Ich bin der Sturm. Michaela Kastel

Ich bin der Sturm - Michaela Kastel


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den Laden verkauft haben. Aber wieso? Das Funkhaus ist eine Goldgrube. Ich überlege. Es wäre wohl zu schön gewesen, wenn es tatsächlich so leicht gegangen wäre. Einfach zur Tür hereinspazieren und nach ihm fragen. Nach all den Jahren. Ich betrachte die Schlüssel, die hinter dem Typen an Haken an der Wand hängen. Fünfzig Schlüssel. Für fünfzig Zimmer. Eine Nummer sticht mir ins Auge.

      »Wer ist auf Nummer 13?«, will ich wissen.

      »Das ist Stars Zimmer.«

      »Ich will sie buchen.«

      »Ihn. Star ist ein Kerl.«

      »Gut, dann eben ihn. Was kostet die ganze Nacht?«

      »Die ganze Nacht? Hör mal, kleine Lady, ich glaub nicht, dass du dir das leisten kannst. Star ist teuer.«

      »Wie viel?«, frage ich gereizt.

      Er murrt angepisst und gibt in seinem Computer etwas ein. »Tausendzweihundert. Aber nur das Light-Paket. Kein SM, keine Fäkalien und keine zusätzlichen Personen. Falls du upgraden willst, käme das auf eine Gesamtsumme von –«

      »Das Light-Paket reicht völlig.«

      »Dreitausendsechshundert«, beendet er seinen Satz. »Exklusive Steuer.«

      »Ich nehme das Light-Paket.«

      »Bist du sicher?«

      »Ja, das bin ich.«

      »Schön. Der nächste freie Termin ist in sechs Wochen. Soll ich dich auf die Warteliste setzen?«

      »Die Warteliste kannst du dir sonst wohin stecken. Ich bezahle sofort und in bar, also hab ich Vorrang.«

      »So funktioniert das nicht.«

      »Klar funktioniert das so. Hier hast du das Geld.« Zerknitterte Scheine landen in einem wirren Haufen auf dem Tisch. »Jetzt gib mir schon den Schlüssel.«

      Er wirkt überrascht, wendet aber nichts mehr ein. Er zählt die Scheine gewissenhaft durch, überprüft, ob sie echt sind, und stopft sie in die Kassenlade. Das Gerät spuckt einen Beleg aus, den er mir kaugummikauend übergibt. Ich soll etwas unterschreiben. Der Länge nach zu urteilen ist das die zehnseitige Verzichtserklärung, die schon zu meiner Zeit für lange Gesichter gesorgt hat. Ich lese sie mir nicht durch, ich kenne die Regeln hier. Ich unterschreibe mit Linda Burghart und stecke den Beleg in meine Manteltasche.

      »Schlüssel«, sage ich.

      Ein schäbiges Grinsen. »Ein bisschen musst du dich noch gedulden. Er hat gerade Pause. Ich schick ihn zu dir, sobald er zurück ist. Warte doch einstweilen bei der Bar. Die nächste Show fängt gleich an.«

      Bei der Bar warten. Bis der Stricher, für den ich soeben den Großteil meines Budgets verbraucht habe, von seiner Pinkelpause zurück ist. Meinetwegen.

      Ich bestelle mir bei der in Latex gehüllten Barkeeperin ein Glas Mineralwasser, das ich reglos mit Blick auf die Barrückwand trinke. Minuten vergehen. Die Käfige werden neu besetzt. Spotlights beginnen zu blinken und zu blitzen.

      Mein großherziger Wohltäter fällt mir ein, mein Retter in letzter Sekunde. Ich wende mich noch mal an die Barkeeperin. »Arbeitet hier eine gewisse Flo?«

      »Sorry, du musst etwas lauter reden! Wie war der Name?«

      »Flo!«

      »Nicht dass ich wüsste. Ich mach den Job aber auch noch nicht so lange. Frag mal Speedy.« Sie deutet auf den Typen hinter der Schlüsseltheke.

      Ich winke ab. Immerhin habe ich es versucht. Ich muss meine Gedanken fokussiert halten. Shark habe ich nicht gefunden, aber vielleicht hat er mir ja etwas hinterlassen. Ein Stückchen Vergangenheit, das die leeren Flecken in meinem Gedächtnis wieder füllt.

      Jemand taucht neben mir auf. Pünktlich auf die Sekunde steht meine tausendzweihundert Euro teure Errungenschaft vor mir, einen guten Kopf größer als ich, aber schmal, fast ein bisschen androgyn. Blitzblaue Augen strahlen mich an, als hätte ich eine Geburtstagstorte mitgebracht. Es ist der Junge aus dem Käfig. Jetzt ohne Maske und mit ein bisschen mehr Stoff am Körper. Das ist also Star. Wenn ich mir sein Lächeln so anschaue, hält er das hier nicht für einen Zufall. Shark würde jetzt sagen: Gute Arbeit, Kleiner. Ein Blick, und sie bucht dich für die ganze Nacht. Weiter so.

      »Ich habe noch keinen Schlüssel bekommen«, beginne ich.

      Er hält etwas Klimperndes hoch und kräuselt beim Grinsen seine Nase. Ein hübscher Junge. Wahrscheinlich nur halb so alt wie ich. Aber wer weiß schon, wie alt ich bin.

      »Musst du gar nicht mehr in den Käfig?«, frage ich, als die Lichtshow von Neuem beginnt.

      Er schüttelt den Kopf und beginnt zu gestikulieren. Schnelle, komplexe Bewegungen mit den Händen, denen ich kaum folgen kann. Gebärdensprache. Mein Luxus-Stricherjunge kann nicht sprechen. Kein Wunder, dass er so teuer ist. Schweigsame Sexspielzeuge sind selten.

      »Tut mir leid, aber ich verstehe dich nicht«, unterbreche ich ihn.

      Er wirkt etwas verwirrt, lächelt aber wieder und deutet mit einem Nicken zum Treppenaufgang auf der anderen Seite.

      Ich gehe voraus. Ich kenne den Weg. Über die Treppe hoch in den ersten Stock. Das Zimmer mit der Nummer 13 liegt am Ende des Ganges. Ein langer Gang mit vielen, vielen Türen. Hundertmal entlanggegangen. Immer in fremder Begleitung. Auf dem Weg ins Zimmer lässt sich gut auf den Charakter eines Menschen schließen. Manche sind nervös, wissen kaum, was sie tun sollen, ob sie dich jetzt schon anfassen dürfen oder erst später, ob sie reden oder still sein sollen, und vor lauter Aufregung vergessen sie völlig, warum sie eigentlich hier sind, und kriegen am Ende nicht mal einen hoch. Andere strotzen nur so vor Selbstvertrauen, würden dich am liebsten huckepack nehmen und mit dir durch Wände laufen. Und es gibt jene, die ganz gelassen sind, weil sie das schon oft gemacht haben und es kaum noch etwas gibt, das sie befriedigt. Das sind die Schwierigsten. Die von allem sofort gelangweilt sind und dementsprechend viel von dir verlangen.

      Ich frage mich, was Star von mir erwartet, als ich zielsicher auf die letzte Tür zusteuere und ungeduldig darauf warte, dass er aufsperrt. Ich habe mir mit der Zeit ein Pokerface angeeignet, doch sein Gesicht verrät viel. Vielleicht deshalb die Maske im Käfig. Vielleicht hat er sie deshalb auch abgenommen, in dem kurzen Moment, nur für mich, um mir zu zeigen, was er denkt. Ich will dich vögeln – ich weiß, wie sich das anfühlt. Wenn aus der konturlosen Masse jemand heraussticht, den du länger ansiehst als die nötigen Sekunden während Begrüßung und Abschied. Es ist selten. Wie Star, eine Rarität.

      Der Schlüssel dreht sich, die Tür geht auf. Plötzlich stehe ich in meinem alten Zimmer. Wo ich gelebt habe. Wo meine Sachen waren, mein kleines Hab und Gut. Wo ich meine Unschuld verloren und neue Freunde gewonnen habe.

      Natürlich ist nichts mehr davon da. Alles sieht anders aus. Die Farbe der Wände, die Möbel und wie sie im Zimmer standen. Selbst der Geruch hat sich verändert. Ich gehe in die Zimmermitte, stelle mich unter die Lampe, die als Einziges noch dort ist, wo ich sie vermutet habe. Obwohl mir nichts vertraut ist, spüre ich in diesem Raum einen Sog. Die Vergangenheit scheint nach mir zu rufen, die verschütteten Erinnerungen brechen zaghaft aus ihrem Grab.

      Ich schließe die Augen. Ich weiß, hier ist noch irgendwas. Irgendetwas, das mir gehört. Das mir helfen wird, den Weg nach Hause zu finden.

      Das Zufallen einer Tür. Schritte in meinem Rücken. Star legt den Schlüssel weg, packt mich bei den Hüften und fängt an, meinen Hals zu küssen. Ich schiebe ihn weg und setze meinen Streifzug durch das Zimmer fort. Das Bett ist größer als meins. Und alles ist schwarz, die Bettwäsche, die Polsterung der Sitzmöbel, der Teppich, die Vorhänge. Mein Zimmer war weiß. Ein jungfräuliches Zimmer für den Engel mit den Rekordzahlen. Meistgebucht, meistbezahlt, meist, meist, meist. Jetzt hat Star meinen Platz eingenommen. Es war bestimmt nicht seine Entscheidung, alles in Schwarz zu dekorieren. Wahrscheinlich fand irgendein Manager, dass es zu ihm passt. Man spielt hier eine Rolle. Star kennt seine Rolle. Er versucht es erneut, kommt mir nach und will mich küssen. Ich weiche ihm aus und halte ihn auf Abstand.

      »Hör


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