Ich bin der Sturm. Michaela Kastel

Ich bin der Sturm - Michaela Kastel


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Geld in die Hand und beginnt mit dem Wechseln der Bettwäsche. Ich zähle fünf blaue Scheine und möchte jubeln wie ein Kleinkind. Damit lässt sich was anfangen. Ein günstiges Hotel, neue Kleidung und etwas zu essen. Verstohlen mustere ich ihn aus dem Augenwinkel. Offenbar bin ich tatsächlich an die einzige gute Seele im Umkreis von hundert Kilometern geraten. Ich könnte fragen, ob er einen Blowjob will. Oder etwas anderes in diese Richtung. Dann springt vielleicht ein Scheinchen mehr raus. Aber dass ich und meine schmutzigen Gefälligkeiten hier genauso unerwünscht sind wie eine Küchenschabe oder ein Fleck auf seinem weißen Hemd, ist mir klar. Es wird Zeit, aufzubrechen, eine neue Bleibe zu finden. Wahrscheinlich wird es wieder ein Loch mit Rohren und Ungeziefer. Nicht so wie hier. Alles ist sauber und ordentlich, wie er. Gesittet. Ein Ort, an dem ich nicht bleiben kann.

      Bevor ich zur Tür hinaus bin, ruft er mir noch einmal nach.

      »Warte, ich möchte dich was fragen. Kennst du das Funkhaus?«

      Das Funkhaus. Beinahe hätte ich es vergessen. Es war mal mein Zuhause, damals mit Shark. Ich wollte doch vorbeischauen. Ich wollte so tun, als hätte ich keine Angst davor, an jenen Ort zurückzukehren, der einer Heimat noch am nächsten kommt.

      Was, wenn er dort ist? Ich kann ihn noch nicht wiedersehen. Nicht, solange ich nachts wach liege und morgens aus blutverschmierten Träumen erwache.

      »Du könntest mir nämlich einen Gefallen tun. So als kleine Wiedergutmachung.« Er ist zu mir an die Tür gekommen. Er trägt jetzt ein Sakko und eine Laptoptasche.

      »Soweit ich weiß, suchen die dort immer neue Mädchen. Ist ein richtiges Kommen und Gehen. Keine Ahnung, vielleicht wäre das ja was für dich. Falls du einen Job brauchst.«

      »Wieso sagst du mir das?«

      »Wenn du dort bist, kannst du dich für mich nach jemandem erkundigen? Sie nennt sich Flo.«

      »Deine Lieblingshure?«

      Er grinst schief, doch es wirkt gestellt. Meine Frage hat ihn verärgert. »Tu mir einfach den Gefallen und hör dich ein bisschen nach ihr um. Hab lange nichts von ihr gehört. Vielleicht kannst du ja was rausfinden.«

      Ich nicke, und er drückt mir eine Karte mit seiner Nummer in die Hand. »Damit kannst du mich erreichen.«

      »Ich werde schauen, was ich herausfinden kann.«

      Gemeinsam verlassen wir die Wohnung. Er mit der Laptoptasche, ich mit meinem zerfledderten Rucksack, in dem sich mein ganzes Leben befindet. Vor dem Ausgang des Wohngebäudes bleibt er stehen, und ich begreife, dass ich vorausgehen soll. Damit niemand uns zusammen sieht.

      »Mach’s gut«, sage ich.

      »Geh zum Funkhaus!«, ruft er mir nach. »Und vergiss nicht, nach Flo zu fragen.«

      Ich lasse den Mann im Treppenhaus zurück. Sonnenlicht und Wärme schmettern wie Kugelhagel auf mich ein. Sofort ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf und suche Zuflucht im Schatten einiger Bäume. Hinter einer Mauerecke versteckt warte ich. Er verlässt das Haus wenige Minuten nach mir. Er fährt mit dem Bus. Wie vorbildlich. Der Vorzeigebürger mit der staubfreien Wohnung. Jetzt um einige Scheine ärmer. Verübt in einem Moment gute Taten und vernascht im nächsten Atemzug kleine Huren namens Flo. Flo aus dem Funkhaus. Herr Saubermanns kleine Bettgeschichte. Auf meinen Lippen zuckt ein Lächeln. Solche Typen sind Peanuts. Leicht zu handhaben. Die haben keine Hörner, nur Geld.

      Das Funkhaus also. Heute Nacht. Das Funkhaus.

      13

      Die Stadt flimmert und gibt Hitze ab. Eine feuchte, dampfende Hitze, als würde im Inneren etwas gekocht werden, Menschenfleisch. Je tiefer man in die Stadt vordringt, desto dunkler werden die Straßen. Gestalten tummeln sich in den Ecken, zusammengerottet wie Insekten unter einem Stein. Es gab eine Zeit, da gehörte ich zu ihnen, war mittendrin in diesem Gewirr, das dir tagsüber alle Kräfte raubt und dir in den Stunden der Nacht Schutz bietet. Und Schutz ist bitter nötig in einer Gegend wie dieser. Bordelle, Nachtclubs und miese Spelunken stehen hier in Reih und Glied. Polizeisirenen und das Brüllen der Betrunkenen vertreiben die Ruhe der späten Stunde. Aber es gibt auch Zusammenhalt. Ein nahezu unzerstörbares Geflecht aus Kriminalität, das uns alle miteinander verbindet. Ob wir es wollen oder nicht.

      Zentrum des wilden Treibens ist das dreistöckige weiße Gebäude mit der roten Eingangstür, das in der ganzen Stadt bekannt ist. Nahezu jeder war hier bereits Gast. Vom Straßenkehrer bis zum Bürgermeister. Sie alle schätzen das Wunderland, das hinter der roten Tür wartet und niemals geschlossen hat.

      Als ich das erste Mal vor diesem Gebäude stand, war ich dreizehn. Obdachlos, verstört, allein, auf der Flucht.

      Wie wenig sich seitdem verändert hat. Immer noch obdachlos. Verstört. Allein und auf der Flucht. Nur das Herz schlägt inzwischen ein wenig langsamer. Gebremst vom Gewicht der Gräueltaten, die ich wie eine Kette hinter mir herziehe. Dreizehn Jahre war ich alt. Ein Kind, das Hilfe brauchte und diese Hilfe auch bekam. Dort hinter der roten Tür.

      Der Koloss hinter dem Empfangsschalter winkt mich einfach durch. Offenbar haben Frauen immer noch gratis Zutritt zu Sharks schmutzigem Höllenkabinett. Ich passiere die Garderobe, ohne meinen Mantel abzugeben, und folge dem schmalen, schwach beleuchteten Gang bis zu einer Tür mit einem violetten Samtvorhang. Hinter diesem Vorhang wartet das Chaos. Laute Musik, Spotlights und Unmengen von Menschen. Es scheint heute Nacht eine Veranstaltung zu geben. Alle sind mit Masken unterwegs. Die halb nackten Kellnerinnen gehen von Tisch zu Tisch und servieren Drinks, es ist eng, die Luft riecht süßlich, alles ist rot. Rote Wände, rote Möbel, roter Boden, rot wie Blut. Die Luft fühlt sich samtig an, als hätte auch sie etwas von der klebrig roten Farbe angenommen, hätte sich vollgesogen mit dem Schweiß, der Gier und der Perversion, die von jedem Einzelnen hier ausgedünstet werden.

      Kein einziges vertrautes Gesicht. Jeder hier ist mir fremd. In der Mitte des riesigen Raumes bleibe ich stehen. Was früher so normal für mich war, wirkt plötzlich abstoßend und beängstigend: Da hängen Käfige von der Decke. Hoch und schmal, gerade breit genug für eine Person. An schweren Ketten befestigt, schweben sie im Raum und schwingen im Eifer der Tänzerinnen leicht hin und her. Acht Käfige sind es, heute Nacht voll besetzt. Auch ich war einmal eine Käfigtänzerin. Nur die beliebtesten Mädchen durften das Publikum auf diese Weise unterhalten. Mir gefiel es. Es war Freiheit, hinter den Gitterstäben konnte ich machen, was ich wollte. Niemand darf die Käfige berühren. Sie sind tabu, bloß zum Anschauen da, ein Vorgeschmack auf das, was in den oberen Stockwerken auf dich wartet, sofern du es dir leisten kannst.

      Ich schaue von Käfig zu Käfig. Von Gesicht zu Gesicht. Mein Blick bleibt an zwei schwarzen Hörnern hängen, an der dunkelroten bestialischen Fratze, die zwischen den Gitterstäben auf mich herabglotzt. Geist?, denke ich erstaunt und trete näher.

      Ein schlanker, halb nackter Körper beugt sich zu mir herab. Der Junge im Käfig hebt die Maske an und schaut mir ins Gesicht. Ein Gefühl sagt mir, dass ich ihm helfen sollte, ihn von dort oben rausholen, dabei ist der Käfig der einzig sichere Ort vor der Meute. Er lächelt und streckt den Arm zu mir nach draußen. Schon kommen sie herangestürmt, stoßen mich beiseite, als hätte irgendjemand zum Essen gerufen. Gerade rechtzeitig kann der Junge die Hand zurückziehen, bevor sie ihn packen und annagen können. Streck niemals die Hand aus dem Käfig. Die da draußen sind Raubtiere. Ich weiß nicht, warum er es getan hat. Vielleicht hat er mir ja angesehen, dass wir Geschwister sind, derselben kranken Familie angehören. Ich schaue ihm eine Weile zu. Seine Bewegungen, sein Blick, das alles ist hypnotisch. Er hat sich die Maske wieder aufgesetzt, aber dahinter sehe ich seine Augen. Auch er hört nicht auf, mich anzusehen.

      Das Licht geht aus, und die Musik verstummt. Applaus. Jubel. Warten auf die nächste Show.

      Es entsteht Bewegung im Raum. Die Leute wollen zur Bar oder auf die Toilette. Durch die ausschwärmende Menge kämpfe ich mich bis an den langen Tresen vor, wo die Schlüssel für die Zimmer ausgegeben werden.

      Ein Typ mit orange gefärbten Haaren und Kaugummi im Mund empfängt mich. Ich kenne ihn nicht.

      »Ist Shark da?«, frage ich.

      »Wer?«


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