Ich bin der Sturm. Michaela Kastel

Ich bin der Sturm - Michaela Kastel


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den Boden und meine eigenen Füße erkenne. Seine Hand umfasst meine, er drückt mich fest an sich, an seinen großen, starken Körper, der Wände durchbrechen kann, Glieder zerreißen, aber nicht nur Glieder, auch Ketten. Er führt mich aus der Zelle, den Gang entlang, den ich morgens immer mit Greta gehe. Fast werde ich wehmütig. Dieser Gang zum letzten Mal. Durchnummerierte Türen links und rechts. Ein plötzlicher Schmerz lässt mich innehalten. Da drin sind sie, die einzigen Menschen, die ich kenne. Und ich lasse sie im Stich. Lasse sie einfach hier zurück mit den Teufeln, mit dem Feuer, das niemals ausgeht.

      Geists Griff wird stärker. Durch den Kapuzenstoff sehe ich seine Augen glühen. Zwei leuchtende Löcher, die mich mahnen, jetzt nicht stehen zu bleiben, keine Schwäche zu zeigen. Wenn ich schwach bin, sind wir beide tot. Ich schaue auf den Boden und lasse mich führen. Über Stufen und durch weitere Korridore. Wir gehen nach oben. Immer noch ist es so still. Weil alle schlafen. Weil niemand ahnt, was gerade passiert. Nachts um drei sind selbst die Dämonen auf der Hut.

      Linoleum wird zu Steinboden. Meine holprigen Schritte sind laut. Wir sind fast da. Ich rieche es, die frische Luft unter dem Türschlitz, dem letzten Türschlitz. Abrupt bleibt Geist stehen. Ich dränge mich an seine Brust, wage nicht, den Blick zu heben. Die Stimme des Mannes klingt völlig normal. Ein weiterer Scherge, der seine Seele verkauft hat. Der hier arbeitet und sich nichts dabei denkt. Der lediglich seine Aufgaben erfüllt. Die Schlachter und das Vieh.

      »Was soll denn das werden? Die Mädchen dürfen nicht nach draußen.«

      »Nur ein kleiner Spaziergang, mehr nicht. Ich bringe sie in einer halben Stunde zurück.«

      »Tut mir leid, aber das ist nicht gestattet. Sie müssen mit ihr im Gebäude bleiben.«

      »Nicht mal fünf Minuten? Wir bleiben auf dem Gelände, versprochen.«

      »Wie gesagt, es ist verboten.«

      »Ach kommen Sie. Machen Sie eine Ausnahme. Sie kennen mich doch. Soll ich einen Aufpreis zahlen?«

      »Sorry, aber ich kriege sonst Probleme. Vielleicht reden Sie mal mit dem Herrn Direktor deswegen. Ich allein darf das leider nicht entscheiden.«

      Geist lässt meine Hand los. Sei vorsichtig, möchte ich sagen. Begib dich nicht in Gefahr, nicht meinetwegen. Aber es ist schon zu spät. Niemand nimmt einem Teufel sein Spielzeug weg. Ein unerwarteter Stoß lässt mich nach hinten taumeln, zwei Schritte, drei, dann verliere ich das Gleichgewicht, und die Kapuze rutscht mir vom Kopf.

      In dem Moment sehe ich, wie Geist über den Schergen herfällt. Mit ausgebreiteten Flügeln, eine Höllengestalt, die Hörner tief im Brustkorb des Mannes versenkt. Er hebt ihn hoch, pfählt ihn, reißt ihm mit der Faust das Herz heraus. Blut spritzt ihm ins Gesicht, und der Mann schreit. Er schreit wie am Spieß. Auch ich will schreien, aber die Angst raubt mir die Stimme. Die Angst, dass sie uns gehört haben, die Angst, dass sie uns finden. Blutend fällt der Körper zu Boden, und Geist brüllt: »Lauf!«

      Wir laufen. Hand in Hand, durch die Tür, durch den Schnee, durch den Sturm, in die Nacht. Tausend Lichter zerschmettern an den Bäumen ringsum – Fenster, die erleuchtet werden, Türen, die sich öffnen. Dämonen auf ihren Feuerdrachen. Sie sind bereits auf der Jagd nach uns. Sirenen heulen durch den Sturmwind. Die Hunde bellen. Ich blicke nicht zurück. Gemeinsam können wir es schaffen. Mit seiner Hilfe bin ich stark. Mein Retter, mein Geist, mein tapferer Geliebter. Er hat sein Wort gehalten. Jetzt kann ich atmen. All die frische Luft, durch die seine Flügel uns tragen.

      6

      Ich sehe einen See. Still und friedvoll liegt er da, die Oberfläche ist mit Eis überzogen. Dahinter Berge und die verschneiten Spitzen eines Nadelwaldes. Es ist wie ein Gemälde, in das erst noch Farbe und Struktur gebracht werden muss: unscharfe Ränder, skizzierte Linien, hier und da ein Klecks Gold, wo das Licht die Erde berührt. Nichts, was wirklich ist. Ein Traum höchstens, wie in meiner Erinnerung. Aber es ist real. Ich stehe hier und spüre die Sonne auf meinem Gesicht. Sehe die Atemwölkchen vor mir tanzen. Fasziniert strecke ich die Hand danach aus, will es fühlen, das Sonnenlicht, die kalte, klare Luft, die gleichmäßig in meine Lungen und wieder hinausströmt. Das alles will ich mit meiner Hand festhalten, weil ich sonst nicht glaube, dass es da ist.

      Keine einzige Flamme weit und breit. Kein Strom aus Lava und keine vom Himmel fallenden Sterne. Als ich den Kopf hebe, erkenne ich Vögel über mir. In der Tat, es ist wie im Traum. Aus Träumen muss man für gewöhnlich aufwachen. Aber noch möchte ich nicht aufwachen. Ich möchte hierbleiben und den See betrachten. Seine glatte, runde Form, die feinen Pastellfarben im Eis, Blau, Lila, Silber und Gelb. Er hat mich an den Ort meiner Träume geführt. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass das möglich ist.

      »Gefällt es dir?«

      Er steht hinter mir, seine Arme umschlingen mich ganz fest. Ich schmiege mich in seine Umarmung, lasse mich von ihm halten, dann küsst er mich und bringt mich ins Haus.

      Eine kleine Hütte aus Holz am See. Es gibt einen Kamin im Schlafzimmer. Geist sagt, niemand sonst sei je hier gewesen. Dieser Ort gehört uns. Und niemand wird uns finden.

      Er hilft mir, mich auszuziehen. Ich kann es nicht allein, meinen Armen fehlt die Kraft. Aber er ist stark, stark für uns beide. Vor dem Kamin legen wir uns hin. Nackt schmiege ich mich an ihn wie so viele Nächte zuvor, und in der Hitze des Feuers verschmelzen unsere Körper und werden eins. Flüssiges Metall, das ineinanderläuft, sich verbindet, sich vermischt. Es tut weh, so schön ist es.

      Später streichelt er mein Gesicht. So müde sieht er aus und so glücklich. Zum ersten Mal sehe ich ihn bei Tageslicht. Der Schweif, der verschmust nach mir schlägt. Die Hörner, die keine Hörner mehr sind. Er hat sie abgeschliffen, meinetwegen. Er ist für mich menschlich geworden. Das Biest hat sich in die Beute verliebt. Ich möchte weinen vor Glück, aber alle Tränen sind verbraucht.

      »Ich danke dir«, flüstere ich ihm ins Ohr.

      Das Messer in meiner Hand ist scharf. Es durchdringt Stoff, Leder, Fleisch. Seine Augen sind vor Schreck weit geöffnet, er röchelt und hält mich fest umklammert. Drückt sich an mich, sagt meinen Namen. Immer wieder steche ich zu, das Messer in sein Herz, das für mich schlug und nun für niemanden mehr. Sanft sinkt sein Kopf gegen meine Brust. Seine Augen glühen nicht länger. In diesem Moment ist er sterblich. Er stirbt in meinen Armen, mein Retter, mein Geist. Der Teufel, der zum Menschen wurde. Ausgelöscht und kalt. Sein Körper wird schwer, und ich schiebe ihn weg und strecke mich nach meiner Kleidung.

      Er hätte mich nicht gehen lassen. Niemals. Aber gehen muss ich. Zurück nach Hause, zurück ins Licht. Dahin, wo ich hingehöre.

      Ich lasse ihn liegen und zünde das Haus an.

      7

      Nun ist es doch noch ein Flammensee geworden. Funken tanzen in der Luft wie winzige Feen in der Abenddämmerung. Ich denke an Fairy und daran, was nun mit ihr geschehen wird. Was mit ihnen allen geschehen wird. Einen Teil von mir zieht es zurück an jenen Ort jenseits des Waldes, zurück in den Kerker, der so viele Jahre mein Zuhause war, der mich gebrochen hat, zerschnitten, ertränkt in meinem eigenen Blut. Ein Teil von mir möchte dorthin zurück, weil es alles ist, was ich kenne. Schon ertappe ich mich dabei, wie ich den Spuren folge, die Geist und ich bei unserer Flucht im Schnee hinterlassen haben. Bald schon wird der Wind sie verweht haben.

      Ich stehe am Scheideweg meines Lebens. Es gibt kein Zurück mehr, nur noch die Sonne. Ich werde ihr folgen, und ihr Licht wird mich zu ihm führen. Hinein in sein Loch, in sein Versteck. Ich werde es ausräuchern. Ich werde Shark umbringen. Weil er es war, der mich umgebracht hat.

      Ich stülpe die Kapuze über meinen Kopf und folge dem Pfad, ohne zurückzuschauen.

AUFERSTEHUNG

      8

      Zwei Wochen später

      Es ist eine Zelle. Meine Unterkunft am Bahnhof, ein Drecksloch. Die Wände sind porös und schmutzig, es gibt kein Bett, nur eine Matratze in der Ecke, die ich mir mit Spinnen und anderem Ungeziefer teile. Untertags ist es laut, nachts gespenstisch still. Ich finde es großartig. Es


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