Ich bin der Sturm. Michaela Kastel

Ich bin der Sturm - Michaela Kastel


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Greta mit dem Schwamm zwischen meinen Beinen herumwühlt. Ich fühle mich schwindlig und schließe die Augen. Eine Ewigkeit in dieser Dusche, nackt, verstümmelt, aber lebendig. Viel lieber wäre ich tot. Ein Eimer voller Blut, das im Abfluss versickert, das wäre dann alles, was von mir übrig bleibt. Wenn sie uns finden und wir stehen nicht mehr auf, bringen sie uns in den Keller. Und dort zerlegen sie uns. Mit Sägen und Skalpellen, alles sehr fachmännisch. Die Teile werfen sie in den Verbrennungsofen, das Blut kommt in den Eimer. Ich stelle es mir sehr friedlich vor. Du löst dich auf, bist dann einfach nicht mehr da. Kein Stückchen Schmutz bleibt zurück. Es ist nichts mehr übrig, das sie schänden können. Nichts mehr übrig, das wehtut. Und plötzlich hast du Frieden.

      Als wir fertig sind, trocknet Greta mich ab und kämmt mir das Haar. Es ist sehr lang und gepflegt. Wir müssen immer gepflegt sein. Maniküre und Pediküre bekomme ich jeden Tag. Ein richtiges kleines Spa ist das hier. Während die blinde Frau mich auf Vordermann bringt, kümmert ein Putztrupp sich um meine Zelle. Es wird dann alles sauber sein, wenn ich zurückkomme. Eine leere Bühne, bereit für den nächsten Akt. Bereit für das Gemetzel.

      Durch die Fenster dringt Tageslicht, und ich erkenne, dass es schneit. Ein zauberhaftes Tanzen der Flocken, in grellem, kaltem Licht. Keine Hügel, keine Berge, keine Seen, keine Flüsse. Ich weiß nicht, was da draußen ist. Sie lassen uns nicht raus. Dieses Haus ist jetzt meine Welt. Eine Welt aus Gängen und Korridoren, ein Fabrikgebäude, mit Hallen voller Nichts. Das gleiche Nichts wie draußen vor dem Fenster. Es ist nicht so schlimm. Die Teufel sind es, um die du dir Sorgen machen musst. Denn egal, wie sehr du bettelst, egal, wie laut du schreist – sie hören nicht auf. Sie zerfetzen dich, öffnen deinen Körper und greifen in dich hinein. Sie holen Dinge aus dir heraus, blutige Dinge, lebensnotwendige Dinge, und du darfst zusehen, wie sie das alles auf dem Tisch verspeisen, wie ihre langen, gespaltenen Zungen daran lecken. Es wird dich umbringen, und doch wirst du nicht sterben. Du darfst nicht sterben. Das ist alles, was ich weiß.

      Wir nennen sie Fairy. Fairy wie Fee. Weil sie dieses hellblonde Haar hat, das ihr bis zur Hüfte reicht. Sie ist erst seit ein paar Wochen hier. Ein Neuling, der die Spielregeln noch nicht kennt. Darum hört man sie auch am lautesten schreien.

      Ich begegne ihr im Duschraum, als man sie bringt, um sie zu säubern. Sie weint so viel. Ich habe gelernt, meine Tränen zurückzuhalten, sorgsam darauf aufzupassen. Manchmal nützen sie dir, wenn einer der Teufel ein Herz hat und beim Anblick der Tränen von dir ablässt. Darum musst du sie gut aufbewahren, deine Tränen. Sie können eine Art Währung sein, du erkaufst dir damit Güte, Zärtlichkeit, Erbarmen. Als ich einmal genug Tränen in mir gesammelt hatte, kaufte ich mir damit einen Freund. Ich kenne seinen Namen nicht, ich nenne ihn »Geist«. Ein Funken Fegefeuer, der in der Finsternis für mich entfacht worden ist.

      Fairy liegt auf den nassen Fliesen, das Wasser prasselt auf sie nieder. Schicht für Schicht wäscht es das Blut davon, den Schmutz, den Schmerz, aber die Schreie bleiben. Tief im Kopf, da sind sie gefangen. Da richten sie den meisten Schaden an. Greta zieht an meinem Arm, es ist Zeit für den Arzt, aber ich bleibe stehen und starre auf die kleine Fee, die langsam die Augen öffnet und mich ansieht.

      Hilf mir. Ohne Worte, nur ihr Blick.

      Ich kann nicht.

      Dann töte mich.

      Töte mich.

      Töte mich.

      Töte mich.

      »Komm jetzt.« Greta. »Onkel Doktor. Jetzt. Du mitkommen. Mädchen krank. Mädchen bald sterben.«

      »Sie hat Angst«, flüstere ich.

      »Sie schwach. Sie Futter für Hunde. Komm mit. Komm, Madonna.«

      So nennen sie mich hier. Die Heilige, die Fromme. Der Engel, den sie schänden, mit gebrochenen Flügeln. Der Engel muss jetzt zum Arzt, während die Fee auf den Fliesen zurückbleibt.

      Es ist ein Schlachthaus, dieser Ort, eine Fleischfabrik. Und es ist lebendig. Es atmet, es ächzt, es verdaut uns, jeden Tag ein Stück. Und am Schluss scheidet es uns aus. Ein Haufen Knochen, Skelette unter der Erde oder Asche auf dem Boden. Anders kommen wir hier nicht raus. Entweder als Leichen oder gar nicht. Das Haus ist hungrig und möchte gefüttert werden. Zu Monatsanfang kommen die Neuen. Nicht viele diesmal, zwei Mädchen. Greta kommt herbeigeeilt und nimmt ihnen ihre Namen und ihre Kleidung weg.

      »Du jetzt Buttercup. Und du Honey. Mitkommen. Dusche.«

      Nackt werden sie in den Duschraum gebracht, man muss sie herrichten, denn sie sollen gefallen. Man wartet bereits auf sie. Vor drei Tagen haben sie Birdy aus ihrer Zelle gezerrt. Blut überall auf ihrem Körper, die Handgelenke zerfetzt. Ein einziger Schnitt riss das ganze Leben aus ihr heraus. Viele bringen sich hier um. Wenn man will, findet man einen Weg. Auch ich habe schon darüber nachgedacht, aber Geist konnte es mir ausreden.

      Manchmal sehne ich mich nach ihm. Wenn es keine Bilder mehr in meinem Kopf gibt, wenn da einfach nichts mehr ist, nichts aus meinem früheren Leben, dann sehne ich mich danach, dass er kommt und mich berührt, mich streichelt mit seinen Hörnern, die er meinetwegen rund geschliffen hat. Er ist so rücksichtsvoll, gibt immer acht, was er tut. Wenn seine glühende rote Haut mich verbrennt, leckt er zärtlich über die Wunden. Wenn seine gespaltene Zunge mich schneidet, weicht er erschrocken zurück. Er ist nicht wie die anderen. Die anderen rupfen, zersägen, schlachten, wühlen in mir herum, stülpen alles nach außen. Er tröstet mich. Ich habe ihn auch gut bezahlt. Er könnte wohl baden in meinen Tränen.

      Abends schalten sie die Lichter ab, und aus dem Boden steigen die Schatten empor. Sie nutzen den Luftzug, der durch dieses alte Gemäuer braust, und gleiten auf ihren Schwingen durch die Nacht. Unter dem Türschlitz durch und hinein in meine Zelle. Es ist dann ganz still in den Gängen. Fairy weint nicht mehr. Der Kopf fällt gegen die Wand, und die Gedanken ziehen sich zurück. Ich bin weg, wenn sie kommen. Ich bin einfach nicht da. Ich laufe über den Strand und sage Geist, er soll mich hochheben. Er wirbelt mich herum, lachend wie ein kleiner Junge, dann trägt er mich zurück nach Hause. An den Kamin, wo es warm ist und gemütlich. Er sagt mir, er liebt mich. Tausendmal diese Worte, seit Jahren in meinem Kopf. Ohne sie wäre ich längst tot. Irgendwie. Ich würde es schaffen. Ich könnte tatsächlich gehen. Für immer aus dieser Hölle verschwinden. Aber Geist sagt, er liebt mich. Nie habe ich von ihm etwas verlangt. Immer nur gegeben, gegeben, gegeben. Heute Nacht ändert sich das.

      Ich sage zu ihm: »Hilf mir.«

      »Ich kann nicht«, antwortet er.

      »Dann töte mich. Töte mich. Töte mich.«

      »Hör auf.«

      »Töte mich.«

      »Hör auf, das zu sagen. Du bist erschöpft. Das geht vorbei.«

      Sein Gesicht wirkt beinahe menschlich. Ohne die spitzen Hörner, ohne die Gier in den Augen. Er liebt mich, und er zeigt es mir die ganze Nacht. Er ahnt nicht, dass auch er mir damit wehtut. Dass selbst stumpfe Hörner Fleisch durchbohren.

      Als er gehen will, umklammere ich seine Hand.

      »Hilf mir«, sage ich wieder.

      »Ich kann nicht.«

      »Dann töte mich. Bitte.«

      Es sind die Tränen. Sie betäuben seinen Verstand, machen ihn blind, blind vor Liebe. Und wenn ich es tue?, fragen seine Augen. Darf ich dich dann mitnehmen? In meine Heimat, zu meinem kleinen Flammensee? Es ist schön dort. Wir wären zusammen. Du und ich, Madonna. Niemand wird uns finden. Nur wir zwei. Für immer.

      Ich küsse seine Hand. »Ich liebe dich«, flüstere ich.

      Er wird mich befreien oder mich töten. So oder so werde ich ihm dankbar sein.

      3

      Ich habe ein Geheimnis. Niemand ahnt es. Ich denke daran, wenn sie mich zwingen, meine üppig portionierten Mahlzeiten hinunterzuwürgen, schmerzhaft in meinen versteinerten Körper hinein. Ich denke daran, wenn sie wollen, dass ich schlafe. Nur gut ausgeruht bin ich für die Teufel zu gebrauchen. Ich habe kein eigenes Bett, darum bringen sie mich in den Schlafsaal. Wo wir Schäfchen


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