Die Katze und der General. Nino Haratischwili
der Suche nach meiner Rolle in dieser Geschichte hatte ich viele Varianten durchprobiert, und die, die mir am ehrlichsten erschien, war die, die mir am wenigsten gefiel. Vielleicht hätte ich es auch jetzt stillschweigend hinnehmen müssen wie schon damals, bloß der Bote zu sein, die Krähe und nichts weiter.
An der säuerlich riechenden Plastikflasche nippend, musste ich an die Geschichte von Koronis denken. Daran, wie der allmächtige Apoll die Königstochter Koronis beim Baden erblickte und sich in der Liebe zu ihr verlor. Wie sie zusammenkamen und wie sie von ihm schwanger wurde, und da er als vielbeschäftigter Gott seinen göttlichen Geschäften nachgehen musste und es ihm nicht möglich war, immer in der Nähe seiner irdischen Geliebten zu weilen, stellte er ihr einen wunderschönen weißen Singvogel zur Seite. Der Vogel sollte über Koronis wachen und dem bis zum Wahnsinn verliebten Gott Bericht erstatten, was seine schwangere Geliebte in seiner Abwesenheit trieb. Aber der schönen Koronis wurde es auf Dauer zu langweilig, die göttliche Liebe allein war dann doch nicht ausreichend, und so zeigte sie sich nicht abgeneigt, als der Arkadier Ischys ihr Avancen machte. Sie betrog den allmächtigen Gott mit dem sterblichen Jüngling, denn er war da, er war echt, er war aus Fleisch und Blut. Und im Unterschied zu dem goldenen Käfig, in den die Liebe Apolls sie gesteckt hatte, machte die Liebe zu Ischys sie frei, leicht und unbekümmert. Apoll, geblendet von seinem Zorn und seinem Schmerz, verwandelte den Überbringer der schlechten Botschaft in ein schwarzes, hässliches Tier und verdammte es dazu, zu krächzen, statt zu singen, und fortan bevorstehendes Unheil anzuzeigen. Seither trägt dieser Vogel auch den Namen der Untreuen: Corvus corone corone – die Rabenkrähe.
2016/Der General
Die Skulptur, die er betrachtete, war klein, nicht einmal vierzig Zentimeter maß sie, aber in ihrer Wirkung erschien sie ihm weitaus größer und gewaltiger.
Das Museum hatte gerade geschlossen, vor dem Eingang standen noch vereinzelt Gruppen, die meisten Touristen, unschlüssig, wie sie den Berliner Abend fortsetzen sollten. Er schickte eine junge Mitarbeiterin, die den Schreiberling, wie er ihn in Gedanken nannte, in Empfang nehmen und zu ihm führen sollte. Der General bedachte das Museum mit großzügigen Spenden, und so konnte er einiges an Entgegenkommen beanspruchen, wie zum Beispiel nach der offiziellen Schließung des Museums einen ganzen Ausstellungssaal für sich zu haben.
Der Schreiberling wurde in den Raum geführt, wo der General auf einer Bank vor dem Marienkopf aus Holz saß, dem gläserne Tränen die Wangen herunterliefen. Der General war allein gekommen, ohne Leibwächter. Die Mitarbeiterin überließ den Besucher seinem Schicksal und entfernte sich mit leisen Schritten. Der General spürte den Blick auf seinem Rücken und seinem kahlen Kopf. Wie ein Stück Traum in die Realität montiert, dachte er in dem Augenblick.
– In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden Büsten der trauernden Gottesmutter zu einem der beliebtesten Motive privater Andacht in Spanien und vor allem in Andalusien. Und dieses Prachtexemplar gehört aufgrund seines ausgeprägten Verismus zu den wohl Beeindruckendsten dieser Gattung. Pedro Roldán, so hieß der Schöpfer des Kunstwerks.
Er sprach ruhig, als richtete er seine Worte nicht an jemand Bestimmten. Er machte sich keine Mühe mehr, es seinem Gegenüber zu erleichtern, seinen Gedankengang mitzuverfolgen. Früher hatte ihm seine Tochter unterstellt, seine Liebe zu Metaphern sei eine Form von Wichtigtuerei, das komme wohl daher, dass er einfach gewohnt sei, dass die Menschen mit ihm Schritt hielten und nicht andersherum.
– Diese Mater dolorosa zeigt nicht unbedingt eine tatsächliche Station im Leben Marias, keinen Punkt auf der biografischen Zeitachse, es ist vielmehr dieser über der Zeit stehende Zustand der Trauer. Maria scheint physisch anwesend, man kann sie berühren, die gläsernen Tränen sind erschütternd echt, ihre Trauer ist omnipräsent.
Unvermittelt verstummte er und drehte sich zu dem Schreiberling um. Onno stand inzwischen direkt hinter ihm. Bestimmt fiel ihm eine Veränderung an seinem Äußeren auf. Das gealterte Gesicht, die dunkler gewordenen Augenringe, die fahler wirkende Haut und die grauen Haare in seinen Augenbrauen. Vielleicht aber auch nicht. Es spielte so oder so keine Rolle, was der Schreiberling dachte oder von ihm hielt.
– Hallo, sagte Onno und nickte ihm unmerklich zu. Er beugte sich zu dem Marienkopf und sah sich ihr kummervolles Gesicht genau an. Ihre Trauer war allumfassend, ihr Gesicht erschreckend naturalistisch.
– Setz dich, ich beiße nicht!, sagte der General und klopfte mit der flachen Hand auf die Lederbank, auf der er Platz genommen hatte. Der Schreiberling gehorchte, wenn auch darauf bedacht, eine gewisse Distanz zu seinem drahtigen und stets angespannten Körper zu wahren. Einen Moment lang vertieften sich die beiden Männer in das wunderschöne und zugleich so schmerzverzerrte Antlitz der Maria. Nahm der Schreiberling an, sie würden durch die gleiche Trauer vereint, zu Komplizen gemacht werden? Aber das einzige, gleichzeitig konstanteste, stärkste Band, das sie miteinander verknüpfte, war gegenseitiger Hass, keineswegs schwächer als das Band der Liebe.
– Du hast mich sprechen wollen. Wieso jetzt? Und um was geht es überhaupt?, kam es aus dem Schreiberling herausgeschossen.
– Schau dich an, du hast dich gehenlassen, das ist nicht gut, ganz und gar nicht gut. Kein Mann, der von der Welt auch nur ein Fünkchen Respekt einfordert, darf das tun, sagte der General und fixierte ihn mit seinem Blick. Dem Schreiberling war unwohl, es gefiel ihm nicht, hier wie ein kleiner, abgestrafter Junge einbestellt worden zu sein.
– Dann scheiße ich eben auf den Respekt.
Er sagte den Satz provokant, im Wissen, wie sehr der General jede Form der Obszönität verachtete. Aber er fühlte sich auch frei, da das Band zwischen ihnen so unwiderruflich durchtrennt worden war, vielleicht machte ihn sein Selbstmitleid auch mutiger, er besaß ja nichts mehr, was ihn verletzlich und erpressbar machte.
– Worum geht es? Was genau verlangst du?
Zum ersten Mal drehte Onno sich mit dem ganzen Oberkörper zum General und sah ihm direkt ins Gesicht, was ihn sichtlich große Überwindung kostete. – Und wer ist das Mädchen, das ich so zwingend überzeugen soll?
– Du bist doch ein Mann der Wahrheit, richtig?, sagte der General mit deutlicher Ironie in der Stimme. – Unentwegt hast du davon gesprochen, hast meiner Tochter damit in den Ohren gelegen, hast immerzu danach gesucht. So, nun gebe ich dir die Möglichkeit. Suche sie, deine Wahrheit, bitte sehr, ich öffne dir alle Türen, ich lasse dich in jeden dreckigen Keller, wenn du es so willst. Du kannst dein verfluchtes Buch über mich schreiben, kannst groß Karriere machen. Ich werde es dir schriftlich zusichern …
– Wo ist der Haken?
– Kein Haken. Seit Ada … Also seit einem Jahr denke ich darüber nach …, sagte der General und erhob sich auf einmal. – … denke ich darüber nach, wie ich all dem, was geschehen ist, irgendeinen Sinn geben kann. Warum sie so fordernd war. Sowohl bei dir als auch bei mir. Sie war so verdammt moralisch … so verdammt moralisch. Von mir verlangte sie ein Eingeständnis. Sie wollte, dass ich etwas wiedergutmache. Und jetzt würde ich sagen, gebe ich uns die Chance, ihren letzten Willen in die Tat umzusetzen. Nennen wir das Ganze einen Versuch …
Die Erwähnung ihres Namens ließ den Schreiberling zusammenzucken. Ja, natürlich, er hatte diesen Namen aus seinem Leben verbannt, er existierte nicht mehr, und das unerwartete Aussprechen dieser drei Buchstaben hatte eine unvorstellbare Wirkung: Es lähmte ihn.
– Wie meinst du das?, fragte er mit leiser, brüchiger Stimme und wandte sich an den General, unternahm den Versuch, sich zu erheben, was ihm erst beim zweiten Anlauf gelang.
– Sie wollte, dass ich der Wahrheit ins Gesicht blicke, das Problem ist nur, dass ich nicht an die Wahrheit glaube. Genauso wenig, wie ich an irgendeine Moral glaube. Aber Ada, Ada erwies sich als hartnäckiger und kompromissloser als jeder andere Mensch, dem ich im Leben begegnet bin. Ich bin es ihr schuldig. Ich bin es ihr schuldig, in ihrem Sinne zu handeln. Und das Gleiche könnte man auch von dir verlangen. Nicht wahr?
– Ich verstehe immer noch nicht …
– Du verstehst mich sehr wohl. Stell dich nicht so blöd an! Vielleicht willst du mich