Die Katze und der General. Nino Haratischwili
schmerzlich. Aber vielleicht würde sie es schaffen, und dieser Ort würde Asma nicht in seinen Bann ziehen und mit seinen stahlharten Regeln und Doktrinen infizieren, vielleicht würde sie es schaffen, für ihre Schwester das zu werden, was einst Natalia Iwanowna für sie gewesen war: ein Anker. Ja, vielleicht, wenn es ihr gelungen wäre, wenn sie erst nach Grosny, später nach Moskau, später nach … Ja, wohin eigentlich? Ja, vielleicht nach Mexiko gegangen wäre, ja warum nicht nach Mexiko, schließlich wurden da ja solch fabelhafte Serien gedreht wie Simplemente María, und sie würde in einer dieser Serien mitspielen, und wenn sie endlich dort angekommen wäre und eine bunte Hazienda bewohnte mit Papageien und überdimensionalen Kakteen im Garten, würde sie Asma zu sich holen und mit ihr die Freiheit üben, täglich, mit eiserner Disziplin, so wie es einst Natalia Iwanowna mit ihr getan hatte, und Asma würde begreifen, dass ihre Welt nur eine der endlos vielen Varianten der großen Welt war und keineswegs die absolute und einzig richtige, und dann würde vielleicht auch Mutters Herz erweichen, denn immerhin wären sie zu zweit, und die Mutter würde sie besuchen kommen und staunen, in welchen Technicolorfarben sich das mexikanische Leben ihrer Töchter abspielte. So stur, wie Mutter war, würde sie dennoch niemals ihr Land, ihr Aul, gänzlich verlassen wollen, aber vielleicht würde sie ein paarmal im Jahr den Ozean überqueren und mit ihren Töchtern Ausflüge zu den schönsten Orten Mexikos machen.
Natalia Iwanowna war vor etwa vier Jahren ins Dorf gekommen, eine Russin, die einen Tschetschenen geheiratet hatte und mit ihm nach Grosny gezogen war. Beide waren ehemals Lehrer, die es sich aus irgendeinem für Nura nicht nachvollziehbaren Grund zur Aufgabe gemacht hatten, durch die abgelegensten Dörfer des Nordkaukasus zu ziehen und dort Kinder zu unterrichten. Sie gingen nicht in die Dorfschulen, sie boten ihren ganz eigenen Unterricht an, in improvisierten Klassenräumen ihrer Privatunterkünfte. Sie lebten von den Gaben und Almosen, die ihnen die Eltern aus Dankbarkeit für ihre begeisterten Kinder zukommen ließen, und sahen ihren Auftrag darin, »Denkanstöße jenseits der herrschenden Normen« zu vermitteln. Sie brachten einen ganzen Kofferraum voller Bücher und etwas ebenfalls ganz Wunderbares mit: ein Fernsehgerät mit einem integrierten Videorekorder und eine Vielzahl an Videokassetten, die sie mit der Hand beschriftet hatten. Eine magische Welt wurde dort offenbar und zog die Kinder scharenweise an. Von alten Chaplinfilmen in raubkopierter, schlechter Qualität über Visconti bis zu knalligen Actionstreifen aus Hollywood – alles war dabei, sogar Bollywoodfilme. Vor jeder Vorführung wurde ein Vortrag über den jeweiligen Film gehalten und im Anschluss fand eine Diskussion darüber statt. In der Stunde vor der Filmvorführung erzählten sie den Kindern etwas über die Entstehungsgeschichte und die Schauspieler, über die jeweilige Epoche und die weltgeschichtlichen Ereignisse zu der Zeit. Nach der Vorführung mussten die Kinder ihre Eindrücke mitteilen. Und da reichte es nicht zu sagen, ob der Film ihnen gefallen hatte oder nicht, sie mussten argumentieren und miteinander debattieren. Es gab keine Kriterien, keine Doktrin eines guten Geschmacks, alles konnte gedacht und gesagt werden. Viele der Anwesenden fühlten sich von dieser Übung überfordert. Niemals zuvor war es ihnen erlaubt worden, ihre eigene Meinung zu äußern. Stets waren es die Adat-Gesetze, die ihr Leben regelten, stets waren es die Eltern und Großeltern, die Dorfältesten, die Partei und die Imame, die ihnen sagten, was sie zu tun und zu lassen hatten. Und nun waren da auf einmal zwei Zauberer, die sie in eine magische Wirklichkeit entführten, in der so viel erlaubt schien. Nicht alle kamen mit dem Freiraum klar, viele blieben nach ein paar Sitzungen weg oder die Eltern witterten Unheil und verboten es ihren Kindern, zu dem schrägen Paar zu gehen. Aber andere waren froh über die Begeisterung in den Gesichtern ihrer Sprösslinge und kümmerten sich nicht weiter um die Inhalte, die das Paar ihnen vermittelte. So oder so, die beiden würden wieder fortziehen, und ihre Kinder würden wortlos zu ihrem kargen und streng reglementierten Alltag zurückkehren, denn das war das Gesetz der Berge, das Gesetz der Ahnen, hier herrschte das jahrhundertealte Gesetz der Wainachen.
Aber in ihrem Fall war alles anders. Die Saat traf auf einen mehr als fruchtbaren Boden. Ein Unglück sollte sich für sie als pures Glück herausstellen. Natalia Iwanownas Mann starb plötzlich an einem Herzinfarkt, als sie gerade einmal ein paar Wochen in der Argun-Schlucht waren. Sie hatten eine kleine leerstehende Holzscheune am Rand des Hauptweges gemietet, und eines Abends fiel der bärtige, gutmütige Mann um, bevor Nura sich seinen Namen überhaupt hatte merken können. Natalia Iwanowna trauerte lange. Sie trauerte anders als die Frauen im Aul. Sie trauerte stumm und ohne feste Riten. Sie trauerte für sich allein. Die Dorfbewohner redeten darüber, aber keiner mischte sich ein, sie war keine Nochtscho, sie war eine Fremde, eine gottlose Sozialistin aus dem Norden, woher sollte sie schon wissen, wie man richtig trauerte, wie man einen Mann gebührend beweinte? Ja, ja, die Städter waren verkommen, sie waren vom Weg abgekommen, die Kommunisten hatten sie korrumpiert, aber es bestand Hoffnung – so flüsterten es die Alten –, seit kurzem gab es sie wieder, diese quälende Hoffnung, seit der Riese wie ein kranker Elefant umgekippt war, seit die Wainachische Demokratische Partei gegründet, seit die Unabhängigkeit ausgerufen worden war! Es gab Hoffnung, dass Allah dem Land erneut seinen Segen schenken würde!
Erst nach und nach wagte sich die fremde Frau ohne Kopfbedeckung wieder auf die staubigen Dorfstraßen, wie ein vom Rest der Schar abgekommenes Vögelchen irrte sie ziellos umher, kaufte ein paar Lebensmittel ein. Nura beobachtete sie aus dem Fenster, wie sie an ihrem Hof vorbeiging, und hatte ein Gefühl im Herzen, als würde es von innen zerreißen. Damals wusste sie so wenig über diese fremde Frau, die aus einer anderen Welt gekommen war, und doch fühlte sie sich so vertraut an, etwas an ihrer Art zu gehen, an ihrer Art, in die ungewisse Ferne zu gucken, etwas an ihrer Verlorenheit erinnerte sie an sich selbst, als hätte sie ihr Leben lang nach Wurzeln gesucht, ganz anderen Wurzeln, nicht denen, die in die Erde gingen, fest und hart, nein, nach solchen aus Gedanken und Empfindungen.
Einmal lief sie ihr heimlich hinterher, durch den alle Geräusche verschluckenden, hohen, provozierend weißen Schnee, fasziniert von dem, was diese Frau ausstrahlte und für das sie selbst keine Worte fand, etwas, das sie später als selbstgenügsam bezeichnen sollte. Diese Frau schien nichts und niemanden zu brauchen, sie war voll von etwas, ein Etwas, das man nicht sehen, aber spüren konnte, nur traurig war sie, weil sie einen geliebten Menschen verloren hatte, und zu gern hätte Nura erfahren, wie ihre Liebe gewesen war, ob ihr Mann auch einer war, der alles hatte, was er brauchte, und in ihr keine Notwendigkeit sah, sondern eine Bereicherung? In all den Monaten an der Seite von Natalia Iwanowna sollte es ihr nicht gelingen, ihr Geheimnis zu lüften, es war ihr nicht vergönnt, zu begreifen, wie sie so leben konnte, so ohne jede Bedürftigkeit. Wie alles, was sie tat, alles, was sie war, auf Freiwilligkeit basieren konnte. Aber irgendwann spielte es keine Rolle mehr …
Natalia Iwanowna blieb lange in der Schlucht, länger, als sie je zuvor irgendwo geblieben war, und genau das erwies sich für Nura als Glücksfall, als Rettung. Der Tod ihres Mannes stürzte Natalia Iwanowna in eine Krise. Als wäre ihr alles einerlei geworden, als hätte sie nur mit ihm zusammen den Sinn in dem finden können, was sie tat. Kinder gab es keine, feste Bindungen auch nicht. Ein Nomadenleben hatten sie gelebt, sich ergänzt, niemanden außer ihren Schülern gebraucht. Sie hätte nach Grosny gehen können oder nach Machatschkala, vielleicht nach Tbilissi oder Jerewan, irgendwie schien sie an den Kaukasus gekettet zu sein wie einst Prometheus, von dem sie Nura eines Tages erzählt hatte, bei einem Tee mit Honig und einer dünn geschnittenen Zitronenscheibe. Zu Leningrad, das mittlerweile wieder St. Petersburg hieß, wo sie geboren und aufgewachsen war, hatte sie keine Beziehung mehr, nichts lockte sie zurück. Die Berge waren ihr Zuhause geworden. Mit dem hellblauen Lada Niva waren sie einer vagen Sehnsucht folgend durch den Kaukasus gefahren, hatten die Heerstraße bereist, einem Gefühl oder vielleicht einer Hoffnung auf der Spur. Und nun gab es keinen Ort für Natalia Iwanowna, keine Sehnsucht, die stark genug wäre, um sich erneut auf den Weg zu machen durch die endlosen Weiten, denn das Ziel schien trüb, unscharf.
Und noch etwas brachte sie dazu, dass sie immer mehr den Rückzug suchte und sich immer weniger in die Berge traute – der mit der Ausrufung der Tschetschenischen Republik Itschkerien einhergehende Nationalismus. Seit Inguschetien der Russischen Föderation beigetreten war, Tschetschenien diesen Schritt aber verweigerte, wurde die Luft für sie immer dünner. Überall im Kaukasus wurden Stimmen laut, die die Welt in zwei Lager spalteten, in das der Freunde und das der Feinde, und zu Feinden wurden alle, die nicht das Gleiche wollten und forderten, überall wollte man nun für sich und unter sich sein, lange genug waren die ungebetenen