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auch politisch rechts als Beispiel herhalten kann und somit die ewige Unversöhnlichkeit der beiden Seiten aufzeigt?

      Die Ameise hat jedenfalls den ganzen Sommer Nahrung beiseitegeschafft und somit vorgesorgt, die alte Streberin.

      Die Grille hat sich den ganzen Sommer die Sonne auf den Bauch scheinen lassen und gezirpt, sich vielleicht zum Gaudium der Tierwelt als Zikade oder Libelle verkleidet und missachtet, dass sie im Winter einen ziemlichen Heuschreck erleiden wird, weil nichts mehr zu fressen da ist. Sie geht also zur Ameise und bettelt. Und die Ameise sagt: »Selber schuld.« Das war’s. Weiter geht es nicht. La Fontaine braucht ganze 22 kurze Verse dafür und lässt uns dann selbst im Regen stehen wie eine Grille vor dem Ameisenhaufen.

      Diese Geschichte ist unfassbar unbefriedigend. Es ist ein Wunder, dass sie uns nicht zu Wutausbrüchen getrieben hat, als wir Kinder waren. Was sagt uns das denn jetzt? Dem Fuchs mit seinen Trauben gönnten wir das »Selber schuld«, der Ameise wollen wir es am liebsten um die Ohren hauen. Aber sie hat ja keine.

      Soll die Grille verhungern? Soll sie es als Heuschrecke, Zikade oder gar Grashüpfer tun? Und soll dann die Ameise wegen unterlassener Hilfeleistung vor den Tiergerichtshof? Voten Sie jetzt. image

      GATTUNG: Formicidae

      LEBENSRAUM: Speisekammer

      NOTE: sehr gut mit Sternchen

      SLOGAN: Leistung für Leistung!

      HYMNE: Ätschi-bätschi!

      SOZIALVERHALTEN: Ui.

       KOLJAS IGEL

      AUTOR: Fjodor Michailowitsch Dostojewski

      TITEL: Der Idiot (aus dem Russischen von Arthur Luther)

      ORIGINALFASSUNG: 1869

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      imageHaben Sie meinen Igel erhalten?«, fragte sie mit fester und beinahe zorniger Stimme.

      »Ja«, antwortete der Fürst errötend und starr vor Angst.

      »Erklären Sie mir sofort, was Sie darüber denken! Das ist notwendig, um meiner Mutter und unserer ganzen Familie Ruhe zu verschaffen.«

      Es sind doch immer die Igel, die leiden. Die kleinen, unglaublich süßen Wesen, von denen man dachte, sie werden unweigerlich die Beziehung retten. Sie meinen es gut, sie lassen einem das Herz aufgehen, aber dann wollen sie sich doch nicht immer streicheln und abbusseln lassen und erweisen sich als ein bisschen stachelig. Und dann, in null Komma nichts, ist alles kompliziert.

      Wie Dostojewski auf die Idee kam, im vierten Teil seines monumentalen Romans Der Idiot ausgerechnet einen Vertreter der Gattung Erinaceidae – vermutlich den Nördlichen Weißbrustigel – als Dreh- und Angelpunkt für die aufgeladene Stimmung zwischen Fürst Myschkin und der liebreizenden Aglaia einzubauen? Es ist jedenfalls eine bestechend originelle Idee – dafür, dass der Igel nur als Symbol dient.

      Und dann ist auch noch alles irgendwie Zufall, ein impulsiver Annäherungsversuch, mit dem der kindlich naive Fürst Myschkin, der natürlich in Aglaia verliebt ist, nicht umgehen kann: Die Gymnasiasten Kolja und Kostja haben von ihrem Kollegen Geld erhalten, um die Weltgeschichte von Schlosser zu kaufen. Stattdessen haben sie einem Bauern den Igel und ein Beil abgekauft, was ihnen sehr peinlich ist (das Beil peinlicher als der Igel). Aglaia überredet sie, ihr den Igel (nicht das Beil) zu verkaufen, setzt ihn in ein Körbchen, deckt ihn liebevoll zu und schickt ihn mit Kolja dem Fürsten Myschkin, jenem fragilen Freund der Familie, als Geschenk.

      Und wir wissen ja alle, was ein Igelgeschenk bedeutet!

      Nein, wissen wir nicht. Auch russische Adelige im 19. Jahrhundert hatten nicht die Tradition, pieksende Säugetiere per Botendienst zur Evozierung von Heiratsanträgen durch Petersburg zu jagen.

      Nach Aglaias Logik entspricht der Igel aber praktisch einem Verlobungsring: rund, kostbar – na ja, das war es auch schon mit der Vergleichbarkeit. Der Fürst, unerfahren in Liebesdingen, versteht nicht. Es ist ein Igel. Er freut sich, er besucht sie am nächsten Tag. Sie stellt ihm ein Ultimatum: Hält er jetzt also um ihre Hand an oder nicht? Er ist überwältigt und sagt ja. Aber Aglaias Mutter ist über den potenziellen Schwiegersohn entsetzt, und ihre Schwestern brechen in hemmungsloses Gelächter aus. Sie behaupten glaubhaft, der Antrag sei nie ernst gemeint gewesen und begründen das mit dem Igel: »›Ich habe es ja gewußt, daß sie nur ihren Spott trieb und nichts weiter!‹ rief Adelaida. ›Von Anfang an, schon von dem Igel an!‹«

      Myschkins ästhetische, zoologische oder auch kulturgeschichtliche Bewertung des Igels wird danach nie wieder abgefragt. Auch ob den armen Kerl in der Zwischenzeit irgendjemand gefüttert hat, steht nicht im Roman. Ein Jammer, diese symbolhafte Nachlässigkeit. image

      GATTUNG: Erinaceidae

      LEBENSRAUM: ein Körbchen in Russland

      KUNDEN, DIE SICH DAFÜR INTERESSIERTEN, KAUFTEN AUCH: ein Beil

      SOZIALVERHALTEN: abweisend

      WWF-FAKTOR: image

       DER MAULWURF

      AUTOR: Kenneth Grahame

      TITEL: Der Wind in den Weiden (Aus dem Englischen von Harry Rowohlt)

      ORIGINALFASSUNG: 1908

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      imageDer Maulwurf«, meinte der Dachs, »hat im kleinen Finger mehr Verstand als manche Tiere im ganzen fetten Körper. Der Maulwurf wird es zu etwas bringen, das weiß ich heute schon.«

      Der Komiker Stephen Colbert erklärte einmal, jeder, der schon eine gewisse Prominenz habe, könne ein Kinderbuch schreiben und damit Geld machen. Er bewies es mit einer absurden Publikation über einen Pfosten: I Am a Pole and So Can You. Die Reimassoziation führt uns zum Ohrwurm I Am a Mole and I Live in a Hole. Und damit wären wir schon bei Mole, dem Maulwurf, in der kurios erfolgreichen, tausendfach mehr oder weniger animiert verfilmten Geschichte Der Wind in den Weiden.

      Die schrieb ein pensionierter Direktor der Bank of England, der während seiner Arbeitszeit noch viel bessere und erfolgreichere Kinderbücher verfasst hatte. Keiner konnte so recht etwas anfangen mit den erratischen Geschichten von vier sehr menschlich agierenden Tieren (Maulwurf, Ratte, Dachs und Kröterich), und doch können anglophone Menschen heute noch aus Kindertagen daraus zitieren. »Messabouts«, beliebte Abhäng-Events, die oft spontan in den sozialen Medien organisiert werden, gehen auf die Originalzeile zurück: »Believe me, my young friend, there is nothing — absolutely nothing — half so much worth doing as simply messing about in boats.«

      Der Maulwurf nickt auf diese Grundsatzerklärung der Ratte nur eifrig. Er ist der charakterärmste unter den Protagonisten, aber so etwas wie die Identifikationsfigur. Er ist nicht blind, wie man meinen könnte (obwohl Kenneth Grahames Sohn Alastair eine Augenkrankenheit hatte). Er rettet am Ende auch wie richtige Romanhelden den Tag, indem


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