Elektra. Theo Brohmer

Elektra - Theo Brohmer


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Nicht als seine Schwester Elfi vom Walnussbaum fiel, weil eines der Bretter des Baumhauses morsch war. Sie brach sich damals das Schlüsselbein. Nicht als sein Bonanza-Fahrrad auseinanderbrach, weil der Rahmen schlecht verschweißt war. Und nicht als sein Hund Robbie vor seinen Augen von einem Lastzug überrollt wurde.

      »Nein!« Ein lang gestreckter Laut des Entsetzens. »Oh, Gott! NEIN, NEIN, NEIN!« Seine Stimme brach. Zum Schluss übertrug das Sprechgerät noch einige Sekunden atemloses Keuchen. Dann brach die Verbindung ab.

      Er ist tot, schoss es Frerichs durch den Kopf. Doch konnte das sein? Viel wahrscheinlicher war, dass Coob das Walkie-Talkie fallengelassen hatte. Im Gegensatz zu einem Telefon musste man die Sprechtaste gedrückt halten, wollte man senden.

      Frerichs stürzte unvermittelt über etwas und krachte der Länge nach hin. Mühsam kam er wieder auf die Beine. Thea an seiner Seite, blickte ihn mit schreckensweiten Augen an. Auch in ihren Augenwinkeln schimmerte es feucht. Sie half ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Anschließend fasste er Thea am Arm und zog sie mit sich. Bis zur Toten Eiche war es nicht mehr weit. Gemeinsam legten sie den letzten halben Kilometer zurück.

      Aus der Ferne machte Frerichs zwei bunte Flecken an der Toten Eiche aus. Noch waren sie zu weit entfernt, um sie eindeutig erkennen zu können. Doch Onno glaubte, seine Schwester Anna zu sehen. Die Gestalt hob gerade in diesem Augenblick den Kopf und er wusste, dass er richtig gelegen hatte.

      Der zweite Schemen entpuppte sich als Jibbe. Vornübergebeugt, stützte er die Hände auf den Knien ab, um zu verschnaufen. Frerichs erkannte ihn an seinem Parka. Doch wo steckte Ubbo, Jibbes Bruder? Jibbe und er waren zusammen unterwegs gewesen! Der Schreck über seinen Verbleib verpuffte schnell, als Ubbo hinter einem der grauen Buchenstämme hervortrat. Er zog noch den Reißverschluss seiner Jeans hoch. Eine Hand zum Gruß erhoben, fummelte er mit der anderen etwas aus seiner Tasche. Bestimmt einen Schokoriegel, dachte Frerichs. Ubbo konnte in jeder Situation essen.

      Als Thea und er zu den anderen stießen, erkannte Frerichs in den Gesichtern seiner Freunde, denselben Schrecken, der auch ihn erfüllte. Etwas Grauenhaftes war geschehen! Daran bestand kein Zweifel. Keiner von ihnen glaubte an einen üblen Scherz, den sich Coob erlaubt haben könnte. Das hier war echt!

      »Fehlen noch Freya und Fokko«, stellte er fest. »Freya! Kommen. Wo steckst du?«, bellte Frerichs heiser ins Funkgerät. Die Antwort kam zu seiner Überraschung nicht über den Äther.

      »Hier!«

      Frerichs wandte sich um. »Schön dich zu sehen«, antwortete er und meinte es genauso. Seiner Meinung nach war sie das schönste Mädchen, von seiner Schwester Anna einmal abgesehen. Aber jetzt hatte er nicht den Kopf dafür. Der Schrecken über Coobs Verschwinden steckte wie ein Stachel in seinem Fleisch.

      »Hast du Fokko gesehen?«

      Freya schüttelte den Kopf. »Nee. Der trödelt bestimmt wieder. Aber vorhin habe ich so einen Typen mit einem komischen Hut gesehen. Und wisst ihr, was der dabei hatte?«

      Die Freunde schüttelten die Köpfe. Keiner hatte Lust auf ein Quiz. Freya genoss die Aufmerksamkeit, bis Frerichs ihr mit einer ungeduldigen Geste zu verstehen gab, dass sie mit der Sprache herausrücken solle.

      »Der schleppte eine dieser weiß-blauen Kühlkisten mit sich herum. Ist doch seltsam, oder? Was kann er damit gewollt haben? Ich meine, im Wald!«

      »Na, ja«, mischte sich Jibbe ein. »Bei einem Picknick kann man die Getränke darin transportieren, damit sie nicht warm werden. Vielleicht war er auf dem Weg zum Moorschlösschen?«

      Frerichs hielt die Diskussion um die ominöse Kühlkiste für unwichtig. Er widmete sich wieder seinem Sprechfunkgerät. Der Letzte im Bunde fehlte noch. Sein bester Kumpel, Fokko, glänzte mal wieder durch Abwesenheit.

      »Fokko. Kommen. Alle warten nur auf dich. Wo bleibst du, Mann?« Frerichs lauschte auf eine Antwort. Doch sein Freund enttäuschte ihn zunächst. Onno versuchte es noch einmal. Statt einer Antwort hörte er wieder nur Knistern und Knacken.

      Doch dann drang die Stimme Fokkos aus dem Walkie-Talkie.

      »Ich hab was gefunden!«

      Die Worte elektrisierten Onno. »Wo bist du?«

      Fokko klang ungewohnt ernst. »Am Marterpfahl! Beeilt euch. Ich habe Blut gefunden!«

      Die Freunde setzten sich in Bewegung. Niemand sprach ein Wort. Das war auch nicht nötig. Sie dachten alle dasselbe.

      Der Marterpfahl bestand aus dem geschwärzten Stamm einer riesenhaften Birke. Ein Blitz hatte sie vor langer Zeit gespalten und in Brand gesetzt.

      Fokko stand nicht weit davon entfernt und erwartete sie schon ungeduldig. An einem der knorrigen Äste hing etwas. Auf den ersten Blick glaubte Frerichs, einen Teil einer Fahne vor sich zu haben. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppte es sich als ein Stück eines T-Shirts, das zerrissen und blutverschmiert war.

      Das gehört Coob! Ein Blick in die Gesichter seiner Freunde verriet ihm, dass sie ganz Ähnliches dachten. Alle standen wie angewachsen da.

      Seine Schwester Anna war die Erste, die zu sich kam. »Wir müssen ihn suchen gehen. Bestimmt ist es nicht so schlimm, wie es den Anschein hat.«

      Sie nahm den Fetzen vom Ast und hielt ihn unschlüssig in der Hand. Mit einem Mal gaben ihre Knie nach. Sie taumelte gegen den Marterpfahl, sank wie eine Kleiderpuppe in sich zusammen und blieb wie betäubt sitzen. Sofort war Onno an ihrer Seite.

      »Anna, was ist denn?« Er war besorgt. »Wieso nimmst du auch den blutigen Stoff in die Hand? Das ist ekelhaft!«

      Doch Anna überraschte ihn. »Ich weiß, wo er hin ist. Wir haben nicht viel Zeit. Er ist in der Senke; da, wo der Regen die Wurzeln unterspült hat. Dort will er sich verstecken! Kommt, schnell!«

      Und zur Verwunderung aller war es so. In der Senke fanden sie Coob. Er hatte noch versucht, in die Höhle zu kriechen, musste dabei aber gestellt worden sein. Er lag auf dem Rücken. Seine viel gerühmten grünen Augen starrten blicklos zu den Wipfeln hinauf. Doch alles Leben, alles was ihren Freund Coob ausgemacht hatte, war verschwunden. Sein Gesicht war zu einer Fratze des Entsetzens erstarrt. Welche unbeschreiblichen Gräuel musste er mitangesehen, welchen Schrecken erlebt, welche Schmerzen ertragen haben.

      Noch lange sollte Frerichs mit diesem schrecklichen Anblick aus seinen Albträumen erwachen. Coobs Bauchhöhle war aufgeschlitzt worden. Ringsum fand sich feucht glänzendes Blut und Gedärm.

      Später bei der Autopsie sollte sich zeigen, dass sein Herz, die Leber und beide Nieren fehlten.

      Onno Frerichs

      Dienstag, 06. Oktober 2015

      Die kritische Masse der Sendungen an diesem Tag war größer als Null. Für diese Feststellung genügte Onno Frerichs ein Blick. Aus der schneeweißen Gleichförmigkeit hoben sich nur wenige Schmutzig-graue ab. Unisono Behördenpost: Arbeitslosengeld- und Steuerbescheide, langweiliger Kram.

      Nichts wofür es sich zu sterben lohnte. Allesamt unkritisch, denn Einkommensmillionäre gab es in Ölbenfehn keinen einzigen. Arbeitsscheue jede Menge und Arbeitslose auch, doch die waren in der Unterzahl.

      Ein einziger Umschlag stach aus der Masse hervor. Die kräftige Signalfarbe, ein extravagantes Gelb, erregte Aufmerksamkeit. Es handelte sich um eine Zustellungsurkunde, deren Übergabe quittiert werden musste! Der bloße Anblick schickte einen Stromstoß durch seinen Körper. Der Adrenalinschub war stark genug, seine depressive Gemütsverfassung wegzuspülen. An trüben Herbsttagen wie heute ging seine Stimmung regelmäßig in den Keller.

      Als Frerichs den Namen des Adressaten las, beschleunigte sich sein Puls. Im selben Tempo pochten die Schmerzimpulse in seinem Hals und Nacken.

      Frerichs verspürte das dringende Bedürfnis nach einem Shiitake-Bier oder in Ermangelung dessen nach einem Pilz-Omelett. Leider hatte der Arbeitstag gerade erst begonnen und so begnügte er sich mit einem Briefchen. Frerichs faltete das Stück Papier vorsichtig auseinander. Zum Vorschein kam eine Kleinstmenge braunen Pulvers. Routiniert leckte er es auf.

      Danach


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