Das Buch der Tiere. Martin Thomas Pesl

Das Buch der Tiere - Martin Thomas Pesl


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(Die Frau und der Affe) versuchten sich auf unterschiedlich direkte Weise sogar am umgekehrten Weg – Tier wird zu Mensch – und brachten so einen modernen (Alb-)Traum zum Ausdruck: Was, wenn die, die wir mittlerweile endgültig als uns unterlegen erkannt haben, ihre Entwicklungsrückschritte aufholen und die gleichen Fähigkeiten erwerben wie wir, ja uns sogar irgendwann überlegen sind? Folgt dann die große Rache? Ein auch im 21. Jahrhundert immer noch brisantes Thema, nur haben sich da in Literatur und Film die Protagonisten geändert: Anstelle der minderen Intelligenzen (Tiere) sind künstliche (Roboter) getreten.

      Der Mensch im Tiere

      Am einfachsten und durchaus ebenso reizvoll ist es natürlich stets, den Tieren menschliche Züge zu geben. Ohne diesen Trick ergäbe die Kinderliteratur der Welt nur eine sehr karge Bibliothek. Aber auch hier gibt es Abstufungen, sowohl bei der Kindlichkeit der behandelten Stoffe (die Kaninchen in Unten am Fluss, ich bleibe dabei, sind nichts für Zartbesaitete!) als auch im Grad des Realismus bei der speziesübergreifenden Aneignung. In Kenneth Grahames Klassiker Der Wind in den Weiden könnte man die Protagonisten ohne Weiteres eins zu eins gegen Menschen austauschen, die wären dann halt weniger knuffig.

      Die Möwe Jonathan denkt dafür zwar wie ein Mensch – noch dazu wie einer, der zu viel Weihrauch eingeatmet hat –, ihr Dasein als Möwengeist hätte aber keine Berechtigung, wenn sie nicht Flügel hätte. Ein postmodernes Resultat dieser Dialektik sind Texte wie David Duchovnys Heilige Kuh oder (ein Pionier in dieser Hinsicht!) E.T.A. Hoffmanns Kater Murr, in denen die Tiere zwar selbstredend so klug und gebildet sind wie die Menschen, aber großen Aufwand betreiben, damit diese das nicht bemerken. Selbsterniedrigung der eigenen Spezies – auch ein weit verbreitetes Motiv für den literarischen Einsatz der Fauna.

      Vor den Unmengen an detektivisch begabten Katzen (und Hunden, aber vor allem Katzen), deren Spürsinn die vertracktesten Kriminalfälle löst, bevor die Herrchen und Frauchen auch nur eine Fährte aufgenommen haben, habe ich übrigens von vornherein kapituliert. Die müssen leider draußen bleiben.

      Besonders interessant waren für mich hingegen jene Werke, in denen Tiere als Projektionsfläche, Arbeitsmaschine (das sind meist die Pferde), treuer Gefährte des Menschen oder gefährliche Ausformung der Natur wahrgenommen und beschrieben werden: die realistischen, die – haha! – naturalistischen Tiergeschichten, in denen die Tiere literarisch so bedeutend sind wie der Glanz der Sonne auf der Oberfläche eines Sees oder der letzte Blick der Protagonistin zu ihrem Geliebten. Hier sind, dicht gefolgt von den Pferden, die Hunde quantitativ in der Überzahl. Von den (real inspirierten, aber fiktionalisierten) Haushunden haben es Sándor Márais Tschutora, Elizabeth Barrett Brownings Flush (literarisiert von Virginia Woolf) und Ebner-Eschenbachs Krambambuli in unsere Auswahl geschafft. Aber es gibt ihrer noch viel, viel mehr.

      Niedlichkeit vs Geschmack

      Beliebter in den letzten Jahrzehnten ist freilich die Betrachtung der eher untypischen Haustiere, immer mit einem kalkulierten Niedlichkeitsmoment verbunden: Wer schmunzelt nicht bei der Vorstellung einer Elefantenkuh im Wohnwagen der schönen Frau in Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand oder angesichts des im Herzen der Ukraine herrlich deplatzierten Pinguins Mischa in Picknick auf dem Eis?

      Nicht zu vergessen sind die Tiere als Nahrung – in dieses Lexikon haben sie allerdings nur Eingang gefunden, wenn ihr Leben davor annähernd der Rede wert war; wie das von Federigos Falken im Dekameron – und jene, die als Metapher, als Symbol, als literarisches Mittel zum Einsatz kommen. Der Löwe in Blumenberg zum Beispiel repräsentiert den mangelnden christlichen Glauben des Philosophen, der Bandwurm in Drecksau die unterdrückten Schuldgefühle des Protagonisten.

      Die Handlung von Pnin hingegen würde ohne das Grauhörnchen ebenfalls stattfinden, auch Der Idiot von Dostojewski wäre ohne die wenigen Seiten mit dem Igel problemlos vorstellbar, und García Márquez hätte seine Familie Buendía am Ende der Hundert Jahre Einsamkeit problemlos auch anders der Natur anheimfallen lassen können als mithilfe der bunten Ameisen. Doch sie alle weisen ihre Autoren als Künstler aus, die eine Welt jenseits der Beschreibungs- und Fabulierkunst aufzustoßen wissen.

      Die guten Tiere, die bösen Tiere, die echten Tiere, die menschlichen Tiere, die absurden Tiere, die Kuscheltiere. Da diese Kategorien oft nicht so leicht voneinander abgrenzbar sind, haben wir uns bei der Präsentation der Sammlung für eine zoologische Anordnung der Figuren entschieden, beinahe so, als schrieben wir eine Ergänzung zu Brehms Tierleben. So sind die Leserinnen und Leser eingeladen, mit ihrer Lieblingstierart zu beginnen (in meinem Fall, habe ich das schon erwähnt?, sind es die Affen!), in der Hoffnung, dass sie danach auch noch in die anderen Abteilungen des literarischen Zoos vordringen.

      Literarischer Artenschutz

      Was ich im Vorwort zu meinen Schurken geschrieben habe, gilt hier noch viel mehr: Es besteht keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit (mir ist allein von der Aufzählung der vielen Ausgaben schwindlig, die eine gewisse Fantasyreihe namens Warrior Cats umfasst). Mein Buch stellt keinen literaturwissenschaftlichen, auch keinen literaturkritischen und schon gar keinen biologischen Anspruch, es ist einfach ein Angebot eines begeisterten Lesers an andere Lesende, die Literatur von einer bestimmten Seite, der tierischen, zu erkunden. Lächeln Sie, weil die Tiere so süß sind. Schütteln Sie den Kopf, weil sie gar so süß sind. Fürchten Sie sich, weil sie so gefährlich sind. Und kraulen Sie dabei Ihren Vierbeiner. Oder ist Ihrer Meinung nach das Buch der beste Freund des Menschen?

      Martin Thomas Pesl

      Die

      Schwimmenden

      und Tauchenden

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       MOBY DICK

      AUTOR: Herman Melville

      TITEL: Moby Dick oder Der Wal (aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis)

      ORIGINALFASSUNG: 1851

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      imageAye, aye! Es war dieser verfluchte weiße Wal, der mir den Mast abgeschlagen hat, der aus mir bis ans Ende meiner Tage einen erbärmlichen, humpelnden Krüppel gemacht hat!« Darauf schüttelte er die Fäuste gen Himmel und schrie seine maßlosen Verwünschungen hinaus: »Aye, aye, und ich werd ihn ums Kap der Guten Hoffnung hetzen und auch ums Horn herum und um Norwegens Mahlstrom und durch die Flammen der Verdammnis, eh ich die Jagd verloren gebe. Und, Männer, das ist es, wofür ihr angeheuert habt! Diesen weißen Wal zu jagen, auf beiden Ozeanen, in allen Winkeln der Welt, bis schwarzes Blut er bläst und tot im Wasser treibt.«

      Man muss sich auch mal die andere Seite ansehen. Klar, diese gekränkten Männer und ihre Besessenheit von hungrigen Meerestieren haben etwas Lächerliches: dieser Captain Hook mit seinem Krokodil, dieser alte Mann im Meer auf der Jagd nach dem Riesenmarlin und durchaus auch dieser immer fanatischer werdende Kapitän Ahab. Sie können nicht gewinnen, aber sie müssen kämpfen, um ihre fehlenden Gliedmaßen zu rächen (oder auch einfach nur ihren Stolz zu befriedigen).

      Aber trotzdem. Jetzt mal im Ernst: Moby Dick! Du Wal, du Weißer Wal du! Stellvertretend für die anderen Wassergenossen, die im Menschen einen irrationalen Tunnelblick auslösen, lass dir gesagt sein: Es ist ja verständlich, dass du nicht gejagt werden willst, und vor 150 Jahren hattest du auch noch keinen WWF, um dich zu schützen. Aber bitte, reiß dich zusammen, anstatt uns Menschen das Bein ab. Die ganze Umgebung leidet doch unter den ahabschen Gewaltobsessionen. Ismael, Starbuck, Queequeg – die müssen sich mit dem Mann ein Schiff teilen! Und das sind auch nur Säugetiere, so wie du.

      Bliebest


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