Pflanzen als Bilder der Seele. Ernst-Michael Kranich

Pflanzen als Bilder der Seele - Ernst-Michael Kranich


Скачать книгу
Sie ist inneres Verlangen nach dem Fernen. Zu ihm fühlt sich die Seele hingezogen.

      So sind zwei Erlebnisse mit dem Sehnen verbunden. Zum einen das der inneren Einsamkeit; denn das, womit man verbunden sein möchte, ist nicht da. Und aus dem Erlebnis des Mangels entspringt zum anderen das Gefühl eines feinen inneren Schmerzes. Dieser durchsetzt das sehnende Sich-hingezogen-Fühlen. Im Schmerz zieht sich die Seele immer zusammen. So wird das innere Sich-hingezogen-Fühlen eng. Beide Erlebnisse klingen in der Sehnsucht zusammen. In der Einsamkeit ist die Seele auf ihr eigenes Inneres konzentriert; aus diesem erhebt sich ein von Schmerz verengtes Verlangen, das sich zur Ferne hingezogen fühlt.

image

      Seelengebärde der Sehnsucht.

      Wendet man die Aufmerksamkeit genauso wach dem eigenen Innern zu wie sonst den Dingen der Außenwelt, dann bemerkt man: Sehnsucht ist innere Bewegung, und zwar Bewegung in der Art einer inneren Gebärde. Man kann sie in einer Form wiedergeben. In dieser kommt zunächst das sich von der Umgebung absondernde einsame Eigensein zum Ausdruck, in dem die Seele in sich zentriert ist; hier entspringt das enge Verlangen, das sich mit dem Fernen sehnlichst vereinigen möchte. Eine solche Form ist nicht als starre Figur, sondern dynamisch aufzufassen. Sie ist ein Bild innerer Bewegung, an dem im Anschauen die Identität mit der Gebärde der Sehnsucht erlebt werden kann.

      Dem Sehnen ist das beginnende Erwachen ähnlich. Auch bei ihm möchte sich das Innere mit dem Äußeren verbinden, erreicht es aber noch nicht. Beginnendes Erwachen ist jener Zwischenzustand, den Michelangelo in der Gestalt des Morgens in der Medici-Kapelle dargestellt hat. Die Seele zieht gerade in den Leib ein. Es kommt zu ersten Bewegungen. Der Kopf wird noch kaum gehoben, die Augen öffnen sich, der Blick dringt aber noch nicht in die Welt hinaus. Die Seele ist aus dem Ozean des bewusstlosen Schlafes aufgetaucht, sie hat das Zwischenreich des Traumes schon weitgehend durchschritten. Die Bilderwelt des Traumes verglimmt noch nicht ganz, während das Tagesbewusstsein am Seelenhorizont kaum dämmert. Noch während des Träumens beginnt ein anderes Erleben: ein inneres Sich-Weiten und Sich-Öffnen zur Welt des Tages, bevor das Bewusstsein diese betritt.

      So lernt man auch das Erwachen als Bewegung der Seele kennen. Auch sie kann man in ihren inneren Gesten schildern: Aus der abgesonderten Sphäre des Inneren beginnt sich das innere Leben nach außen zu entfalten, verbindet sich aber noch nicht mit der äußeren Welt; es weitet sich, während in der Tiefe des Innenraumes die Sphäre des Traumes noch nicht abgeklungen ist.

      Wendet man sich mit dem, was man so in der eigenen Seele kennenlernt, den Pflanzen des Vorfrühlings zu, dann kommt man zu einer überraschenden Erfahrung. Es ist, wie wenn man dem, was man in sich erfasst hat, nun auch äußerlich begegnete. Die Formen und Gebärden des Schneeglöckchens, jenes ersten Frühlingsboten, der schon im Februar aus dem Dunkel der Erde hervordringt, beginnen zu sprechen. Man findet in ihnen wieder, was in der eigenen Seele der Beginn des Erwachens ist. Aus der abgeschlossenen Eigensphäre der Zwiebel wächst ein eigenartiger Trieb hervor. Er ist vom bleichen, schwach ergrünenden Scheidenblatt umhüllt, in dem sich die absondernde Gebärde der Zwiebel fortsetzt. Aus dieser Hülle kommen zwei schmale Blätter hervor, die unten in der Zwiebel entspringen und sich oben nur wenig in die Umgebung entfalten, so, wie wenn sie das Licht und die Atmosphäre nur berühren würden. Zwischen ihnen steigt ein Blütentrieb aus der Tiefe empor. An seiner Spitze umhüllen zwei Hochblätter wie eine Knospe die Blüte. Und wie unten Blätter und Blütentrieb in der Zwiebel entspringen, so kommt auch oben die Blüte aus einem Innern hervor. Sie wendet sich nach unten als Ausdruck eines nach innen gerichteten Daseins. Dieses weitet sich durch die drei äußeren Blütenblätter. In ihm erscheint dann eine enge geheimnisvolle Sphäre aus den drei kleineren Blütenblättern. Sie sind in ihrer Form verhalten und haben ein eigenes Leben, das sich in der grünlichen Färbung ausspricht. – Oft ist die Erde noch gegenüber der Umgebung durch eine dünne Schneedecke abgesondert, wenn die Schneeglöckchen im Garten, in Parkanlagen und in den noch kahlen Laubwäldern blühen (s. Farbabb. 1).

      Schaut man nicht nur mit dem Gegenstandsbewusstsein in die Natur, sondern auch mit dem aufgehellten Seelenleben, dann erfasst man in der Gestalt und Entfaltungsgebärde des Schneeglöckchens den Ausdruck des beginnenden Erwachens. Was für den Menschen inneres Seelenerleben ist, manifestiert sich auch in der Natur, im Gewande des stofflichen Lebens. Wenn ein geistig oder seelisch Wesenhaftes in einem vergänglichen Medium erscheint, dann bezeichnet man diese Offenbarung als Bild. Insofern ist das Schneeglöckchen Bild jenes Zwischenzustandes zwischen Traum und Wachen.

      Man findet im zeitigen Frühling eine andere Pflanze, die in ihren Formen und ihrer Zartheit der Seelengebärde des Sehnens entspricht. Es ist der Krokus, der im März und April, selten schon im Februar, in den Gärten und auf den Wiesen der Voralpen und Alpen blüht. Eine bleiche Hülle aus Scheidenblättern kommt aus dem dunklen Erdreich hervor. Sie umschließt eine lange, enge Blütenröhre, die sich mit sechs Blütenblättern weitet und nach oben wendet. Wie sich die Seele aus der Tiefe des Herzens in innerem Verlangen nach dem Fernen sehnt, so steigen die Krokusblüten aus dem Dunkel der kühlen, feuchten Erde zum Licht empor. Ist der Himmel wolkenlos und die Luft milde, dann öffnen sich die Blüten etwas stärker – wie wenn sie sich mit der noch schwach wirkenden, gleichsam fernen Sonne vereinigen wollten. Auch die Blätter zeigen das enge Emporstreben, welches für das Sehnen charakteristisch ist. Gräbt man eine Krokuspflanze aus, dann findet man im Boden eine Verdickung. Es ist keine Zwiebel wie beim Schneeglöckchen, sondern eine Knolle. Genau betrachtet sind es zwei Knollen übereinander, unten eine alte und über ihr eine junge, die sich in jedem Jahr neu bildet. In dieser Knolle ist der Stängel angeschwollen. Seine Kräfte haben sich in sich konzentriert. So bleibt der Blütenstiel kurz und der Fruchtknoten beim Blühen unter der Erdoberfläche. Dies alles ist eine Geste, die dem einsamen In-sich-Sein entspricht.

image

      Schneeglöckchen (Galanthus nivalis).

      Der Botaniker beschreibt den Krokus als eine Pflanzengattung aus der Familie der Schwertliliengewächse (Iridaceen) und das Schneeglöckchen als Narzissengewächs (Amaryllidaceen). In der Gattung Krokus unterscheidet er eine große Anzahl von Arten. Der Frühlingskrokus (Crocus albiflorus) wächst auf den Bergwiesen, bisweilen in solchen Mengen, dass man von Weitem meint, es läge noch Schnee. Am bekanntesten ist der Echte Safran (Crocus sativus; s. Farbabb. 2). In den Gärten blüht häufig auch der goldgelbe Crocus aureus, der aus dem südlichen Ungarn und dem Balkan stammt. Die meisten Krokusarten haben ihre Heimat im Mittelmeergebiet. – Die eigenartige Form des Krokus ist dem Botaniker ein Rätsel.

image

      Echter Safran (Crocus sativus) im Längsschnitt (aus Strasburger, Lehrbuch der Botanik).

      Diese Form lernt man wie beim Schneeglöckchen durch die hier skizzierte Betrachtungsweise verstehen. Hat man das Seelenleben so weit aufgehellt, dass die inneren Bewegungen und Gebärden bewusst werden, dann erfasst man mit voller Klarheit: Wie im Schneeglöckchen die Seelenform des beginnenden Erwachens, so erscheint im Krokus – als Bild – die Seelenform des Sehnens im Leben der Natur. So wird auch verständlich, weshalb Schneeglöckchen und Krokus das Gemüt so stark berühren. Sie sprechen zur menschlichen Seele, weil sie selbst Ausdruck eines Seelischen sind.

      Zu diesem Seelischen gehören nicht nur Form und Gebärde der Pflanze, sondern auch ihre Farbe, vor allem die der Blüten. Das Bild des beginnenden Erwachens erglänzt weiß, das des Sehnens in verschiedenen Farben, besonders in Weiß, Violett und Gelb. Das Weiß ist mit seinem reinen, lichten Charakter, der durch nichts getrübt wird, ein Ausdruck von keuscher, leidenschaftsloser Helligkeit. Im Violett ist die Seelentiefe des Blau durchwärmt vom Rot zu religiöser Gestimmtheit. Im Gelb erscheint eine heitere, freudige Stimmung, die im Sehnen auflebt, wenn man dem Ersehnten entgegengeht. So manifestiert sich im Krokus ein rein geistiges, ein religiöses und ein freudiges Sehnen. Das Weiß des Schneeglöckchens hat eine Beziehung zu dem Beginn des Erwachens,


Скачать книгу