Ich bin der Sturm. Michaela Kastel

Ich bin der Sturm - Michaela Kastel


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Schnee, die von der Witterung verschluckt werden. Ich kenne den Weg nach Hause nicht, aber ich weiß, wer ihn mir sagen kann.

      Das Funkhaus in der Innenstadt. Von hier ist es gar nicht weit. Ich könnte laufen, aber meine Füße sind müde. Ganz plötzlich beginne ich die Meilen zu spüren, die ich seit jenem Morgen am See hinter mich gebracht habe. Jahre scheint das her zu sein. Und immer noch ist es kalt, immer noch herrscht Winter. Ich knie mich hin und hole Geists Mantel aus dem Rucksack, wickle mich darin ein, auch wenn es ohne seine Umarmung nur halb so wärmend ist. Ich möchte so gern schlafen. Ich entdecke die Leuchtreklame eines Hotels auf der anderen Straßenseite. Einen Versuch ist es wert.

      Schon beim Betreten der Lobby werde ich von der Frau am Empfang ins Visier genommen. Abschätzig mustert sie mich. »Tut mir leid, Sie müssen sich ausweisen, um ein Zimmer zu buchen.«

      Weiter zum nächsten Hotel. Auswahl gibt es rund um den Bahnhof genug. Wieder steht eine Frau am Empfang. Wieder scannt ihr Blick mich von Kopf bis Fuß. Mit deutlichem Unbehagen sucht sie im Computer nach einem freien Zimmer.

      »Ich würde gerne sofort bezahlen«, sage ich.

      Ich hole ein paar Geldscheine hervor, die im Rucksack bereits leicht zerknittert sind. Die Frau nimmt die Hände von der Tastatur, als hätte sie sich verbrannt.

      »Tut mir leid, wir haben nichts mehr frei.«

      »Gar nichts?«

      »Nein.«

      »Aber ich brauche ein Zimmer. Bitte schauen Sie noch mal nach.«

      »Tut mir leid«, wiederholt sie, ohne einen Finger zu rühren.

      Ich bin verzweifelt. Ich strecke ihr das Geld hin, sie weicht zurück. »Ich kann bezahlen, hier! Egal, wie viel. Bitte geben Sie mir ein Zimmer.«

      »Ich sagte doch schon, es ist nichts mehr frei.«

      »Das stimmt doch gar nicht.«

      »Bitte gehen Sie jetzt. Wir können hier nichts für Sie tun.«

      Sie stiert an mir vorbei. Zum ersten Mal fällt mir der Mann auf, der am anderen Ende der Lobby an der Bar steht. Er kommt hinter dem Tresen hervor und taxiert mich mit drohendem Blick.

      »Schon gut«, sage ich schnell. Ich stecke die Scheine weg, verstecke mich in meiner Kapuze. »Schon gut, ich gehe. Ich gehe ja schon.«

      Zurück auf der Straße. Inzwischen ist es dunkel geworden. Der Wind braust aus allen Richtungen. Zitternd halte ich den Mantel zu, während ich vor diesem Hotel stehe und nachdenke.

      Eine Chance gibt es noch. Eine Billigabsteige in einer Seitengasse ums Eck. Sieht bereits von außen dreckig aus. Aber mit Absteigen kenne ich mich aus. Schlimmer als der Versorgungsraum kann es nicht sein.

      Ich bin sehr vorsichtig beim Öffnen der Tür. Ich luge vorerst bloß hinein. Die Lobby ist klein, und der Schalter ist unbesetzt. Auf den Sofas neben dem Eingang sitzen Männer, die rauchen und Bier trinken. Nachdem sie mich kurz angeschaut haben, kümmern sie sich nicht mehr um mich. Ich wage mich an den Empfang. Aus dem Nebenraum kommt ein junger Mann. Er lächelt.

      »Ein Zimmer für eine Nacht?«

      Ich nicke euphorisch. Während er ein großes, schweres Buch hervorzieht, packe ich meine zerknitterten Scheine wieder aus.

      »Das macht fünfundvierzig Euro.«

      Ich gebe ihm das Geld. Er lächelt erneut, steckt die Scheine in eine Blechbox und trägt im dicken Buch etwas ein.

      »Auf welchen Namen?«

      »Linda.«

      »Linda und weiter?«

      Ich zögere.

      »Linda Burghart vielleicht?«

      Ich nicke.

      »Dachte ich’s mir doch.« Er schreibt noch etwas dazu und übergibt mir den Schlüssel. Kein Ausweis. Keine Rechnung. Dafür ein drittes Lächeln. »Zweiter Stock, Zimmer Nummer 48. Der Aufzug ist leider defekt. Die Treppe ist gleich dort hinten.«

      Gekrümmt schleppe ich den Rucksack in den zweiten Stock. Die richtige Türnummer muss ich erst einmal suchen. Das Zimmer liegt versteckt am Ende des Korridors, und die Tür klemmt. Ich drücke mit der Schulter dagegen und stolpere in einen muffigen Raum mit nur einem Fenster. Bett, ein Tischlein mit Stuhl, ein kleiner Schrank, sonst nichts. Ein winziges Bad mit Kloschüssel und Spiegel. Als Erstes ziehe ich die Vorhänge zu, damit die Straßenlichter mich nicht blenden. Dann versperre ich die Tür mit dem Schlüssel und ziehe die Kette vor. Den Rucksack werfe ich auf den Boden. Ich gehe ins Bad, zerre mir die Kleider vom Leib und stelle mich unter die herrlich warme Dusche.

      Mit dem Kopf zur Wand stehe ich eine Weile da. Die Augen geschlossen, regungslos. Im Schlachthaus war das die einzige erlaubte Position. Sie sagten, damit sie uns besser abspritzen können. Wer nicht artig war, wurde manchmal mit dem Schlauch bestraft. Auch das ist eine Art des Pfählens. Wenn der Wasserstrahl so hart ist, dass er kaputte Fliesen aus der Wand schlägt, fragst du dich allmählich, wieso du eigentlich so dumm warst und den Teller nicht leer gegessen hast. Oder was du sonst falsch gemacht hast. So viele Regeln, die ich erst lernen musste. Den Arzt bespuckt man nicht. Und Greta erzählt es weiter, wenn du sie um scharfe Rasierklingen bittest, mit denen du dir die Pulsadern aufschlitzen kannst.

      Ich wasche den Straßenstaub aus meinem Haar und strecke das Gesicht für einige Sekunden in den Wasserstrahl. Dann beginnt das Wasser kalt zu werden. Ich steige aus der Duschkabine, trockne mich ab und habe mir eben ein Handtuch um den Körper gewickelt, da klopft es an meiner Zimmertür.

      Ich stehe vor Schreck ganz still. Haben sie mich gefunden? Es klopft erneut. Ich drehe den Schlüssel herum, die Kette lasse ich dran. Durch den Spalt erkenne ich ein lächelndes Gesicht. Es ist der junge Mann vom Empfangsschalter.

      »Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe. Aber ich wollte Ihnen noch schnell sagen, dass Sie den Fön im Bad besser nicht benutzen sollten. Das Ding ist steinalt und löst ständig einen Kurzschluss aus.«

      »Ist gut. Ich werde ihn nicht anrühren.«

      »Ist sonst alles okay mit dem Zimmer? Haben Sie irgendwelche Fragen?«

      »Nein, alles bestens. Danke, dass Sie vorbeigekommen sind.«

      Ich möchte die Tür schließen. Er stemmt den Fuß in den Spalt.

      »Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragt er. Jetzt mit einem anderen Lächeln, einem hinterlistigen. Ich nicke hastig und drücke die Tür gegen seinen Fuß. Der Fuß rührt sich nicht. »Sie sehen verunsichert aus. Soll ich reinkommen und alles noch mal überprüfen?«

      »Nicht nötig.«

      »Denn wissen Sie, manchmal springt die Sicherung heraus, wenn man das Licht anmacht. Und Sie wollen doch bestimmt nicht in der Dunkelheit bleiben. Oder?«

      Etwas in diesen Worten, die stille Drohung darin, schnürt mir die Kehle zu. Ich trete zurück, wie ferngesteuert. Durch den Spalt in der Tür greift eine Hand. Sie löst die Kette von außen, und knarrend schwingt die Tür auf. Im nächsten Moment ist er bei mir im Zimmer. Immer noch lächelnd. Er sieht sich um, betätigt mehrmals den Lichtschalter, sodass es dunkel wird und dann wieder hell, dunkel und wieder hell.

      »Scheint nichts kaputt zu sein«, meint er.

      »Hab ich doch gesagt. Es ist alles in Ordnung.«

      »Sicher?« Er kommt auf mich zu.

      Unter dem dünnen Handtuch bricht mir der Schweiß aus. Ich knalle mit dem Rücken an die Wand. Er bleibt stehen und sieht langsam meinen Körper hinab.

      »Hm. Etwas dünn. Das Handtuch, meine ich. Ihnen muss kalt sein.«

      »Ich wollte mich gerade anziehen«, krächze ich.

      Er geht weiter, immer tiefer ins Zimmer hinein, vor dem Spiegel bleibt er stehen. Ich versuche etwas darin zu erkennen; etwas, das man bei Licht nicht sieht. Manche Dämonen besitzen die Gabe, ihre teuflische Gestalt zu verschleiern. Wer sie wirklich


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