Pflanzen als Bilder der Seele. Ernst-Michael Kranich

Pflanzen als Bilder der Seele - Ernst-Michael Kranich


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Der Raum ist nach oben offen. Am Boden entfaltet sich eine reiche Vegetation mit Gelbstern, Scilla, Lungenkraut, goldgelbem Hahnenfuß, Einbeere, Aronstab und manch anderer Pflanzenart. Dort, wo das Licht der Sonne stärker zum Boden hinunterdringt, findet man die grünen Teppiche des Buschwindröschens mit seinen weißen, bisweilen rötlichen Blütensternen.

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      Weißes Buschwindröschen (Anemone nemorosa; nach Troll, Praktische Einführung in die Pflanzenmorphologie).

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      Der Scheinquirl des Weißen Buschwindröschens mit der Folge seiner Blätter (aus Troll, a.a.O.).

      Die Gestalt des Weißen Buschwindröschens ist recht ungewöhnlich. An seinem Stängel entspringen drei Blätter dicht gedrängt nahezu auf gleicher Höhe und bilden einen Scheinquirl. Sonst entsteht an der Pflanze jedes Blatt für sich am Stängel, eines immer nach dem anderen. Beim Buschwindröschen ist dieses aufwärtsstrebende Sprießen gehemmt. Man kann an dem Quirl deutlich ein erstes, zweites und drittes Blatt unterscheiden, vor allem auch durch eine schwache Metamorphose in der Folge der schön geteilten Blätter. In ihrer Mitte entspringt der zarte Stiel, der die Blüte über den blattartigen «Kelch» hinaus der Sonne entgegenträgt. An hellen, warmen Frühlingstagen wendet sich die Blüte weit geöffnet der Sonne zu. Offene Hinwendung zum Licht tritt uns im Kreis der drei Blätter entgegen und auf höherer Ebene noch einmal in den sechs zarten Blättern in der Blütenkrone. Dieser Charakter der Zuwendung zeigt sich auch in den zahlreichen zarten Staubgefäßen und der lockeren Anordnung der Fruchtblätter im Zentrum der Blüte (s. Farbabb. 4).

      Wenn man ein Buschwindröschen ausgräbt, findet man im Boden einen horizontalen, bräunlichen Erdspross, aus dem eine Anzahl von Wurzeln entspringt. Er ist meist kürzer als der der Einbeere, des Maiglöckchens und des Salomonsiegels. Dieser Erdspross (Rhizom) entspricht dem Stängel eines Hahnenfußes oder einer Nelke. Jene Bildung, die sonst zur Sonne hinwächst, ist beim Buschwindröschen an das dunkle Erdreich gefesselt. Die Wurzeln bilden sich unter dem Einfluss der Gravitation. So ist der Spross durch eine übermäßig starke Wirkung der irdischen Schwere in den Boden gebannt. Im zeitigen Frühjahr ist die Macht der Sonne im Leben der Natur noch nicht sehr stark; deshalb dominieren die irdischen Kräfte gegenüber den kosmischen. Von Jahr zu Jahr wächst der Erdspross etwas weiter. An seinem Ende stirbt er ab. An der Spitze entspringt im zeitigen Frühling jener Trieb, in dem sich das Buschwindröschen aus den Wirkungen der Erde löst und der Welt des Lichtes zuwendet. Indem es in den Raum des Lichtes empordringt, stockt das Sprießen. So bleibt das Buschwindröschen in seiner Bildung, wenn es die Sphäre des Lichtes berührt, gleichsam stehen. Es entsteht die Gebärde offener Hinwendung zum Licht.

      Je genauer man das Buschwindröschen betrachtet, desto deutlicher erlebt man den rätselvollen physiognomischen Charakter seiner Gestalt. Was spricht sich in dem Scheinquirl der drei Blätter und seiner so offenen Gebärde aus? Was in der innigen Hinwendung der weißen Blüte zur Sonne? Um diese Fragen zu beantworten, muss man bestimmte Erlebnisse der eigenen Seele bewusst durchdringen und zum Organ des Anschauens machen.

      Wenn man etwas erlebt, was zu der eigenen Erwartung im Widerspruch steht oder über die bisherige Erfahrung hinausgeht, kommt es zu Überraschung und Erstaunen. In der Überraschung fühlt sich der Mensch von dem Eindruck wie überwältigt. Dieser trifft ihn unvorbereitet. Sonst antwortet die Seele auf das, was sie erfährt, mit Sympathie oder Antipathie, Freude oder Ärger, Begeisterung oder Ablehnung. Gefühle strömen zu den Dingen hin. In der Überraschung stockt aber diese Bewegung der Seele, auch im Erstaunen. Man bleibt wie betroffen vor dem Eindruck stehen.

      Im Erstaunen lebt eine tiefere Seelenregion als in der Überraschung auf. Man erstaunt über das Ungewöhnliche, so etwa über die Geduld eines Menschen, die man noch nicht an ihm kennt; über die Größe eines Baumes, welche die aller anderen Bäume übertrifft; über die Geschicklichkeit eines Tieres, den Glanz eines Steines. Man ist überrascht und öffnet sich weit, um das Neue intensiv aufzufassen. Die von der Seele ausgehenden Strömungen kommen zur Ruhe; es schweigt auch alles Wünschen und Begehren. Die Seele lebt in offener, reiner Zuwendung.

      Lernt man in der Selbstbeobachtung die Seelengebärde des Erstaunens kennen, dann werden die Form des Buschwindröschens und das reine Weiß seiner Blüte verständlich. Der bisher unbestimmte physiognomische Eindruck lichtet sich auf. Man findet in ihm eine äußere Manifestation dessen, was man in der eigenen Seele als das Erstaunen erkannt hat. – Überall wo im Frühling Buschwindröschen blühen, erscheint in der Natur das Bild des Erstaunens.

      Wenn man nun ein Buschwindröschen betrachtet, gewinnt man zu ihm eine neue Beziehung. Bisher hat man es von außen angeschaut. Nun lebt man mit der eigenen Seele seine Formen und Farben innerlich mit. Man taucht mit dem eigenen, bewusst gewordenen Erstaunen in das Buschwindröschen ein. Dabei modifiziert sich das Erleben etwas. Man erfasst: Das Buschwindröschen ist das Bild eines kindlichen Erstaunens.

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      Osterglocke (Narcissus pseudonarcissus).

      Gegenüber der verhaltenen Form des Weißen Buschwindröschens ist die Osterglocke eine besonders eindrucksvolle Erscheinung unter den Frühlingspflanzen. Sie blüht im vollen Licht der Frühlingssonne auf den noch feuchten Wiesen, vor allem aber dort, wo die Macht des Lichtes besonders groß ist – auf Anhöhen, Hügeln und Bergwiesen. Sie stellt sich dort in die Schönheit der Natur hinein und steigert sie durch das leuchtende Gelb ihrer Blüten.

      Wie viele der einkeimblättrigen Pflanzen hat die Osterglocke eine Zwiebel. Wie bei der Tulpe bleibt der knospenhafte Zustand des Winters bestehen, wenn die Blätter und der Blütentrieb in den Raum des Lichtes emporstreben. Unten sind sie von einer scheidenartigen Hülle umschlossen. Dann wachsen die drei oder vier Blätter intensiv dem Licht entgegen. In ihrer Mitte dringt der Blütenstiel nach oben. An seiner Spitze umschließt ein zartes Blatt die Blütenknospe. Diese bricht dann aus der Hülle hervor, wendet sich zur Seite und entfaltet ihre leuchtende Gestalt.

      Die Blüte der Osterglocke ist eine der rätselvollsten Blütenformen überhaupt. Der Innenraum weitet sich gleich am Grund und geht in den offenen Kreis der sechs Blütenblätter über. Er setzt sich aber in der eigenartigen glockenförmigen Nebenkrone fort, die sich dem morphologischen Verständnis nur schwer erschließt. So dringt er weit über die Blütenkrone hinaus. Wie die Blätter zur Sonne hinaufstreben, wendet sich die Blüte zur sonnenerfüllten Weite. Zwei Gesten sind in ihrer Form vereinigt: offene Zuwendung zur Umgebung in der Blütenkrone und tiefe innere Hingabe an die Umgebung (s. Farbabb. 5 und 6).

      In der Geste der Zuwendung ist die Osterglocke dem Buschwindröschen ähnlich. Die Zuwendung ist aber durch die Gebärde der Hingabe modifiziert. Nun lernt man in der Seele ein Gefühl kennen, das dem Erstaunen verwandt ist, in dem das Erstaunen aber eine starke Verinnerlichung erfahren hat. Das ist das Bewundern. Dieses Gefühl gehört zu den tiefsten Regungen der menschlichen Seele. Es entsteht, wenn die Natur im Glanz der Schönheit erstrahlt und wenn man die Erhabenheit der Natur erlebt. Oder man bewundert die moralische Größe eines Menschen, bedeutende Werke der Kunst, die Gedankentiefe und geistige Klarheit des Denkers. In der Bewunderung öffnet sich die Seele immer einem Geistigen, das ihr unmittelbar oder durch äußere Erscheinungen entgegentritt.

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      Längsschnitt durch die Blüte einer Osterglocke.

      Wie ist aber die innere Seelengebärde des Bewunderns? Die Seele wendet sich dem, was sie bewundert, offen und rückhaltlos zu. Unter dem Eindruck des Großen und Bedeutenden sind ihre Tore weit geöffnet. Aus der Tiefe kommt ein Verlangen, sich an das hinzugeben, was man erlebt. Die Seele möchte dies in ihr Inneres aufnehmen und mit ihrem eigenen Dasein vereinigen. Das Innere strömt dem Schönen und Erhabenen


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