Schlaf schön. Andrea Revers

Schlaf schön - Andrea Revers


Скачать книгу
nichts Kriminelles ist oder so. Frau Dr. Burkhardt ist nur gründlich. Schließlich war es ja die letzten beiden Wochen ziemlich warm. Es könnte durchaus sein, dass da manche die Hitze nicht vertragen haben oder so. Ich bin echt froh, dass es die Tage mal geregnet hat.« Angriffslustig setzte sie hinzu: »Du musst übrigens nicht gleich deine Dienstmarke auspacken.«

      Doch Frederike zeigte nur auf den Zettel. »Die Liste!«

      Nach einigen Minuten intensiven Nachdenkens standen neun Namen auf dem Zettel.

      »Ich bin mir nicht sicher, ob alle Namen stimmen und die Liste komplett ist, aber an mehr kann ich mich nicht erinnern. Da müsste ich in der Klinik noch einmal nachhören.« Angela legte den Stift hin.

      »Neun Namen, mit Änne sogar zehn. Das ist eine Menge!« Frederike überflog die Liste. »Elsbeth erzählte auf Ännes Beerdigung auch von einigen Todesfällen. Ich werde mal bei ihr nachfragen, auf welchen Beerdigungen sie überall war.«

      Angela blickte sie über die Kaffeetasse hinweg an. »Glaubst du, da steckt mehr dahinter als nur die Hitzewelle?«

      »Das lässt sich ja recht schnell klären. Gibt es denn ansonsten eine Häufung von Todesfällen? Ich meine, ältere Menschen, die zu Hause wohnen oder in anderen Einrichtungen?«

      Angela überlegte länger. »Nein, eigentlich nicht. Du hast recht. Es gab zwar noch drei Unfalltote und auch einen Schlaganfallpatienten, aber ansonsten ist es wie immer. Wir haben im Moment am meisten zu tun mit Sportunfällen, Alkohol und Verbrennungen.«

      »Verbrennungen?«

      »Ach, du glaubst gar nicht, wie dusselig sich manche Menschen beim Grillen anstellen. Und natürlich auch Sonnenbrände. Inzwischen sollte doch jeder geschnallt haben, dass es furchtbar ungesund ist, sich zu bräunen. Aber die Dummen sterben halt nicht aus.« Angela schüttelte den Kopf.

      »Na, in der Evolution ist Dummheit möglicherweise auch ein positiver Faktor. Du kennst doch das Sprichwort: ›Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln‹«, sinnierte Frederike und griff gierig nach dem Brötchenkorb.

      In dieser Nacht schlief Frederike nicht allzu gut. Hannelore war den ganzen Tag in seinem Körbchen geblieben, hatte gegen ein Uhr laut gejammert und anschließend auf den Teppich gekotzt. Sie war aufgestanden, hatte ihn dabei festgehalten, anschließend das Malheur entfernt und den kleinen Teppich in der Scheune entsorgt. Als sie wieder nach dem Kater schaute, schlief der in ihrem Bett den Schlaf der Gerechten. Sie legte sich neben ihn, genoss das weiche Fell an ihrem Arm und hörte ihm eine Weile beim Schlafen zu. Dabei ging sie in Gedanken noch einmal das Gespräch mit Angela durch. Eigentlich sollte sie es dabei bewenden lassen – Tote im Altersheim waren ja nicht ungewöhnlich, und man konnte wirklich schlimmer sterben als im Schlaf. Da hatte sie ganz anderes gesehen. Doch kamen ihr erneut die Gesichter von Ännes Töchtern in den Sinn – die Fassungslosigkeit und Trauer über ihren Verlust. Auch Elsbeths Sorge um die eigene Vergänglichkeit. Sie war sicher, Änne hatte noch nicht sterben wollen. Sie strotzte vor Energie und Lebensfreude, auch wenn sie alleine nicht mehr klarkam und schon mal das Essen vergaß. Sie hatte noch Pläne fürs Altersheim gehabt, sich auf den Singkreis und die Bingorunde gefreut.

      Es konnte nicht schaden, sich ein wenig umzuhören. War Klara, ihre alte Nachbarin aus Kindertagen, nicht auch im St. Ägidius? Die musste inzwischen auch schon über neunzig sein, und Frederike hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie wieder in der Eifel lebte. Kurz regte sich das schlechte Gewissen, denn damals, in der Kinderzeit, war Frederike bei Klara ein und aus gegangen, hatte Plätzchen stibitzt und beim Einwecken geholfen. Bei den seltenen Besuchen hier bei ihrer Schwester hatte sie Klara manchmal getroffen, aber jetzt lebte die alte Dame schon seit vielen Jahren im Betreuten Wohnen, und Frederike hatte es nie geschafft, dort einmal vorbeizuschauen.

      Morgen fahre ich Klara besuchen, nahm sie sich vor, und mit diesem Gedanken schloss sie die Augen und schlief endlich ein.

      Am nächsten Morgen wurde Frederike recht unsanft von Hannelore geweckt, der ihr auf die Brust geklettert war und in ihrem Gesicht schnupperte. Bevor er auf den Gedanken kam, ihr durchs Gesicht zu lecken, schubste sie ihn vom Bett.

      »Lauf in die Küche, ich komme gleich nach.« Sie stand auf und wankte ins Bad. Kaltes Wasser durchs Gesicht, die Zähne geputzt – der Rest kam später. Zunächst musste Hannelore versorgt werden.

      Während der Kaffee durchlief, zog sie einen Jeansrock und ein T-Shirt an und plante den Tag. Sie war früh dran. Also konnte sie sich in Ruhe fertig machen und in Richtung Hillesheim aufbrechen. Sie überlegte, ob sie vorher bei Klara anrufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. So könnte sie erzählen, sie sei zufällig in der Gegend gewesen und einfach mal auf einen Sprung vorbeigekommen. Sie lächelte in ihre Kaffeetasse. So hatte sie es früher auch immer gehalten. Die besten Ermittlungsergebnisse waren beiläufig, wie zufällig, erzielt worden. Das Gegenüber in Sicherheit wiegen, die Freundlichkeit in Person sein – good cop!

       3. Kapitel

      Klara strahlte über das ganze Gesicht, als Frederike ihr gegenübersaß. »Das ist ja eine schöne Überraschung.«

      »Ach, weißt du, ich war gerade in der Apotheke, und weil es noch früh war, dachte ich, ich schaue mal vorbei«, log Frederike locker das Blaue vom Himmel herunter.

      »Papperlapapp! Du bist wegen der Todesfälle hier.« Klara kicherte. »Ich habe mich schon gefragt, wann du hier auftauchst.«

      Klara war eine der wenigen im Dorf, die Frederikes beruflichen Werdegang verfolgt hatte.

      »Erwischt!« Frederike wirkte etwas zerknirscht. »Ich habe so ein schlechtes Gewissen, dass ich dich nie besucht habe.«

      »Ja, das solltest du auch haben. Da müssen erst zwölf Leute sterben, bevor ich dich mal zu Gesicht kriege.« So schnell ließ Klara sie nicht von der Leine.

      Frederike sog zischend die Luft ein. »Zwölf? Ich hatte nur von zehn gehört.«

      »Zwölf ungeklärte Todesfälle!« Klara nickte. »Und bevor du auf dumme Gedanken kommst – ich war es nicht. Auch wenn ich mich freue, dass du dich endlich mal bei mir blicken lässt, würde ich doch so weit nicht gehen.«

      »Da bin ich aber erleichtert«, grinste Frederike. »Mich wundert, wie ruhig du das nimmst.«

      »Ach, ich habe hier in den letzten Jahren schon so viele sterben sehen, da hängt man sein Herz nicht mehr so an die Menschen.«

      »Das hört sich aber traurig an.« Frederike erkannte hinter dem Pragmatismus auch eine gehörige Portion Einsamkeit.

      »In meinem Alter – ich bin jetzt zweiundneunzig – sitzt der Tod immer mit am Tisch. Das ist auch in Ordnung. Viele meiner Mitbewohner warten eigentlich nur noch auf das Ende. Sie haben ihr Leben gelebt und sind fertig. Das passt schon. Wir machen uns hier nicht verrückt.«

      »Aber dir geht es nicht so«, mutmaßte Frederike.

      »Nein, mir geht es nicht so. Ich möchte zwar auch keine großen Sprünge mehr machen und erwarte mir nicht mehr viel vom Leben, aber für mich ist es ein Riesenunterschied, ob der Tod mich holt oder jemand nachhilft.« Jetzt war das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden, und man konnte ihr die zweiundneunzig Jahre ansehen. »Ich habe Angst!«

      Frederike schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich bin froh, dass ich gekommen bin. Kannst du mir helfen?«

      Das Gesicht von Klara hellte sich schlagartig auf, und sie setzte sich gerade hin. »Was brauchst du?«

      Das Gespräch mit Klara hatte fast drei Stunden gedauert und wurde mit einem gemeinsamen Rundgang durch die Einrichtung beendet. Frederike hatte Informationen über alle Todesfälle in den letzten Wochen bekommen. Klara kannte nicht nur die Namen der Toten, sondern auch in den meisten Fällen ihre Geschichte. Sie war schon lange im Heim und hatte häufig »Patenschaften« übernommen, um neue Bewohner in den Heimalltag und das Unterhaltungsprogramm zu integrieren. Nur bei den Todesdaten und -zeiten war sie sich nicht sicher gewesen.

      Jetzt saßen


Скачать книгу