Das Buch der Tiere. Martin Thomas Pesl
und Burn-out, gegen Stress und digitalen Overkill, für die Ruhe, fürs Slow Food sozusagen (bloß keine Schildkrötensuppe!).
Wo Kassiopeia ihren Namen herhat, ist auch nicht ganz klar (und sie würde wahrscheinlich Tage brauchen, es zu erklären). Die Gattung Cassiopeia bezeichnet eigentlich Schirmquallen, und in der griechischen Mythologie ist Kassiopeia eine schöne Frau, die ihre eigene Schönheit zu wichtig nahm und der Poseidon daher ein Meeresungeheuer an den Hals schickte. Nach ihr ist auch das Sternbild benannt.
Ihre halbstündig begrenzte Weitsicht erlaubt ihr immerhin, mehr oder weniger blind die Straßen in Momos nicht näher benannter, aber wahrscheinlich irgendwo in Italien liegender Großstadt zu überqueren, obwohl die Autos dort keinerlei Ampelschaltung gehorchen: Sie weiß einfach immer, wann kein Auto kommt. »KEINE ANGST!«, meldet sie Momo. »Hab ich auch nicht«, antwortet diese, »nachdem sie es entziffert hatte«. Kurz darauf: »Ein Glück, dass ich schon so gut lesen kann, findest du nicht?« – »STILL!«
Speedy Gonzalez wären in dieser Konstellation wahrscheinlich die Synapsen eingeschlafen.
GATTUNG: Emys orbicularis
LEBENSRAUM: urbane Gefilde
ERNÄHRUNG: Kräuter
FUNKTION: Pager
AUGEN: schwarz, klug
MERKMAL: viel Zeit
BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR:
ANOBIUM DOMESTICUM
AUTOR: Julian Barnes
TITEL: Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln (Aus dem Englischen von Gertraude Krueger)
ORIGINALFASSUNG: 1989
Endlich packt einmal jemand aus und schildert, wie es wirklich zuging auf der Arche Noah.
Dass es natürlich mehr als eine Arche gab, sonst hätten all die Tiere nie draufgepasst.
Dass Klatsch und Tratsch blühten, etwa darüber, ob Noahs Schwiegertochter wohl etwas mit einer (seither) ausgestorbenen Affenrasse angefangen hat?
Dass der Archpatriarch selbst ein Schluckspecht war und sich durch nichts weder für den Job des Weltretters noch für jenen des Kapitäns qualifizierte, dass er also nur aufgrund seiner peinlichen Gottesfürchtigkeit ausgewählt worden war.
Ganz nebenbei erwähnt der – von der menschlichen Leserschaft (letztlich lauter Abkömmlinge Noahs) deutlich desillusionierte – Erzähler, dass er der Gattung Anobium domesticum angehört. Diese wurde 1785 von einem gewissen Geoffrey beschrieben. Wer das nachgoogelt, hat die Pointe aber sowieso schon verstanden. Gut möglich, dass die meisten anderen bis zum letzten Satz der Geschichte Der blinde Passagier (Kapitel 1 von zehneinhalb in Julian Barnes’ Zusammenfassung der Weltgeschichte) warten müssen, bis das Aha-Erlebnis eintritt: »Aber letztendlich, was können wir dafür, wir sind halt Holzwürmer.«
Auf der Arche Noah erwünscht waren die Holzwürmer weder zu zweit (wie die unreinen Tiere) noch zu siebt (wie die reinen Tiere, was aber nur bedeutete, dass die Menschen sie essen konnten, was sie auch taten). Da Arche wie Nebenarchen allesamt aus Holz gebaut waren, hatten die blinden Passagiere vor allen anderen geboardet.
Interessant an der Berichterstattung des Holzwurms ist unter anderem seine Mischung aus Solidarität und journalistischer Distanz. Einerseits reiht sich der Erzähler durchaus unter die anderen Tiere ein, wenn es darum geht, den Irrsinn an Bord zu schildern (»Ja, sicher, wir haben uns gegenseitig aufgefressen und so.«). Andererseits erklärt er sich zum objektiven Beobachter: »Ich stehe etwas außerhalb der übrigen Tiergesellschaft, die noch immer ihre nostalgischen Zusammenkünfte hat.« Weshalb: »Meiner Darstellung könnt ihr vertrauen.«
Diese seine Darstellung ist jedenfalls sehr humorvoll, auch wenn man bald ahnt, worauf sie hinausläuft. Denn warum war wohl am Ende nur noch die Hälfte der Flotte übrig? Wovon werden sich die sieben Holzwürmer, denen peinlich war, zufällig genau in der für den Menschen heiligen Anzahl angetanzt zu sein, ernährt haben? Genau. »Gopher«, das Holz, aus dem sie die Arche(n) gebaut hatten.
Bibelforscher (aber auch Holzforscher) vermuten, es handle sich dabei um Zypressenholz. Wahrscheinlicher ist, dass dieses Holz ebenso ausgestorben ist wie viele der Tiere, die einst gutgläubig bei der Sintflutkreuzfahrt eincheckten. Und ausgestorben heißt: aufgefressen. Was für eine Welt!
LEBENSRAUM: Arche Noah
ERNÄHRUNG: Arche Noah
ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen
BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR:
ERSTES GEBOT: kein Sex an Bord (zu gefahrlich)
NATÜRLICHE FEINDE: Noahs
DER BANDWURM
AUTOR: Irvine Welsh
TITEL: Drecksau
(aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann)
ORIGINALFASSUNG: 1998
Auf die Frage, was seiner Meinung nach das Coolste an der von ihm in der Verfilmung aus dem Jahr 2013 verkörperten Figur des schottischen Polizisten DS Bruce Robertson sei, antwortete Schauspieler James McAvoy: »Dass er gleichzeitig masturbieren und weinen kann.« In der Tat ist der greifbare Widerling hier Bruce Robertson selbst, der Kollegen und »Klienten« misshandelt, verarscht, beschimpft und gelegentlich ermordet, noch dazu aus unverzeihlichen Motiven wie Rassenhass heraus. Aber Bruce ist, wie von McAvoy andeutet, neben einer Dreckauch einfach eine arme Sau. Daran schuld sind: die miserable Kindheit mit einem Vater, der ihn zwang, Kohle zu fressen, die Trennung von der Ex – und der Bandwurm, der das alles wieder aufwurmt, äh, aufwärmt.
So ein Bandwurm ist ohnedies eine der ekelhaftesten Krankheiten, die man sich vorstellen kann: ein Parasit von länglicher Ausdehnung, der sich mithilfe von Saugnäpfen oder Hakenkränzen an der Darmwand seines Wirts festklammert und Nährstoffe, kaum hat dieser sie zu sich genommen, gleich einmal selbst vertilgt.
Bruces Exemplar präsentiert sich als ganz besondere Nervensäge. Zunächst ist er unersättlich, fordert Bruce permanent von innen heraus zur Nahrungsaufnahme auf: »0000iß000iß0000iß«. Obendrein entwickelt er im Zuge des Buches aber auch noch ein Selbstbewusstsein und kommuniziert mit irgendwelchen anderen Würmern ebenso wie mit dem Wirt, nach