Das Buch der Tiere. Martin Thomas Pesl

Das Buch der Tiere - Martin Thomas Pesl


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Unles- und vor allem Unübersetzbarkeit war geboren.

      Einer versuchte es dennoch, das Lesen und das Übersetzen: Der deutsche Moshe Kahn, der den 1992 verstorbenen D’Arrigo vor dessen Tod noch einige Male persönlich begegnet war. Er schuf seinerseits neue Wörter wie »erohräugen« (sehen und hören) und »Chinesischesdingsda« (Penis) und brachte 2015 eine preiswürdige Übersetzung heraus: den neuen Killerwal unter den Wälzern.

      Ach ja, das Ende der Beschreibung fehlt noch:

      »… alarmierend, unentzifferbar und Schauder hervorrufend, etwas, das man von weitem für ein geheimnisvolles Todeswerkzeug halten könnte, wie eine Art lebendiger und dauernd herumirrender Torpedo.«

      Und was macht der Orcinus Orca? Nicht viel. Da sein. Das Meer sein. Feren verscheuchen. Langsam dahinsiechen. Dem Menschen seine Kleinheit vorhalten. image

      GATTUNG: Orcinus orca

      KLASSE: Säugetier (= Fisch mit Chinesischemdingsda)

      LEBENSRAUM: Das Meer vor Sizilien

      SOZIALVERHALTEN: zermalmt Fischschwärme

      WWF-FAKTOR: image

      GERUCH: bestialisch

       DER BUTT

      AUTOR: Günter Grass

      TITEL: Der Butt

      ORIGINALFASSUNG: 1977

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      imageSolange die Anklageschrift verlesen wurde, lag der Butt reglos auf dem Wannenboden aus Zinkblech, als betreffe ihn nicht der Vorwurf, seit Ende der Jungsteinzeit in beratender Funktion ausschließlich, und bewußt zum Schaden der Frauen, die Männersache betrieben zu haben.

      Nicht Gott im Himmel: Butt im Wasser. Nicht Gott zum Gruße: Butt zur Buße. Der Fisch, geliehen aus dem alten Märchen Von dem Fischer und seiner Frau von Philipp Otto Runge, ist es, der bei Günter Grass wie eine auktoriale Instanz die Menschheitsgeschichte bestimmt. Im Gegensatz zu jenem, dem Originalbutt, berät dieser Butt aber nicht die Frau mit dem schönen Namen Ilsebill, sondern ihren Mann.

      Der platte Fisch aus dem plattdeutschen Märchen hat es sich also bis zum Jahr 1977 anders überlegt. Er, selbst ein gestandener Milchner (im Gegensatz zum Weibchen, dem Rogner), steht jetzt dem Manne beratend zur Seite.

      Damit ist nicht zuletzt der Autor selbst gemeint: »An einem zeitlosen Tag, heiter bis wolkig, fing ich den Butt.« Seither ist er das Teufelchen auf seiner Schulter und stiftet ihn zu klotzigen Gesten von historischem Ausmaß an: zu Kriegen, zu Gier und zu Völkerwanderungen.

      Aus der Küche duftet es derweil köstlich. Die stets kochenden Frauen, von Ilsebill, prominenten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts und diversen Köchinnen repräsentiert, haben die fischige Macho-Kiste irgendwann satt. Sie stellen den Butt vor ein feministisches Tribunal und klagen ihn der ruinösen Beeinflussung der Geschichte an.

      In der ihm eigenen Eloquenz gibt der Fisch schließlich klein bei und räumt ein: Ja, die Männer seien Egomanen, die Frauen hätten stets gekocht und Kinder ausgetragen (im ursprünglichen Märchen war noch die Frau wegen ihrer Unersättlichkeit und Gier an allem schuld). Mit verächtlicher Ironie und überheblicher Belesenheit, die jener von E.T.A. Hoffmanns Kater Murr Konkurrenz macht, fügt sich der Angeklagte einer neuen Zukunft.

      Die ihm auferlegte Strafe liegt auf der Hand, haben die Frauen doch die ganze Zeit kaschubisch gekocht – ein Thema, von dem der aus Danzig stammende Autor Günter Grass stets besessen war. Warum sie da nicht früher draufgekommen sind, die Ilsebills? »Kühler Riesling stand bereit. Die dampfenden Schüsseln wurden aufgetragen.« Genau, ein großes Buttessen gibt es.

      Günter Grass handelte sich für seinen gut gemeinten und famos geschriebenen, aber eben trotzdem klischeebeladenen Geschlechterkampfroman den Titel »Pascha des Monats« der Frauenzeitschrift Emma ein. Der Butt konnte dafür natürlich nichts. Obwohl das alles in Wahrheit vermutlich seine Idee war. image

      GATTUNG: Scophthalmus maximus

      BERUF: Berater

      HUMOR: platt

      GESCHLECHT: Macho (Milchner)

      ALTER: ewig

      MENSCHLICHKEITSFAKTOR: image

      KULINARIKFAKTOR: image

      ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen

      Natürlicher FEIND: das Feminal

      VORBILD: der Frauenversteherbutt

      Die

      Summenden,

      Sirrenden und

      Zirpenden &

      ihre Jäger

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       DIE AMEISE

      AUTOR: Jean de La Fontaine

      TITEL: Die Grille und die Ameise (aus dem Französischen von Ernst Dohm und Gustav Fabricius)

      ORIGINALFASSUNG: 1668

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      imageUnd vor Hunger weinend leise

      Schlich’s zur Nachbarin Ameise;

      Fleht’ sie an, in ihrer Not

      Ihr zu leihn ein Körnlein Brot.

      Mit den Fabeln ist das sehr kompliziert. Jeder kennt die Tiermärchen mit der moralischen Zeigepfote, viele wissen, eigentlich hat der alte Grieche Äsop sie gedichtet, im 6. Jahrhundert vor Christus. Die wurden aber in erster Linie mündlich überliefert, und niedergeschrieben haben sie dann viele, viele Menschen, die sprachlich versiert waren, sich aber keine eigenen Geschichten ausdenken wollten: in Deutschland etwa die Gebrüder Grimm, Lessing und Goethe, in Frankreich La Fontaine, der sie in Versform gebracht hat, während wir als Kinder wahrscheinlich unter seinem Namen Bilderbücher mit ungereimten, nett erzählten Prosatexten vorgelesen bekamen.

      In Prosa wurden die Verse auch vom Barockpoeten Abraham a Sancta Clara übertragen. Die bekannteste fabula, die uns selbst in Roland Schimmelpfennigs Drama Der goldene Drache noch begegnet, ist jedenfalls die von der Ameise und der Heuschrecke oder von der Ameise und der Zikade oder von der Libelle und der Ameise oder von der Grille und der Ameise (wie bei La Fontaine). Die mit der Ameise jedenfalls. Warum?

      Vielleicht weil die Ameise, sonst dank ihres Fleißes und der unverkrampften Solidarität mit ihren Baugenossinnen positiv konnotiert (der Begriff lautet: Eusozialität!), hier


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