Ich bin der Sturm. Michaela Kastel

Ich bin der Sturm - Michaela Kastel


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Dafür sieht er alle paar Tage nach mir. Kümmert sich um die dürre, verstörte Frau, die vor zehn Tagen mutterseelenallein im Bahnhofsgebäude aufgetaucht ist und nicht mehr weggehen wollte. Eingehüllt in einen viel zu großen Mantel, die riesige Kapuze über den Kopf geschlagen, sodass man ihr Gesicht nicht sah.

      »Du verletzt?«, hat er gefragt. »Hilfe rufen? Polizei?«

      Nein, keine Polizei. Da bin ich nämlich schon gewesen. Nachdem ich tagelang durch die verschneite Wildnis gestreift war. Nachdem ich schon geglaubt hatte, dieser Wald werde zu meinem Grab. Da sah ich plötzlich Lichter in der Ferne und kehrte endlich in die Zivilisation zurück. Mir war klar, was ich zu tun hatte: Hilfe suchen, mich jemandem anvertrauen. Doch es lief anders als geplant. Ich saß auf einem Stuhl und musste auf eine Tischplatte starren. Das Licht im Raum war viel zu grell. Es brachte mich fast um, dieses Licht. Als der Polizeibeamte schließlich zur Tür hereinkam, war ich zunächst erleichtert. Endlich ein Mensch. Einer von den Guten. Er nahm mir gegenüber Platz, und plötzlich sah ich sie – Hörner. Feuerrot, spitz, mit Blut befleckt, noch frisch. Einer von ihnen. Er erkannte mich nicht. Schreiend sprang ich auf. Es kamen andere herein und versuchten, mich zu beruhigen. Ich konnte nicht aufhören. Nicht aufhören zu schreien, nicht aufhören, die Klinge in mir zu spüren, das riesige glühende Schwert, mit dem er mich aufgespießt hatte. Vor zwei Jahren, vor drei, vor zehn. Ich weiß nicht, wie lange es schon her ist. Aber ich weiß, es dauerte ewig. Die halbe Nacht nur dieses Schwert tief in mir drin, wie es meine Gedärme teilte, meinen Brustkorb, mich der Länge nach spaltete, und wie er stöhnte und lachte, stöhnte und lachte.

      Sie wollten mich in eine Zelle stecken. Nur eine weitere Obdachlose, die verrückte Geschichten erzählt. Nicht der Rede wert. Ich riss mich los und rannte um mein Leben. Niemand jagte mir nach. Seitdem bin ich hier.

      »Nix Polizei?«, fragte er. Klein und untersetzt, ein hässlicher, dicker Gnom mit Glatze und Zahnlücke. »Gut, gut, schon gut. Ich nix sagen. Aber du nicht hierbleiben. Bahnhof nix mit Rumtreibern. Macht Probleme. Aber gibt hier Versorgungsraum. Etwas schmutzig, aber okay. Kein Wind und Kälte. Und günstig!«

      »Ich habe aber kein Geld.«

      »Du nicht brauchen. Wir können machen Geschäft. Du machen Geschäft mit mir?«

      »Ja. Geschäft klingt gut.«

      »Sehr gut. Ich bin Jiri! Komm, komm mit! Ich dir zeigen neues Zuhause. Und dort wir besprechen Bezahlung.«

      Jetzt wohne ich im Versorgungsraum. Zwischen Wischmopps und Kanistern mit Putzmittel. Zwischen ranzigen Rohren, durch die heißer Dampf und Schmutzwasser fließen. Es ist ein guter Deal. Ich kann damit leben. Er versorgt mich mit Essen und hält mir neugierige Blicke vom Hals. Dafür bekommt er, was er eben will. Meinetwegen. Wenigstens keine Schreie in der Nacht. Keine Türen, die sich öffnen. Ich habe den Schlüssel. Ich entscheide, wer reinkommt und wer nicht. Ich bin Königin über einen Haufen Müll. Aber Königin.

      Nachts unternehme ich Streifzüge. Ich warte, bis es still wird und die Halle sich leert. Dann komme ich aus meinem Versteck. Das Bahnhofsgespenst spukt mal wieder durch die Gänge. Ich erkunde das Gelände, starre auf Fahrpläne und zermartere mir den Kopf. Es gibt einen Zug, der mich von hier fortbringen könnte. Über die Landesgrenze und zurück in meine Heimat. Er fährt einmal pro Tag, um zehn Uhr fünfundvierzig. Ein Schnellzug. Zielankunft in weniger als vier Stunden. Eine Zugfahrt allein würde natürlich nicht helfen. Denn es gibt niemanden, der am Bahnsteig stehen wird, um mich abzuholen. Es gibt keinen Ort, an den ich mich flüchten kann, wenn Nacht und Kälte erst über mich hereingebrochen sind. Ich habe weder Freunde noch einen Pass. Ich existiere überhaupt nicht.

      Aber hierbleiben kann ich nicht.

      Bis auf Weiteres ist der Versorgungsraum ein gutes Versteck. Auf dem Bahnhofsklo kann ich mich waschen. Jiri hat mir ein paar Kosmetikprodukte besorgt, Seife und Shampoo, Zahnputzsachen und auch eine Schere. Ich hatte extra darum gebeten. Im Licht der flackernden Leuchtstoffröhre fasse ich mein Haar zusammen und schneide es ab. Es dauert ewig. Aber schließlich ist es getan. Im Abfluss sammeln sich die schwarzen Haarsträhnen und der Schmutz, den ich mit Seife und Schwamm von meinem Körper wasche. Darunter sind die Narben. Eine Landkarte der Gewalt, die mich zurück in die Vergangenheit führt. Ich erinnere mich an jeden Schnitt, jeden Biss, jeden Splitter unter der Haut. Wäre mein Blut golden, würde ich glühen. Auch Geist hat seine Spuren auf diesem Körper hinterlassen. Hier hat er mich zum ersten Mal berührt. Man sieht es noch, genau da. Unter dem Kinn, mit dem Daumen, ganz sanft. Er wollte, dass ich ihn anschaue. Das war sein Untergang. Hätte er damals meine Tränen nicht gesehen, wäre er jetzt noch am Leben.

      Mit den Papiertüchern aus dem Spender trockne ich mich ab. Jiri hat mir auch Kleidung besorgt. Die Unterwäsche ist zu groß. Trotzdem bin ich dankbar dafür. Ich steige in die Jeans und ziehe mir den Pulli über. Dann die dicken Winterstiefel, etwas eng, aber warm. Ich beuge mich über das Waschbecken und schaue der Frau im Spiegel in die Augen.

      Keine Madonna mehr. Aber wer bin ich dann?

      Ein Donnerschlag hinter der Tür. Ich verharre regungslos. Jiris Stimme klingt angespannt.

      »Heute Nacht nix Versorgungsraum. Sie schicken Polizeikontrolle einmal im Monat. Du nicht hier unten schlafen.«

      »Aber wo soll ich sonst hin?«

      »Nix Problem. Du schlafen bei mir. Auf Dachboden! Komm mit.«

      Ich verstaue meine alten Kleidungsstücke und die Kosmetiksachen in dem Plastiksack, den er mir geschenkt hat. Die Schere stecke ich in meine Hosentasche. Mit dem Sack unter dem Arm komme ich heraus. Jiri macht große Augen.

      »Wo sind alle Haare? Du selbst gemacht? Oh, du so dumm! Du jetzt Wischmopp. Komm, ich mach das neu. Komm, komm!«

      Durch die leere Halle, Treppen rauf und unter das Dach. Jiri wohnt hier oben ganz allein. Er ist ebenfalls ein Außenseiter, ein Fehler des Systems, gesichtslos. Er sagt, die Arbeit im Bahnhof bringe ihm das Nötigste ein, Geld für Kleidung, Essen, Strom und einen einäugigen Kater, der neben der Couch auf einem Fleck Filzdecke liegt und schläft. Jiri besitzt nicht viel außer dieser Couch, dem Kater und einem alten Röhrenfernseher. Sein Essen kocht er auf einem kleinen Ofen im hinteren Bereich des Dachbodens. Die schrägen Wände hat er mit Fotos tapeziert. Zu jedem hat er eine Geschichte auf Lager.

      »Das da ich beim Militär! Viele Jahre ist das her. Und hier, mein erstes Auto! Keins war besser. Erste Frau. Nix gut. War Hexe! Jetzt weg zum Glück. Das da ich und mein Vater. Guter Mann. Schon lange tot, leider. Hier ich am Meer. Du schon mal am Meer? Nix Gutes. Ich lieber Berge. Eines Tages bau ich Hütte im Wald! Mit Kamin und weichen Fellen!«

      »Das klingt sehr schön.«

      »Mhm, sehr schön! Wenn ich habe Rente, ich weg. Bahnhof sieht mich nie mehr wieder. Dreckiges Loch. Aber Dachboden okay. Sehr ruhig und gemütlich. Kennst du Rufus? Alter Freund von früher.« Er deutet auf den Kater, der sich immer noch nicht bewegt. Ich blinzle. Mausetot. Ausgestopft. Jiri lacht. »Wurde achtzehn Jahre alt! Gutes Tier. Jetzt leider sehr schweigsam. Aber treu. Ist immer da.« Er deutet auf die Couch. »Setzen bitte!«

      Ich gehorche. Verstohlen beobachte ich, wie er durch den Raum saust, den toten Kater streichelt, sich für die Unordnung entschuldigt, obwohl es aufgeräumt und sauber ist. Ich glaube, Jiri ist sehr einsam. Und ich glaube, er schämt sich. Dafür, was er von mir wollte und was er auch bekommen hat. Er hat es kein zweites Mal verlangt.

      »So. Großes Wirrwarr hier! Wirklich Schande. Hast du Schere?« Er steht hinter mir und betrachtet mein Haar.

      »Ich fürchte, ich habe sie unten im Waschraum vergessen.«

      »Macht nix. Ich habe zweite.«

      Er geht zu der Holzkommode neben dem Ofen und holt eine Schere aus der obersten Lade. Er kommt zurück und lässt prüfend die Finger durch meine dunklen Strähnen laufen. Schnipp-schnapp. Winzige Büschel fallen zu Boden. Nach wenigen Schnitten ist er fertig.

      »Du schauen«, sagt er und hält mir einen kleinen Spiegel vors Gesicht.

      Kinnlang sind die Fransen jetzt. Geist wäre traurig. Er liebte mein langes Haar.

      »Perfekt«,


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