeitpunkt an sein. Bis sie aufeinandertrafen und Natalia Iwanowna, als wäre sie vom Leben geküsst worden, aus ihrem Winterschlaf erwachte.

      Das erste Treffen war eines der knappen, leisen Worte, passend zu dem kniehohen Schnee und doch gleich einer Initiation, die Einweihung in eine Zauberei. Nura war wieder einmal zu der Scheune geschlichen und wie eine streunende Katze um das Haus herumgelaufen, in der Hoffnung, aufgespürt, entdeckt zu werden. Und sie wurde entdeckt.

      – Komm doch rein, meine spärliche Behausung scheint dich ja regelrecht anzuziehen!

      Das war das Einzige, was sie zu ihr sagte, als sie die Tür öffnete. Natalia Iwanowna saß bei einer dampfenden Tasse Tee an einem kleinen Beistelltisch, den sie als Esstisch nutzte, und starrte mit ihren hellblauen Augen und dem Ausdruck höchster Konzentration durch die auf ihrer Nasenspitze sitzende Brille auf einen bunten Würfel, wie ihn Nura noch nie gesehen hatte. Er wirkte wie ein Spielzeug für Erwachsene.

      – Was ist das?

      – Das ist ein Kubik-Rubik, ein sogenannter Zauberwürfel, kurzum: ein Drehpuzzle. Kennst du ihn nicht?

      – Nein.

      – Ja, vielleicht ist es besser so, ich beiße mir an diesem dummen Ding die ganze Zeit die Zähne aus.

      – Wieso?

      – Ich kriege es einfach nicht hin, egal was ich tue, es will mir nicht gelingen. Mein Mann hat mich deswegen schon so oft ausgelacht, er meinte, ich würde aussehen, als müsste ich das Geheimnis des Lebens lösen, aber irgendwie habe ich an diesem Ding einen Narren gefressen, aber es klappt und klappt nicht. Vielleicht gelingt es dir ja, sagte sie und reichte ihr den bunten Würfel.

      Es war wie nach Hause kommen. Es war vertraut, auch wenn auf eine unbegreifliche, unlogische Weise. Der Zauber war allgegenwärtig. Und jeden Abend, wenn sie heimkam und sich die zornigen Blicke ihrer Cousins und die vorwurfsvollen Sätze ihrer Mutter wie eine Lawine über sie ergossen, fragte sie sich, wie sie ohne all dieses Wissen, ohne all dieses Können bisher hatte leben können. Es war Glück, pures Glück, das sie in dieser einfachen Scheune antraf. Und das Aufregendste war, dass sie auch das Vertraute und teils Verhasste durch Natalia Iwanownas Augen anders zu begreifen und sogar schätzen lernte. Dank ihr verliebte sie sich in die Schlucht und in den unzähmbaren Fluss. Sie wurde versöhnlich gegenüber der Vergangenheit und übte sich in Vergebung.

      Ja, sie musste ihm vergeben, Vater, eine Bezeichnung, die sie seit seinem Fortgang nicht mehr in den Mund genommen hatte, als würde sich ihre Zunge an den Buchstaben verbrennen. Das Wort war gelöscht worden, aus der Wirklichkeit, aus der Gegenwart, als hätte es nie einen gegeben, auch wenn Mutter nichts anderes tat, als ihm nachzutrauern, auch wenn das ganze Dorf nichts anderes tat, als sich monatelang die Mäuler über ihn zu zerreißen.

      Und manchmal, da hasste sie ihre Sehnsucht, weil sie Angst hatte, es könnte sein Erbe sein, das in ihren Adern floss. Und dann würde es sich eines Tages vielleicht gar nicht als Sehnsucht entpuppen, sondern als ein Fluch. Wäre sie demnach auch dazu verdammt, stets die Suchende zu bleiben, getrieben und nie zufrieden, unfähig zum Glück? Er hatte nicht anders gekonnt, das ahnte sie und hasste sich, dass sie jetzt noch versuchte, eine Entschuldigung für ihn zu finden. Er hatte es hingenommen, seine Familie durch sein Handeln zu Aussätzigen zu machen. Wie stark musste der Fluch sein, dass er nicht anders konnte, als zu tun, was er getan hatte? Ja, Schande hatte er über die Seinen gebracht und blieb verschwunden, hatte sich aus jeder Verantwortung gezogen.

      Die Jahre davor waren eine einzige Aneinanderreihung von Peinlichkeiten gewesen. Und dieses Desaster mit den Schafen! Als Mutter feststellte, dass seine »Verrücktheiten« wiedergekommen waren, beschloss sie, ihm unendlich viele Aufgaben aufzuladen, damit ihm keine Zeit für seine »Absonderlichkeiten« blieb. Sie hatten nie Schafe besessen, Pferde ja, Hühner sowieso, aber nie Schafe. Also beschloss sie, er solle eine Schafherde beaufsichtigen und sie in die Hochebene treiben, wo es wenig Ablenkung gab, wenig, was er kaputt machen konnte. Er erwiderte zu Beginn nichts, was sie als Erfolg verbuchte, aber keine zwei Wochen später hatten sich die meisten Schafe in der Hochebene verirrt und manche waren gar in Schluchten gestürzt. Auf die allgemeine Empörung hatte er nur erwidert, dass es der freie Wille der Tiere gewesen sei. Es war der Anfang vom Ende gewesen. Bis zu seinem Verschwinden folgte für Mutter eine unerhörte Peinlichkeit nach der anderen. Und sie überlegte zwischendurch sogar, ihm eine jüngere Frau zu suchen, eine inoffizielle, aber geduldete Mitgestalterin seines Glücks, aber es sollte nicht mehr dazu kommen. Er ging fort und ließ sie mit ihren Erinnerungen und ihrer Pein allein. Und diese Erinnerungen waren nicht so leicht zu löschen, die Jahre, die sie an seiner Seite verbracht, und drei Kinder, die sie von ihm bekommen hatte, nichts davon konnte sie ungeschehen machen. Immerzu musste sie in Sorge leben, dass ihre Kinder etwas von ihm abbekommen, dass sie auch »verrückt« werden, tagelang schweigen oder wochenlang in einer Berghöhle übernachten würden. Sie selbst war schon immer eine Frau, die nach den Adat-Gesetzen lebte, die auch im Sozialismus und in der Kolchosära beten gegangen war. Ja, sie war eine, die sich am meisten vor dem fürchtete, was ihre mittlere Tochter sich am meisten ersehnte: anders zu sein, auch wenn man dadurch bei der Gemeinschaft in Ungnade fiel.

      Der erste Skandal, so erzählte man sich, hatte sich gleich in den ersten Monaten ihrer Ehe, als ihre Mutter mit Malika schwanger gewesen war, ereignet – als er eines Tages splitterfasernackt im Fluss baden ging und bei der Dorfmiliz landete. Die Geschichte, wie er auf dem Geburtstag seines Schwiegervaters vom Onkel seiner Frau verprügelt worden war, erzählte man sich noch immer als lustige Anekdote. Es hatte eine hitzige Diskussion mit dem engstirnigen Onkel gegeben – und da hatte jeder eine andere Version gehabt, um welches Thema es damals gegangen war, von Völkerumsiedelung bis Breschnew bis zu einer bestimmten Schafzüchtung war alles dabei gewesen –, und da hatte er auf einmal begonnen, den Onkel mit Essen zu bewerfen, Brot und Käse, alles flog dem alten Mann an den Kopf. Was sich für Mutter als am schlimmsten erwies, war die Tatsache, dass sie all das und noch viel mehr erduldet hatte, nur um am Ende zur Aussätzigen des Auls zu werden und mit leeren Händen dazustehen, und doch nicht sagen konnte, ihre Opfergaben, ihre Engelsgeduld, ihre schier unmenschliche Ausdauer hätten sich ausgezahlt. Diese Ungerechtigkeit raubte ihr seit seinem urplötzlichen und wortlosen Fortgang den Schlaf, kanalisierte ihre über die Jahre so zerstreute und hilflose Wut.

      Der Nebel sank tiefer hinab. Wie eine Schlange wand er sich durch die Felsen der Schlucht. Hoffentlich würde sie es vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause schaffen. Die Nacht versprach eisig zu werden. Der Frost würde nach dem Nebel kommen, aber er würde kommen und gnadenlos sein. Vor dem Haus der Osmajews blieb sie stehen, sie hörte hinter sich Geraschel und drehte sich erschrocken um.

      – Du bist doch sonst immer so mutig, jetzt machst du dir in die Hose, was?

      Es war Musa, der Störenfried. Sie atmete erleichtert auf, und zugleich spannte sich ihr ganzer Körper an. Er kam ihr nah, näher, als es der von den Ahnen festgelegte Abstand zuließ, es war der Nebel, der ihn übermütig machte. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Und irgendwie hatte er es auf sie abgesehen. Jeder Papierball, den er warf, galt ihr, jedes Ziehen musste das Ziehen an ihrem Zopf sein, jeder Witz über die Mädchen musste in ihrer Abwesenheit gesprochen, jeder Streich vor ihren Augen ausgeführt werden. Seit sie ganz klein waren und auf Familienfesten im Hof


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