Pflanzen als Bilder der Seele. Ernst-Michael Kranich
den Anmutungserlebnissen, von denen diese Betrachtung ausgegangen ist, klingt etwas an, was nicht nur eine subjektive, für das Erkennen bedeutungslose Reaktion auf die Eindrücke der Natur ist. Um das, was in der Anmutung lebt, zur Klarheit zu bringen, bedarf es eines neuen Anschauens, in dem die eigene Seele zum Organ des Anschauens wird. Wendet man sich mit bewusst durchdrungenen Seelenprozessen wie denen des Sehnens und des beginnenden Erwachens der Natur zu, dann wird die Natur zur «Mitwelt» (Meyer-Abich). Man findet in ihren Erscheinungen etwas, was dem eigenen Wesen tief verwandt ist. Diese Verwandtschaft liegt aber nicht dort, wo sie heute gesucht wird, im Bereich der Physis, sondern im Seelischen, wo man sie im Allgemeinen nicht einmal vermutet.
Frühlingskrokus (Crocus albiflorus)
a. Blüte, unten der kurze Blütentrieb und Fruchtknoten
b. Die Blüte erhebt sich aus der von den Scheidenblättern gebildeten Hülle
(aus W. Troll, Praktische Einführung in die Pflanzenmorphologie).
Lernt man in der Pflanzenwelt Bilder des Seelischen kennen, so entstehen neue Fragen. Die Natur selbst wird in neuer Weise zum Rätsel. Denn in ihr werden Dimensionen sichtbar, die in das bisherige Bild nicht hineinpassen. Offensichtlich geht die Natur nicht in dem auf, was man ihr an Wesenszügen zugesteht. Wir wollen auf diese Fragen erst eingehen, wenn wir durch weitere Betrachtungen eine reichere Anschauung haben.
Über die Form des Erkennens ist aber schon jetzt eine Aussage möglich. In ihr bewahrheitet sich der alte Satz, dass Gleiches mit Gleichem erkannt wird, in unserem Fall Seelisches mit Seelischem. Seelenvorgänge wie das Sehnen gehören nicht der Sinneswelt, dem materiellen Dasein an. Auch wenn sie sich im Physischen manifestieren, sind sie ihrem Wesen nach übersinnlich. Rudolf Steiner beschreibt in seinen Darstellungen über den Weg der geistigen Schulung die erste Stufe des übersinnlichen Erkennens als Imagination. Ein Kennzeichen der Imagination ist es, «in solche bildlichen Vorstellungen einzudringen, die im Sinne des Goetheschen Wortes ‹Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis› die höheren Welten darstellen».9 Die ersten Schritte auf dem Weg zur Ausbildung der Imagination geht man, wenn man die vergänglichen Formen und Farben der Pflanzen als Bild oder Gleichnis des Übersinnlichen, eben des Seelischen, erkennen lernt. Der innere Zusammenhang von Mensch und Natur, der heute gesucht wird, verlangt imaginative Naturerkenntnis. Durch diese offenbart sich das, was das Gegenstandsbewusstsein als eine bestimmte physische Pflanze auffasst, als Bild einer tieferen, übersinnlichen Wirklichkeit. Die gleiche übersinnliche Wirklichkeit trägt der Mensch auch in seiner eigenen Seele. Sie kann daher Erkenntnisorgan für jene Welt werden, die in den Bildern der Natur imaginativ zum Ausdruck kommt.
DIE TULPE
Wohl kaum eine Pflanze des Frühlings ist uns so vertraut wie die Tulpe. Ihre großen leuchtenden Blüten sind im April und Mai die Zierde unserer Gärten und Parkanlagen. Bald nach dem Frühlingsanfang brechen ihre Blätter aus dem Boden hervor. Der Spross wächst ziemlich rasch in die Höhe. Zwischen den Blättern erscheint die grüne Blütenknospe, die vom Stängel weiter emporgetragen wird. Hier vollzieht sich dann an wärmeren Tagen die eindrucksvolle Verwandlung in die leuchtend rote, gelbe oder weiße Blüte. Blätter und Blütenknospe hatten sich schon im Vorjahr in der Zwiebel, jener mächtig angeschwollenen Knospe, gebildet. Indem sie nun aus dem Inneren der Zwiebel hervortreten und sich in der täglich zunehmenden Sonnenwirkung entfalten, erscheint der Frühling durch das lebensvolle Grün der Blätter und das frische Leuchten der Blüten wie auf einem Höhepunkt.
Allerdings, die Tulpe passt nicht recht zu den anderen Zwiebelpflanzen des Frühlings, zu dem Gelb-, dem Blauoder dem Milchstern zum Beispiel. Ihre Blätter und ihre Blüte sind auffallend groß. Das erinnert daran, dass die Tulpe bei uns eigentlich ein Fremdling ist. Sie kam erst im 16. Jahrhundert aus Bulgarien nach Mitteleuropa. Die Heimat der Gattung Tulipa und ihrer verschiedenen Arten sind das südliche Europa und die gemäßigten Gebiete Asiens. So stammt unsere Garten-Tulpe (Tulipa Gesneriana) aus einem südlicheren Frühling. Auch die kleinere Wilde Tulpe (Tulipa silvestris), die man bisweilen in Obstgärten, Parkanlagen und Weingärten findet, wurde im 16. Jahrhundert aus dem Mittelmeergebiet in unsere Gegenden gebracht.
Was jedem Betrachter der Tulpe auffällt, ist ihre einfache Gestalt. Am Spross entfalten sich nur wenige Blätter. Ihre Blattfläche entspringt ohne Stiel unmittelbar aus dem Stängel. Die enge Verbindung mit dem Stängel kommt auch in der Richtung zum Ausdruck; die Blätter wenden sich nicht zum Umkreis, sondern streben nach oben. Und den Blattflächen fehlt die Geste des inneren Sich-Ausweitens; durch den bogenförmigen Verlauf ihrer Blattadern haben sie wie die Blätter aller Zwiebelgewächse eine in sich abgeschlossene Struktur. Besonders das erste Blatt umschließt an seinem Grund den Stängel. Am stärksten ist diese umhüllende Geste aber bei den Schuppenblättern im Inneren der Zwiebel. Sie klingt dann am Spross in der Folge der wenigen Laubblätter etwas ab. So gleicht der Spross insgesamt einer Bildung, die am Anfang der Entfaltung steht. Das gilt auch für das Blühen. Normalerweise weitet sich die Pflanze in der Blütenregion zu einem Blütenstand. Bei den meisten Zwiebelpflanzen entstehen einfache traubenförmige Blütenstände. Bei der Tulpe wird aber nur die Endblüte gebildet. Ihre Blütenhülle ist wie bei allen Liliengewächsen einfach. Und die Blütenblätter sind in ihrer Form den grünen Blättern des Sprosses oft noch recht ähnlich.
Die Form der Blüte ist allerdings eindrucksvoll. Die sechs Blütenblätter umschließen einen weiten, tiefen Innenraum, der sich ganz nach oben richtet (s. Farbabb. 3). An kühleren Tagen schließt er sich, an wärmeren wird er etwas offener. Dabei wachsen die Blütenblätter in die Länge. So wird das Sich-Hinwenden der Blüte nach oben, zur Ferne intensiver. Im Inneren dieses tiefen Blütenkelches sind die Staubgefäße und der Stempel verborgen. Die Filamente der Staubgefäße sind kurz und derb, der Fruchtknoten geht ohne Griffel unmittelbar in die Narbe über.
Garten-Tulpe (Tulipa Gesneriana).
Innenraum einer Tulpenblüte.
Die Tulpe ist in ihrer ganzen Bildung Ausdruck eines Übergangs. Zum Winter hin hatte sich das Leben in der Knospe konzentriert, d. h. aus dem Zusammenhang des Weltumkreises abgesondert. Dieser Winterzustand bleibt auch dann noch erhalten, wenn Spross und Blüte im Frühling aus ihm hervortreten. Und etwas von dem knospenhaft-verhaltenen Charakter durchzieht die ganze Pflanze bis in die Blüte. So entsteht jene Gebärde, die uns in der Tulpe entgegentritt: das Hinaufstreben zum Licht, zur Ferne.
Dies alles zeigt eine Verwandtschaft zum Krokus. Denn auch der Krokus steht wie am Beginn der Entfaltung. Auch er wendet sich ganz zur Ferne. Nur ist bei ihm alles noch stärker zurückgehalten. Sein Spross ist weitgehend in der Knolle gestaut. Blätter und Blüte kommen schmal aus dem Boden hervor. Und in der Blüte bilden sich nur drei Staubgefäße. Demgegenüber drängt die Pflanzenbildung in der Tulpe mehr nach außen, der Sonne entgegen.
Was die Tulpe charakterisiert, ist ihre so verhaltene Beziehung zur Umgebung, ihr intensives Sich-Hinwenden zur Höhe, das sich in der Blüte gleichsam verinnerlicht – in einer Gebärde, die in der Ferne etwas wie Erfüllung sucht.
Wenn man sich in diese Gesten der Tulpe und die Lebendigkeit der Farben vertieft, empfindet man ein Inneres, Seelenhaftes. Man ist aber nicht in der Lage, es auszusprechen.
Möchte man das, was dem Bewusstsein zunächst verhüllt ist, kennenlernen, dann kann die Nähe der Tulpe zum Krokus einen Weg weisen. Der Krokus ist uns zum Bild der Sehnsucht geworden. Die Sehnsucht lebt in jenem Bereich des Seelischen, in dem sich Fühlen und Wollen durchdringen, sodass im Fühlen ein inneres Wollen oder Drängen wirkt. Zu diesem Bereich gehört auch eine andere Seelenregung, die der Sehnsucht nahe verwandt ist und sich zugleich charakteristisch von ihr unterscheidet. Es ist