Die Katze und der General. Nino Haratischwili
ganzer Ort unter einer Glasglocke, als lebte man hier in Watte gepackt und in Sand eingebuddelt. Das Aufregendste, was meine Kindheit zu bieten hatte, waren ein, zwei Schlägereien auf dem Schulhof, die nach nur wenigen Minuten von den Lehrern beendet worden waren, und ein Feuer in der Bäckerei nebenan, das keinerlei tragische Folgen hatte; die Versicherung deckte den Schaden, und eine prächtig renovierte Bäckerei machte kurz danach wieder auf.
Da war aber noch dieser Wurm, wie ich das brennende, an mir nagende Gefühl nannte, ein Gedanke, der sich in meinen Kopf eingegraben hatte und mir keine Ruhe ließ; dieser Wurm, der von Jahr zu Jahr größer wurde, der mich dauernd daran denken ließ, dass alles, was mich hier umgab, eine Illusion war, eine Fassade – dieser Ferienort, diese herumspazierenden Menschen, diese idyllische Ruhe und diese putzigen Ferienhäuser, diese schläfrigen Urlauber in ihren Korbstühlen – all das war aus Seifenblasen gemacht, alles, bis auf das mächtige Meer. Der Wurm raubte mir bisweilen den Schlaf und ließ mich mitten in der Nacht, mit einer Taschenlampe ausgestattet, die Seekarten meines Vaters studieren und sehnsüchtig den Schiffen hinterherstarren. Ich malte mir aus, wie es andernorts aussah – nämlich da, wo alles real und wirklich war, bunt, laut und schmutzig, wo es echte Probleme gab und wo ich etwas weitaus Nützlicheres tun konnte, als die Frühstückstische der Urlauber abzuräumen.
Ivana, ihr Name löst heute noch ein Glücksgefühl in mir aus, denn sie und ihr Bruder waren es, die dieses Gefühl zum ersten Mal in mir wachriefen, nicht zu verwechseln mit Zufriedenheit oder mit Wohlbefinden; nein, das Glück, das sie mich spüren ließen, war etwas ganz anderes, nahezu schmerzlich war es, mit einer dunklen Färbung.
Ich war siebzehn, als die Geschwister Koncic zu uns in die Klasse kamen. Ein Zwillingspaar, auch wenn sie äußerlich keine Ähnlichkeiten aufwiesen, aber die tief verwurzelte Verbindung konnte man aus jeder Geste, jedem Blick und jedem Wort der beiden erraten. Sie kämen aus Kroatien, klärte uns unsere Klassenlehrerin auf, dort herrsche gerade Krieg, wie wir vielleicht wüssten, und wir sollten hilfsbereit und entgegenkommend zu den beiden sein, sie hätten viel Furchtbares erleiden müssen.
Sie waren scheu und argwöhnisch, hinter jeder freundlichen Geste vermuteten sie eine Hinterlist, sie taten sich schwer, zu anderen Jugendlichen Kontakt aufzubauen, und schämten sich ihres holprigen Deutschs. Stanko, der kleine und flinke, grimmig dreinschauende Bruder mit den spitzen Vampirzähnen und einem durchdringenden Blick, hatte die Rolle des Beschützers übernommen und beäugte jeden misstrauisch, der seiner Schwester zu nahe kam. Ivana dagegen war auf den ersten Blick freundlicher und zugewandter, ab und zu stellte sie eine Frage oder bemühte sich zumindest, den Anschein zu erwecken, sie interessiere sich für andere Jugendliche. Aber nach einer Weile erkannte ich, dass sie diejenige war, die das Zweiergespann lenkte und den Ton angab.
Ich machte es zu meiner Aufgabe, mich mit ihnen anzufreunden. Ein langer, zum Teil frustrierender und anstrengender Weg, aber Schritt für Schritt gelang es mir, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich interessierte mich aufrichtig für ihre Andersartigkeit, sie rochen nach einer anderen Welt, auch wenn diese Welt brutal und qualvoll gewesen war, so war sie doch anders, eine Welt, die mich magisch anzog und über die ich mehr erfahren wollte.
Ich las alles, was ich über den Balkankrieg in die Hände bekommen konnte, überzeugte meinen Bruder von einer gemeinsamen Protestaktion gegen unsere Eltern, damit sie ein Fernsehgerät kauften und wir die Erlaubnis bekämen, die täglichen Nachrichten im Fernsehen zu verfolgen.
Stanko und Ivana wohnten in einem Mehrfamilienhaus am Ortsrand, umgeben von Supermärkten und Getränkehallen. Dort hatte man sie und ihre zwei Geschwister mit den Eltern und dem Großvater einquartiert. Ich erinnere mich an meine Aufregung, als ich das erste Mal in die Wohnung eingeladen wurde – der größte Vertrauensbeweis bisher. Die Enge der kleinen Wohnung, die unbekannten Essensdüfte, der Großvater mit Goldzahn und einer Brille mit einem Gummiband. Ich war fasziniert und schämte mich zugleich, denn tief in meinem Inneren wusste ich, dass diese Menschen, die alles verloren hatten, nicht anders sein wollten, sie wollten angenommen werden, so sein wie alle.
Mit Stanko spielte ich Fußball, mit Ivana ging ich ins Kino. Ich versuchte zu erraten, was hinter ihren Augen verborgen lag, was das Geheimnis war, das sie mit niemandem teilen wollten und vielleicht gar zu vergessen versuchten. Insgeheim wünschte ich mir, derjenige zu sein, dem das alles widerfahren war, was auch immer das sein mochte, ich fantasierte, wie ich mit meiner Familie vor dem Feind flüchtete, wie ich meine Schwester beschützte. Ich ahnte damals noch nicht, was diese Sehnsucht war, welchen Namen sie trug, woher sie kam, ich spürte aber, dass sie merkwürdig war und keiner sie nachvollziehen können würde, zumindest keiner in Grömitz. Ich beneidete die beiden Geschwister um ihre Geschichte, obwohl sie eine grausame war, denn sie hatten etwas zu erzählen, besaßen ein Anrecht auf Besonderheit, hatten das Leben in seiner brutalsten Form und all seiner Nacktheit erlebt.
Ivana war es, die mir die Tür aufschloss zu dem, was hinter ihrem Blick verborgen lag. Wir hatten uns im Kino bei Alien 3 geküsst, und nun war das Band, das uns zusammenhielt, deutlich stärker, wir hatten ein Geheimnis, vor allem war es das erste Geheimnis, das sie vor ihrem Bruder hatte. Wir zogen uns in unsere Welt zurück, wanderten durch den feuchten Sand und sahen sehnsüchtig in die Ferne, wir kicherten und tauschten Albernheiten aus, küssten uns an jeder Straßenecke.
Im Nachhinein weiß ich bis heute nicht, wer im Recht und wer im Unrecht war, wenn ich an den Vorfall denke, der uns auseinanderriss, ob man mein Verhalten, wie Stanko es getan hatte, als »Verrat« abtun kann oder ob es nicht doch auf eine eigentümliche, vielleicht etwas krude Art richtig war.
Während ich mich anzog, dachte ich an Ivanas schmale Lippen, die großen, immer strengen und zugleich unsicher schauenden Augen. Ich erinnerte mich an den lauen Sommerabend, als wir im Auto, verborgen hinter den Dünen und dem Bootsankerplatz, unsere Ängste überlisteten und uns entkleideten. Wir küssten uns, und meine Hände tasteten sich vor zu ihren kleinen Brüsten, die so perfekt in meine Hände passten, meine Lippen wanderten zu ihren Brustwarzen, meine Zunge erkundete ihren Bauchnabel, und sie kicherte, auch daran erinnere ich mich – an ihr Kichern, das mich kurz aus dem Konzept brachte, da ich glaubte, etwas Falsches getan zu haben. Es war unbequem auf dem Rücksitz im Wagen meines Vaters, aber es störte uns nicht, wir waren erfinderisch, wir waren unermüdlich. Sie öffnete meine Hose, und ich glaubte, ohnmächtig zu werden vor Aufregung, vor Erwartung. Ich sah ihr in die Augen, als ich mich auf sie legte, sie passte sich mir an, sie war geschmeidig und gelenkig, als wäre sie aus Knetmasse.
Danach lag ich mit meinem Kopf auf ihrem Schoß, es war dunkel, wir konnten kaum unsere Umrisse erkennen, aber das Wissen um unsere Nacktheit machte den Moment zu etwas ganz Besonderem. Und da erzählte sie mir von den Männern, die in ihr Haus eingedrungen waren, von den Gewehrkolben, mit denen sie den Hund erschlagen hatten, erzählte von den Schreien aus den Nachbarhäusern, dem Feuer, das sie legten, sie erzählte von ihrer Cousine, die man an den Haaren aus dem Haus gezerrt und irgendwohin gebracht hatte, weil sie so schön und jung war, und die dann als alte, verbitterte Frau zurückgekehrt war, auch wenn nur einige Stunden verstrichen waren. Sie erzählte davon, wie sich Stanko eingenässt hatte, wie ihre Mutter geschrien hatte, man solle die Kinder nicht anrühren, wie die Oma drei Tage nach dem Überfall an einem Herzinfarkt gestorben war und sie dann hastig alles zusammengepackt hatten und beim Verlassen des Dorfes die Häuser brennen sahen, kleine rote Punkte am Horizont, wie Weihnachtsschmuck, ja, nahezu schön hatten sie in der Ferne ausgesehen, als sie aus dem Laster die Landschaft betrachtet hatte.
Ich schwieg, vor Ehrfurcht erstarrt oder vor etwas anderem, wofür ich noch kein Wort kannte und vielleicht auch nie eines kennen werde, egal wie oft ich seither solche brennenden Todeslandschaften beschrieben bekommen habe, egal wie oft ich solche Landschaften selbst gesehen habe. Die Faszination des Grauens ließ es nicht zu, den Blick abzuwenden. Genau dieses winzige Gefühl brachte mich in jenem Augenblick auf die Idee, dass ich so leben und solchen Geschichten folgen wollte. Dass ich sie erzählen wollte, auch wenn sie nicht meine waren. Ich lauschte Ivanas leiser, zögerlicher Stimme und sah mich bereits mit einem schweren Rucksack durchs Leben stolzieren, einem Rucksack voller Geschichten, die ich auf der ganzen Welt gesammelt hätte: angsteinflößende, furchtbare, blutige und doch zutiefst menschliche und wahre Geschichten.
Am Jahresende landete ich im Praktikumsmonat als Einziger