Pflanzen als Bilder der Seele. Ernst-Michael Kranich

Pflanzen als Bilder der Seele - Ernst-Michael Kranich


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Mit Erkenntnis und Wissenschaft haben diese Erlebnisse zunächst nichts zu tun. Sie sind dem Bewusstsein nicht recht greifbar.

      Ähnlich ist es mit Erlebnissen, die sich mehr auf Einzelnes beziehen. Auch Pflanzen «sprechen» nicht nur zu den Sinnen und dem Verstand. Sie berühren das menschliche Gemüt. Ein Maiglöckchen «wirkt» innig, der blaue Eisenhut streng. Wir sprechen von der kraftvollen Eiche, der lieblichen Birke und dem bescheidenen Veilchen. Das alles sind Anmutungserlebnisse im Bereich der ästhetischen Naturerfahrung. Ihnen haftet sicher Subjektives an. Aber eines ist unabweisbar: die Dimension des Rätselhaften. Wo der Mensch Rätsel erlebt, weiß er, dass in den Dingen etwas enthalten ist, was in dem bisher Erkannten, möglicherweise aber auch in den verfügbaren Erkenntnismethoden nicht aufgeht.

      Wenn es gelingt, das, was man in solchen Anmutungserlebnissen als Rätsel empfindet, mit dem erkennenden Bewusstsein zu durchdringen, dann wird die Kluft zwischen rationaler Klarheit und den unbestimmten Dimensionen des ästhetischen Erlebens überwunden; denn die Klarheit des Erkennens wird in das Gebiet des bisher nur Erlebten ausgeweitet. Wie aber kann man das, was man als Anmutung beim Betrachten von Pflanzen erlebt, bewusst erfassen? Man muss jenen Bereich, der beim ästhetischen Anschauen im eigenen Innern auflebt, genau kennenlernen. Das sind innere Seelenzustände, vor allem Gefühle. Man wird auch die Pflanzen in ihren Formen und Farben eingehend betrachten. Dann kann sich zeigen, inwieweit sich im Menschen bisher verschlossene Bereiche der Pflanzenwelt aussprechen.

      Man betritt ein neues Gebiet des Forschens, indem man das Objektivitätspostulat der modernen Naturwissenschaft – die Forderung, die Natur objektiv zu untersuchen, d. h. unter Ausschluss des Menschen – aufgibt. Wir wollen nicht erörtern, inwieweit dieses Postulat schon immer eine Fiktion war, sondern darauf hinweisen, dass eine methodische Erweiterung des Naturerkennens nur möglich ist, wenn man die von diesem Postulat bestimmten Grenzen überschreitet. Man muss allerdings, um nicht ins Ungewisse und Unüberprüfbare zu kommen, mit großer Sorgfalt vorwärtsschreiten und sich von jedem Schritt Rechenschaft geben.

      Zunächst ist der naheliegende Einwand zu beseitigen, man verfalle der Subjektivität, wenn man sich den eigenen inneren Seelenzuständen zuwende. «Subjektiv» hat eine doppelte Bedeutung. Es bezeichnet die inneren Erlebnisse, insofern sie dem einzelnen Menschen als Subjekt angehören. Dieses Subjektive ist genauso Erfahrung wie ein Baum oder ein Haus. Deshalb schreibt H. Schmitz pointiert: «Gefühle sind nicht subjektiver als Landstraßen, nur weniger fixierbar.»4 Subjektiv wird aber auch in wertendem Sinn gebraucht. Dann bezeichnet es Täuschung und Irrtum, die dadurch entstehen, dass der Mensch ein Gefühlserlebnis unreflektiert beispielsweise einem Gegenstand zuschreibt.

      Nun kommt dem Menschen die eigene Innenwelt nicht in gleicher Weise zu Bewusstsein wie die Dinge seiner Umgebung. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die Tatsachen und Vorgänge der äußeren Welt, auch auf seine Vorstellungen und Gedanken. An diesen entzünden sich Gefühle, Wünsche und andere Seelenregungen. Er lebt zwar in ihnen, betrachtet sie aber nicht. So befindet sich das Subjektive, das persönliche Eigenwesen in einem Dämmerzustand. Man «kennt» es intim, ohne aber ein klares Bewusstsein von ihm zu haben. Deshalb sind auch die Anmutungserlebnisse so unbestimmt und schwer formulierbar. Der erste Schritt ist also ein bewussteres Durchdringen der eigenen Innenwelt, ein Aufhellen des dämmerhaft Seelischen. Dabei wendet man seine Aufmerksamkeit den inneren Erlebnissen so zu wie sonst den äußeren Gegenständen. Sie werden dadurch zu einem Objektiven.

      Das kann nur allmählich geschehen; denn das Gebiet der inneren Seelenvorgänge ist viel reicher und differenzierter, als man zunächst vermutet. Macht man sich die Mühe, die Seelenerlebnisse einigermaßen umfassend aufzuzählen – von den verschiedenen Tätigkeiten, die mit dem Vorstellen zusammenhängen (Vorstellen, Erinnern, Sich-Besinnen, Vermuten, Erwägen usw.) über das weite Reich der Gefühle bis hin zu den mannigfachen Äußerungen des Wollens, Begehrens und Wünschens –, dann ahnt man: Die innere Welt des Subjektiven steht an Reichtum und Fülle der äußeren Welt kaum nach.

      Mit den vom Bewusstsein durchdrungenen Regungen der Seele kann man sich den Formen und Farben der Pflanzen zuwenden. Dann klärt sich, was man zunächst nur als Anmutung erlebt hat. Man entdeckt eine bisher verborgene Dimension in der Pflanzenwelt – eine zunächst außerordentlich überraschende Entsprechung zwischen den Regungen der menschlichen Seele und den Form- und Farbgebärden der Pflanzen.

      Mit diesen Bemerkungen wollen wir den Untersuchungen der folgenden Kapitel keineswegs vorgreifen, sondern nur auf die Methode unserer Untersuchungen hinweisen. Es handelt sich um eine «physiognomische» Erkenntnismethode, weil sie das, was sich in den Erscheinungen der lebendigen Natur an seelenhaften Qualitäten äußert, mit der vollen Klarheit und Besonnenheit des Erkennens erfasst.

      Wir meinen keineswegs, mit der physiognomischen Erkenntnismethode hätte man den Schlüssel, um nun endgültig die Rätsel der Natur zu lösen. Man muss sich von der Illusion befreien, es gäbe die eine Methode. Wir stimmen ganz mit folgender Äußerung von Hans Primas überein: «Alle Versuche, eine Einheit der Gesetze, der Methoden, der Darstellungsarten oder der Ziele zu erzwingen, haben ausnahmslos zu einer Verarmung der Wissenschaften geführt.»5 Wer lange Jahre den Rätseln der lebendigen Natur nachforscht, erfährt, dass er sich mit einer Welt befasst, die verschiedene Dimensionen oder Schichten in sich birgt. Jede dieser Dimensionen kann man nur durch eine angemessene Methode erforschen. Und erst wenn man im Laufe der Zeit die Natur mit einer Reihe verschiedener Methoden betrachtet, lernt man sie in der Fülle und Tiefe ihres Wesens kennen. «Die Suche nach einer Einheitswissenschaft ist eine monotheistische Projektion, die heute aufgegeben werden muss.»6 Wir sind allerdings der Auffassung, dass der physiognomischen Erkenntnismethode eine besondere Bedeutung zukommt, wenn es wie heute um eine Revision des bisherigen Verhältnisses des Menschen zur Natur geht.

      SCHNEEGLÖCKCHEN UND KROKUS

      Wir können aus dem weiten Reich der Blütenpflanzen nur wenige Pflanzen betrachten. Dabei wollen wir dem Leben der Natur, d. h. dem Jahreslauf mit dem Wandel seiner Formen, folgen und mit dem zeitigen Frühjahr beginnen.

      In dieser Zeit, in der die Sonne die noch feuchte und kühle Natur mit ihrem Licht von Tag zu Tag stärker erfüllt, blühen Kräuter, die das Gemüt besonders innig berühren: das Schneeglöckchen, der Märzenbecher, der Krokus, der Gelbstern, die Scilla, der Huflattich. Bei aller Verschiedenheit ihrer Formen ist diesen Pflanzen eines gemeinsam. In ihnen erreicht das Pflanzenwesen einen nur geringen Grad der Entfaltung. Am deutlichsten ist das bei den Zwiebelpflanzen. Bei ihnen wird der knospenhafte Winterzustand, die Zwiebel, nie völlig überwunden. Aus ihm entfalten sich einfache, schmale Blätter. Es sprießt noch kein Stängel empor, der die Blätter sich frei im Luftraum entfalten ließe. Nur der Blütentrieb dringt mit einer oder wenigen Blüten hervor. Die Pflanzenbildung ist ganz verhalten. Das Leben der Natur «erwacht», es vereinigt sich anfänglich mit den Kräften der Umgebung, mit der Luft und dem Licht. – Im ästhetischen Anschauen leben Ahnungen von der Intimität dieses gleichsam kindhaft reinen Lebens auf.

      Diese Beobachtungen können zum Anlass werden, im eigenen Innern solche Vorgänge und Regungen zu betrachten, in denen sich das Leben der Seele in ähnlicher Weise anfänglich der Welt zuwendet, z. B. das Erwachen und das Sehnen. – Wenn man so von der Natur zu inneren Vorgängen der Seele übergeht, lässt man sich von einer Analogie leiten. Nimmt man diese aber nur als Hinweis auf eine mögliche Beziehung und prüft, ob sie auch wirklich besteht, dann kommt man nicht in jenes fragwürdige Gebiet, in dem vages Vermuten für Erkenntnis ausgegeben wird. Will man in das noch weitgehend unerschlossene Gebiet des Zusammenhangs von Mensch und Pflanzenwelt bewusst eindringen, dann sollte man beherzigen, was Rudolf Steiner von einem solchen Bestreben gesagt hat: «Nicht flüchtig, sondern ernst und auf Schritt und Tritt müssen wir solche Dinge zu verfolgen suchen.»7

      Sehnen und Sehnsucht sind Regungen, die aus den innersten Bezirken der Seele aufsteigen. Sie sind intimer als Wünsche oder gar Begierden. Philipp Lersch, einer der bedeutenden Psychologen des 20. Jahrhunderts, schreibt: «Sehnsucht ist … nichts anderes als eine besondere Erscheinungsform der Liebe zu etwas. Sie entsteht immer dann, wenn der Gegenstand der Liebe in der Gegenwart entrückt ist.» Sehnsucht geht zu dem, was dem eigenen Innern besonders nahesteht, aber unerreichbar


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