Das Buch der Tiere. Martin Thomas Pesl

Das Buch der Tiere - Martin Thomas Pesl


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eine omnipräsente, doch ungreifbare, numinose Nemesis, ein dämonischer Teufel, der in Wahrheit nur in den Köpfen derer existiert, die dich jagen! Das wäre ohnehin schon tierisch gemein.

      Aber nein, du lässt dich auch noch aufspüren von der irre gewordenen Mannschaft: Absichtlich, könnte man dir unterstellen, lockst du sie in dein Revier, in die Höhle des Löwen sozusagen, nur bist du größer, lauter, dicker (tut mir leid, aber du hast »dick« schon im Namen!) und gefährlicher als ein Löwe. Und da sind sie dann und nähern sich dir, nicht wissend, was sie tun, stoßen sich an dir und kentern. Du hast kaum eine Flosse gerührt, hast dann nur ein bisschen das Schiff gerammt und dabei halt alle vernichtet. Hattest wohl nach dem Ahab-etitanreger noch Lust auf den Rest der Mahlzeit?

      Wer den Wal hat, hat die Qual. Und wer ihn nicht hat, quält sich selbst. Es ist ein Wunder, dass sich nach dir Weißem Wal und deinem ideellen Nachkommen, dem »Weißen Hai«, noch irgendjemand ins Wasser traut.

      Und hier noch ein paar Fun Facts über euch Pottwale: Wusstest du, dass ihr eine sogenannte Junk-Melone in eurem rechteckigen Schädel habt, die euch den Kopf schwer macht und beim Rammen unterstützt? Dementsprechend werdet ihr Männchen auch Bullen genannt.

      Und ja, du Bully der Meere: Der sanftmütige Sänger Moby ist nach dir benannt. Denn Herman Melville war sein Ururgroßvater. Da schaust du, was? image

      GATTUNG: Physeter macrocephalus

      LEBENSRAUM: Kap der guten Hoffnung

      FIGUR: dick

      ERNÄHRUNG: Seemannshaxe

      SOZIALVERHALTEN: bissig

      ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen

      NATÜRLICHER FEIND: Kapitän Ahab

       DIESES EINE KROKODIL

      AUTOR: James Matthew Barrie

      TITEL: Peter Pan (aus dem Englischen von Bernd Wilms)

      ORIGINALFASSUNG: 1906

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      imageZum Schluss kommt ein riesiges Krokodil. Nach wem es Ausschau hält, werden wir noch sehen.

      Das berühmteste Krokodil der Welt? Da streiten sich jetzt wahrscheinlich zwei: jenes, das im Kasperletheater stets den Knüppel auf die Nase kriegt, und jenes, das Captain Hooks Arm verspeist hat. Nun, beide haben keinen besonders guten Ruf. Aber: Armfresser vor Armleuchter.

      Er fürchte sich keineswegs vor Krokodilen, korrigiert der rachsüchtige Captain seinen Bootsmann Mr. Smee, »sondern vor diesem einen Krokodil«. Sein Arm, den Peter Pan ihm abgeschlagen habe, habe dem Tier so gut geschmeckt, dass er nun auch noch den Rest verzehren wolle. Als veritabler Allesfresser hat das Krokodil aber auch einen Wecker verschluckt, der seitdem ganz laut aus seinem Magen heraus tickt. Das Anschleichen gestaltet sich daher schwierig. Und so wie Captain Hooks Name prophetisch voraussah, dass er einst einen Greifhaken anstelle einer Hand haben würde, heißt im Disney-Film Peter Pan das Krokodil Tick-Tack.

      Aber irgendwann ist auch im Nimmerland die Batterie leer, und dann kommt das Krokodil schallgedämpft daher. Das weiß Captain Hook, und davor fürchtet er sich gerade so sehr wie vor dem Anblick seines eigenen Blutes. Dazu kommt das Ärgernis, dass Peter Pan ein brillanter Stimmenimitator ist, der nicht nur Captain Hook selbst hervorragend nachzuahmen versteht, sondern auch das schwimmende Reptil beziehungsweise dessen innere Uhr.

      In den zahlreichen Verfilmungen des Peter-Pan-Stoffs ist das alles ein bisschen anders. In Hook hat Hook seine Rache an dem Krokodil genommen und sich daraus – nein, keine Lederhandschuhe (das hätte wahrlich Stil), sondern einen Uhrturm (auch elegant) gemacht.

      Scheint aber nichts zu nutzen, die nimmerländische Nimmerlogik lässt zu, dass das Krokodil einzig zu dem Zwecke, Hook am Ende zu fressen, wieder zum Leben erwacht. Und täglich grüßt das Krokodil.

      In den 2000er-Jahren wurde dieses eine Krokodil immer dinosaurisch monströser und vermehrte sich. Dafür – um wieder in literarische Sümpfe zurückzukehren – hat Geraldine McCaughrean 2006 eine offizielle Fortsetzung geschrieben (Titel: Peter Pan und der rote Pirat), in der Captain Hook im Stil der alten GrimmEinwolfungen überlebt. Das Krokodil verspeist ihn ganz, aber die Sache hat einen Haken: Hook öffnet ein Giftfläschchen, tötet den Gegner von innen und klettert heraus. image

      GATTUNG: Crocodylus porosus

      LEBENSRAUM: Nimmerland

      GESCHLECHT: weiblich

      ALTERNATIVNAMEN: Tick-Tock the Croc, Mr. Grin

      ERNÄHRUNG: Tic-Tacs

      KNUDDELFAKTOR: image

      ÖKOLOGIEVERSTäNDNIS: hoch (pladiert für ganzheitliche Verwertung)

      ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen

       DER MARLIN

      AUTOR: Ernest Hemingway

      TITEL: Der alte Mann und das Meer (aus dem Amerikanischen von Annemarie Horschitz-Horst)

      ORIGINALFASSUNG: 1952

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      imageDer Fisch traf den Draht noch verschiedene Male, und jedesmal, wenn er mit dem Kopf stieß, gab der alte Mann ein bißchen Leine ’raus. – Ich darf seine Schmerzen nicht größer werden lassen, dachte er. Meine sind ganz egal. Meine kann ich beherrschen. Aber seine Schmerzen könnten ihn zum Wahnsinntreiben.

      Die Erzählung trägt den Titel Der alte Mann und das Meer, aber eigentlich müsste sie Der alte Mann und der Marlin heißen. Mit dem Meer an sich kommt der alte Fischer Santiago nämlich ganz gut klar, das Problem ist nur, dass es relativ leergefischt ist. Und das vor sechzig Jahren, als noch nix war mit globaler Ressourcenausbeutung und Co.!

      Als der alte Mann eines Tages ohne seinen jungen Freund und Helfer Manolin zum 85. Mal hinausfährt, um etwas zu fangen, begegnet er dem riesigen Blauen Marlin, auch Speerfisch genannt, »zwei Fuß länger als das Boot« oder sogar noch größer. Ein Verwandter des Schwertfisches, er hat mit diesem auch Ähnlichkeiten, aber kein spitzes, scharfes, sondern ein zylindrisches »Maul«. Mithilfe dieses Mauls frisst er tatsächlich die Ködermakrelen vom Haken ab und bleibt dann hängen.

      Das ist der Beginn eines monströsen Pas de deux, eines mehrtägigen Duetts oder Duells zweier erbitterter Feinde, von denen einer den anderen aber als Freund bezeichnet, sich um ihn sorgt und dennoch sagt: »Aber ich werde ihn töten. In all seiner Größe und Herrlichkeit.«

      Wenn das so einfach wäre! Viel zu schwach ist der alte Mann, zu stark der Fisch. »Fisch, du mußt sowieso sterben«, sagt er ihm. »Mußt du mich auch töten?« Der Klügere gibt nach, in diesem Fall aber weiß der Klügere, dass Nachgeben die schlechteste Lösung wäre.

      Nur einmal bekommt Santiago seinen seltsamen Tanzpartner


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