Elektra. Theo Brohmer

Elektra - Theo Brohmer


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auf den roten Fleck zuzurobben. Die Langsamkeit, mit der er vorwärtskam, war schier zum Verzweifeln, doch das musste er aushalten.

      Als er endlich in Schussweite herangekommen war – er hatte die Zwille schon geladen und auf das Ziel angelegt – erkannte er seinen Fehler. Die Jacke bauschte sich zwar, aber es war nur der Wind, der das bewirkte. Es steckte kein Mensch darin. Eines der Mädchen, vermutlich Freya oder Thea hatte ihre Jacke in den Baum gehängt. Seine Schwester Anna konnte es nicht gewesen sein, sie trug heute eine grüne Jacke, wie er selbst.

      Frerichs fluchte still vor sich hin. Am liebsten hätte er sich selbst einen Tritt verpasst. Wenn bekannt würde, dass er blind in diese simple Falle getappt war, dann wäre er für alle Zeit erledigt.

      Onno Frerichs, ein Anführer? Machst du Witze? Ist das der Frerichs, den man mit dem Jackentrick täuschen kann? Der Gedanke war beschämend!

      Als am Stamm neben ihm ein Lehmbällchen zerplatzte, wusste Frerichs, dass er entdeckt worden war. Der Schütze musste rechts vor ihm im Unterholz liegen. Eine andere Flugbahn erlaubte das Gelände nicht. So schnell es eben ging, zog er sich rückwärts kriechend zurück. Er vermutete den Schützen auf dem Kamm. Im Grunde gab es nur eine Richtung für ihn: Nach oben, hinauf in die Bäume. Frerichs blickte sich suchend nach einem Baum um, der günstig stand und zu erklettern war.

      Die Kiefer zu seiner Linken bot eindeutig den besten Schutz. Doch das wusste auch sein Häscher. Der Baum konnte eine Zuflucht, aber genauso gut auch eine Falle bedeuten. Frerichs entschied sich gegen den Baum. Stattdessen kroch er ein Stück weit in die Schlucht hinunter und näherte sich dem vermeintlichen Schützen von der Flanke her.

      Er hatte eben die Anhöhe auf der anderen Seite erklommen, als er leise Schritte neben sich vernahm. Es gelang ihm noch, sich auf den Rücken zu rollen und einen Schuss auf den Schatten abzufeuern, als unvermittelt ein lautes Krachen aus dem Walkie-Talkie drang.

      In die Kakofonie aus Knacklauten und atmosphärischem Rauschen mischten sich asthmatisches Keuchen und ein paar unverständliche Worte. Dann erklang ein grauenerregender Schrei. Kalte Schauer rannen ihm den Rücken runter. Frerichs wusste instinktiv, dass der Schrei von einem seiner Freunde stammen musste.

      Thea schien von den Ereignissen völlig unbeeindruckt. Mit mitleidlosem Blick musterte sie Frerichs. Sie lud ihre Zwille, legte auf ihn an und schoss das Lehmbällchen ab. Es traf seine Brust, zerplatzte und schon im nächsten Augenblick spürte er wie ihm das Wasser kalt am Bauch hinabrann. Ungelenk kam er auf die Beine. Thea warf ihm einen triumphierenden Blick zu.

      »Ich hab dich, Onno Frerichs!« Sie lachte ihm ins Gesicht.

      »Hast du das nicht gehört?«, entgegnete er zornig. »Es hat einen von uns erwischt! In echt!«

      Widerwillig ließ sie von ihm ab. Doch mit triumphierendem Geschrei meldete sie der Gruppe ihren Abschuss. Sie machte große Augen, als er ihr erklärte, dass die Jagd vorüber war.

      »An alle!«, rief Onno aufgeregt. Das Sprechgerät drückte er sich dicht an den Mund.

      Thea hielt ihn zurück. »Gib zu, dass ich dich erwischt habe, ja?«

      Frerichs schüttelte angewidert den Kopf über so viel Hochmut. Dann betätigte er wieder die Sprechtaste. »Okay, Leute, wer war das eben? Wer hat geschrien?« Niemand meldete sich. Er wechselte einen Blick mit seiner Begleiterin. Thea runzelte die Stirn. »Meldet euch. Wir müssen uns sammeln! Das Spiel ist unterbrochen. Ich wiederhole: Time-out, bis wir wissen, was passiert ist!« Frerichs ließ die Sprechtaste los, lauschte auf das Rauschen im Gerät.

      Er sah zu Thea hinüber. Sie machte ein saures Gesicht. Offenbar war sie anderer Meinung.

      Unvermittelt erklang das wütende Geschrei, das Frerichs mit Mühe seiner Schwester Anna zuordnete.

      »Soll das ein Witz sein?« Sie war außer sich. »Ich habe so ein tolles Versteck. Ihr findet mich niemals!«

      »Anna!« Onno Frerichs beschwor sie. »Das Spiel ist erst einmal aus! Geh uns in Richtung Tote Eiche entgegen, over and out!«

      Er wusste, dass er hart bleiben musste, sogar bei seiner großen Schwester. Er war heute der Spielleiter und seine Freunde hatten zu gehorchen.

      »Roger. Haben verstanden!«, antworteten die Brüder Ubbo und Jibbe gleichzeitig. Gleich darauf meldete sich auch Freya und versprach unverzüglich loszulaufen. Frerichs wechselte mit Thea einen Blick. »Jetzt fehlen noch Coob und Fokko«, kommentierte sie mit leiser unsicherer Stimme. Onno erwiderte ein stummes Nicken.

      Sein Mund war mit einem Mal staubtrocken. Es fühlte sich plötzlich nicht mehr gut an, im Wald zu sein. Der Ort, der immer seine Kathedrale gewesen war. Seine Oase, der Raum stiller Andacht, und treuer Ratgeber für die scheinbar unlösbaren Probleme eines Jungen. Wenn ihn etwas plagte, ging Frerichs in den Wald. Noch Jahre später bedeutete ein Waldspaziergang seine Art der Stressbewältigung. Nach zwei Stunden allein mit sich im Wald war sein Kopf leer und die Lösung des Problems lag auf dem sprichwörtlichen Silbertablett.

      Angst beschlich ihn. Was ging hier vor? Er schluckte schwer. »Fokko? Coob? Meldet euch, sofort!« In seine Stimme hatte sich etwas Unduldsames gemischt.

      Wieder folgte nur statisches Rauschen. Diese Ungewissheit war nicht auszuhalten. »Los, Leute! Das ist nicht witzig! Gebt mir ein Lebenszeichen. Drückt die Sprech-Taste, wenn ihr nicht reden könnt.

      »Ah, Onno!«, rief eine dunkle Stimme. »Du Blödmann, wieso weckst du mich?«

      Fokko! Ein Schwall der Erleichterung erfasste Onno »Komm zur Toten Eiche!«, befahl er barsch. »Lass deine Spielchen und setz deinen Arsch in Bewegung.«

      »Roger. Bin auf dem Weg«, antwortete sein Freund ohne Murren. Fokko schien plötzlich genauso besorgt zu sein, wie er selbst.

      »Es ist Coob!«, stellte Thea mit tonloser Stimme fest.

      »Ja. Lass uns einen Zahn zulegen!« Im Laufen drückte Frerichs das Sprechfunkgerät wieder an den Mund. »Bitte melden, Coob! Coob, hörst du mich? Drück die Sprechtaste, wenn du mich hörst!«

      Frerichs ließ das Funkgerät sinken. Sein Freund meldete sich nicht. Schweiß brach Onno aus allen Poren. Sein Herz klopfte schmerzhaft in seiner Brust.

      »Weiß jemand von euch, wohin Coob gelaufen ist? Heute gibt’s keine Bestrafung!«

      Der Reihe nach meldeten sie sich. Doch niemand hatte etwas von Coob gesehen oder gehört.

      »Wir treffen uns an der Toten Eiche. Macht euch sofort auf den Weg, over and out!«

      Das Fehn teilte seine Besorgnis um Coob. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel war verstummt, die Sonne hinter Wolken verschwunden. Die einzigen Laute stammten von ihm selbst. Onno keuchte, das Laufen strengte an. Thea an seiner Seite schien das Laufen weniger auszumachen. Sie erduldete sein Tempo stumm.

      Plötzlich gellte ein weiterer Schrei. Obwohl in diesem Geräusch nichts Menschliches mitschwang, wusste er sofort, dass es nur von Coob stammen konnte, stammen musste!

      Grenzenlose Angst, Schmerzen und Grauen glaubte Frerichs herauszuhören. Sein Körper reagierte augenblicklich und heftig: Die Haut prickelte, als sich die Härchen auf seinen Armen aufrichteten. Der Laut schickte Schauer seinen Rücken herab.

      Der Schreck spornte ihn zu noch höherer Geschwindigkeit an. Er verfiel in schnellen Laufschritt. So gut es eben ging, setzte er über Wurzeln und Äste hinweg. Die Schmerzen von zahllosen Verletzungen durch Zweige oder Dornengebüsch nahm er nicht wahr. Frerichs hatte nur noch Augen für die zwei Meter Weg vor sich. Immer weiter dem Ziel entgegen.

      Erst gegen Abend, wenn die Hatz beendet und die Welt um einen Schrecken reicher sein würde, sollte er das volle Ausmaß allen Schmerzes spüren. In diesem Augenblick jedoch galt seine volle Aufmerksamkeit seinem Freund Coob.

      Bilder füllten seinen Kopf: Coob, der verwundet an einem Baum lehnte. Coob, der sich das Bein hielt, das schrecklich verdreht, von ihm abstand. Coob, der ein blutgetränktes Taschentuch an die Stirn presste, weil er gegen einen Baumstamm gelaufen war.

      Seine Gedanken


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